Читать книгу Helle und der falsche Prophet - Judith Arendt - Страница 6

Gigarot, Südfrankreich

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»Du auch?« Bengt hielt die Flasche mit dem Pastis fragend über Helles Glas. Sie nickte. Langsam wurde es ein wenig kühl, selbst hier. Helle schob ihre nackten Füße unter Emil, der regungslos bei ihrem Stuhl lag. Er hatte ein Alter erreicht, in dem sie ständig überprüfte, ob er noch atmete oder vielleicht schon für immer eingeschlafen war.

Als wenn der Tod so gnädig wäre.

»Hast du gesehen?« Triumphierend hob sie ihr Smartphone in die Höhe, damit Bengt sehen konnte, was die Wetter-App anzeigte: Skagen, sieben Grad. Helle wischte. Saint-Tropez, achtzehn Grad.

»Das ist unfair.« Bengts Augen blitzten, Helle sah die Lachfältchen in den Augenwinkeln. »Heute ist es hier besonders schön gewesen und zu Hause außergewöhnlich schlecht.«

»Es kann in Skagen niemals, niemals so warm werden wie hier. Ende Oktober!«

»Wenn wir so weitermachen, schon«, widersprach Bengt. »Irgendwann wird es hier heißer und immer heißer. Die Wälder werden brennen, sogar im Winter. In hundert Jahren willst du hier nicht mehr leben – wenn es uns dann noch gibt.«

Helle legte den Kopf in den Nacken und trank den mit Wasser verdünnten Lakritzschnaps in einem Zug. Das Thema deprimierte sie. Nicht im Urlaub, dachte sie. Können Probleme nicht auch mal Urlaub machen? Und schob das leere Glas dicht an die Flasche Ricard. Aber Bengt schüttelte den Kopf.

»Lass gut sein. Du bist schon wieder streitlustig.«

Helle öffnete den Mund, schloss ihn dann aber wieder ohne Entgegnung, sie erinnerte sich an ihre Therapeutin.

»Du hast recht«, gab sie stattdessen zurück und kam sich verlogen vor. Engelszungen, das war nicht sie. Sie wollte trinken. Trinken und sich streiten, dass die Fetzen fliegen. Gläser auf den Boden schmeißen, sich anbrüllen, dass sie das Rote in ihren Augen sah, so lange, bis Bengt sie im Klammergriff ins Bett verfrachten und mit ihr schlafen würde. So sollte Urlaub sein! So sollte es sein, wenn man nicht als Kriminalkommissarin im kalten Jütland seinen Dienst tat. So war es gewesen, früher, vor den Kindern. In ihrem ersten gemeinsamen Urlaub, Bengt und Helle. Jung und wild. Damals waren sie mit Interrail durch Europa gefahren, Marokko war ihr Ziel, gekommen waren sie bis Saintes-Maries-de-la-Mer. Sechs ganze Wochen waren sie dort auf dem Campingplatz geblieben, Tage, die nach Wein und Salz, nach Haut und Meer schmeckten. Tempi passati.

Jetzt saßen sie hier, in einer hübschen Ferienwohnung, die sie sich nur hatten leisten können, weil Nebensaison war, und plänkelten harmlos umeinander herum. Sprachen übers Wetter.

Helle spürte den Blick ihres Mannes auf sich. Er hatte die Augen zusammengekniffen. »Du bist unfair«, sagte er.

»Liest du meine Gedanken?«

Er fasste an seinen roten Wikingerbart, durchzogen von ein paar weißen Haaren und strich darüber. Eine Beschwichtigungsgeste, so hatte ihre Tochter Sina es einmal genannt. Helle war es nie aufgefallen, Bengt selbst auch nicht. Aber es stimmte – jedes Mal wenn zwischen ihnen die Luft ein bisschen knisterte, streichelte Bengt seinen Bart.

Jetzt nahm er ertappt die Hand von seinem Kinn. »Kannst du es nicht einfach genießen? Den Frieden, die Sonne.«

Statt einer Antwort schob Helle ihre Hand über den Tisch, den ganzen Arm hinterher, bettete ihren Kopf darauf.

»Ich weiß nicht, was mit mir los ist«, murmelte sie. »Scheißwechseljahre. Das hört nie auf.«

Bengt nahm ihre Hand.

»Du bist unzufrieden. Dir reicht dein Leben nicht. Meine Diagnose.«

Helle schossen Tränen in die Augen, sie schloss die Lider. Er hatte recht. Sie liebte ihr Leben, aber seit ein paar Jahren wurde es weniger. Erst war ihre Tochter Sina aus dem Haus gegangen. Jetzt Leif. Emil war ein alter Hund, der sich bereit machte zu sterben. Auch ihre kleine Polizeistation schrumpfte. Amira war nach Kopenhagen gegangen. Jan-Cristofer arbeitete nur noch Teilzeit, um sich um seinen Sohn zu kümmern. Blieben sie und Ole, der sich ständig um Versetzung bemühte. Er wollte ebenfalls nach Kopenhagen, zu seiner Freundin Amira, und wer könnte es ihm verübeln? In Skagen hatten sie einem jungen ehrgeizigen Polizisten nichts zu bieten.

Blieben Bengt und Helle, allein in einem ruhigen Leben. Zu ruhig, wenn es nach Helle ging. Sie bekam Beklemmungen, wenn sie abends nach Hause kam. In ihr wunderschönes Haus am Strand. Selbst gebaut, mitten in den Dünen, es konnte nicht idyllischer sein. Aber immer häufiger ertappte Helle sich dabei, dass sie sich noch nicht bereit fühlte für die Ruhe und den Frieden, der sie dort empfing. Es fehlte ihr an nichts. Mann, Hund, Freunde, Haus, Kollegen – es war perfekt. Sie würde eingehen.

Konnte man an Harmonie sterben?, fragte Helle sich, mit dem Kopf auf ihrem Arm, ihre Hand in Bengts warmer Hand. Emils Fell an ihren Füßen, der Blick aufs Meer, ein Nebel von Pastis im Hirn.

Die Reise war ihre Idee gewesen. Um der alten Zeiten willen. Weil es Emils letzte große Reise sein würde. Weil sie noch einmal die wilde Lust spüren wollte, die sie damals befallen hatte, als sie vor dreißig Jahren noch kinderlos in Südfrankreich gewesen waren. Sie hatte ausgeklammert, dass sie heute alt und dick waren. Wieder kinderlos zwar, aber jeder mit einem Päckchen auf dem Buckel. Bis in die Camargue hatte Helle dann auch nicht fahren wollen, nichts würde mehr so sein wie damals, und sie war zu der traurigen Erkenntnis gekommen, dass sie nicht mehr auf einen Campingplatz gehörten.

Die Sonne schien und hinter ihrer Stirn stiegen schwarze Wolken auf.

»Komm, lass uns den Sonnenuntergang am Meer ansehen.« Bengt stand auf und sofort hob Emil den Kopf. »Ja, mein Dicker, wir drehen noch eine Runde.«

Als verstünde er jedes Wort, wuchtete sich der große Rüde mit Mühe auf die Hinterbeine. Helle vermied es, ihm dabei zuzusehen. Ihr Emil. Ihr über alles geliebter Emil würde gehen. Vielleicht nicht morgen oder übermorgen. Aber in absehbarer Zeit.

Der Schmerz der Gewissheit seines nahen Todes war nicht auszuhalten für sie. Es gab Tage, da lief sie betäubt hinter ihm her, sah auf sein gemütlich wackelndes Hinterteil und dachte in ewiger Wiederholungsschleife: Du stirbst. Du stirbst! Wie oft drehte Emil ausgerechnet dann seinen großen Kopf zu ihr, und seine schwarzen Augen schienen zu sagen: »Na und? Ist nicht weiter schlimm.« Und dann schämte Helle sich. Für den Hund war es der natürliche Lauf des Lebens, Angst vor Tod und Verlust kannte er nicht. Warum ihn also mit ihrer Heulerei unnötig beunruhigen?

Bengt und der Hund waren bereits die drei Stufen vom Ferienbungalow zur Straße gelaufen, aber Helle suchte noch nach ihrem Päckchen Tabak.

Bengt drehte sich zu ihr um. »Ich habe dir ein Päckchen Gauloises besorgt«, rief er und lächelte. »Ohne Filter. Good old times.« Dabei kramte er in der Hosentasche seiner Bermuda, bevor er sich wieder umdrehte und bedächtig mit Emil an seiner Seite zum Strandweg zockelte.

Helle hatte im vergangenen Herbst wieder angefangen zu rauchen, als die Tote in der Wanderdüne gefunden worden war. Vorgeblich, weil sie so gestresst gewesen war, tatsächlich aber hatte sie das Rauchen als Entspannungsritual für sich wiederentdeckt. Sie fand es gemütlich, im richtigen Moment mit einer Zigarette dazusitzen und an nichts zu denken als den perfekten Rauchkringel. Schwummerig wurde ihr aber noch immer davon, und es schmeckte auch nicht.

Ein paar Sekunden verweilte sie auf der Terrasse und sah ihren Männern hinterher. Sie waren sich so ähnlich, fand sie, Bengt und Hund Emil. Unerschütterlich ließen die beiden Helles Launen über sich ergehen und hielten ihr unverbrüchlich die Treue. Hoffte sie zumindest. Würde Bengt sie betrügen können? Vermutlich war er dazu ebenso zu bequem wie sie. Emil dagegen hatte es versucht. Mehrfach. Jeder läufigen Hündin im Umkreis von fünf Kilometern war er hinterhergestürmt. Erfolglos. Und er war stets zu ihr zurückgekehrt.

Ihr Handy zeigte den Eingang einer Nachricht an, aber Helle schaltete rasch auf Flugmodus und folgte schließlich den Herren zum Strand.

Sie liefen ein paar Meter an der Wasserlinie entlang, durch Tang und Muscheln, Steine und zerdrücktes Plastik, bevor sie sich auf einen der Felsen setzten, der von der Sonne des Tages aufgewärmt war. Weitaus angenehmer als der kühle Sand.

Bengt reichte ihr das Päckchen, sie zog eine Filterlose heraus und schnupperte daran. Ungeraucht rochen Zigaretten um einiges besser. Bengt gab ihr Feuer. Helle bewunderte ihn für seine Disziplin. Er leistete ihr alle paar Wochen mal Gesellschaft beim Rauchen, sie dagegen verspürte, kaum hatte sie dieses Laster wieder aufgenommen, jeden Tag mehrfach das Bedürfnis. Die ersten Züge saßen sie stumm da und beobachteten einen Kitesurfer draußen auf dem Meer, der geradewegs in den orangefarbenen Sonnenuntergang segelte.

Bengt legte einen Arm um ihre Schultern und zog sie an sich. Schwer ließ Helle sich gegen ihn fallen.

»War eine gute Idee von dir.«

Helle nickte nur.

»Ich wäre sonst vielleicht nie wieder hierhergekommen«, fuhr Bengt fort. »Südfrankreich.«

Emil vergrub seine Schnauze im Sand und schnaubte tief. Dann scharrte er mit den Vorderbeinen, gab die Aktion aber schnell wieder auf. Die Arthrose.

»Ich finde, du solltest dir Gedanken machen, wie es weitergeht.« Bengt warf einen Blick zu ihr hinüber.

»Was, mit uns?« Helle bekam einen Schreck.

»Quatsch. Was soll mit uns sein? Wir werden zusammen alt. Und lassen uns immer wieder mal therapieren.« Bengt lachte, dass sein Bauch wackelte.

»Ja, ich weiß.« Natürlich war Helle vollkommen klar, wovon ihr Mann sprach. »Ich denke manchmal, es war ein Fehler, Frederikshavn nicht zu machen.«

Nachdem sie den Fall im vergangenen Jahr aufgeklärt hatte, bot man ihr die Leitung der Polizeibehörde in Frederikshavn an. Ein mittelgroßes Kommissariat, mehr als fünfzig Mitarbeiter, deutlich bessere Ausstattung, große Fälle, mehr Verantwortung, mehr Aufgaben, mehr Arbeit und Herausforderungen. Aber Helle hatte gekniffen. Hatte sich eingeredet, dass sie sich in ihrer Ministation, dieser Dead-End-Police am Arsch der Welt, viel wohler fühlte. Mit ihrer Sekretärin Marianne, die nicht nur den weltbesten Kaffee kochte, sondern sich die Verantwortung für Helles Bauchfett zu gleichen Teilen mit Bengt teilte; mit Ole, dem forschen Jungspund, der immer noch zu jung war, um nichts zu tun, und Jan-Cristofer, dem alten Freund und Gefährten aus den Anfangstagen. Aber dann war ein ganzes Jahr lang so gut wie gar nichts vorgefallen. Ladendiebe und Falschparker – das hatte bereits Sören Gudmund, Leiter der Kopenhagener Mordkommission, so treffend auf den Punkt gebracht. Und im Sommer ein paar Betrunkene. Auffahrunfälle, das ein oder andere geknackte Auto, illegale Beachpartys – es war ein gähnend langweiliges Jahr für alle gewesen und hatte aufs Neue bestätigt, dass die kleine Polizeistation in Skagen eigentlich auf reinen Saisonbetrieb umgestellt werden konnte. Eine Helle war überbezahlt und überqualifiziert.

»Na ja, Fehler, das würde ich so nicht sagen«, meinte Bengt beschwichtigend. »Sei nicht so hart zu dir. Du warst eben noch nicht so weit.«

Und du bist viel zu gütig zu mir, lieber Bengt, dachte Helle. Du bist und bleibst Sozialpädagoge. Und ich weiß: Ich bin dein schwierigster Fall. Laut sagte sie: »Ich hab’s verkackt. Die Chance kommt so schnell nicht wieder.«

»Weißt du«, sagte Bengt, als hätte er sie nicht gehört, »wenn Emil mal nicht mehr ist, könnten wir auch darüber nachdenken, nach Kopenhagen zu ziehen. Näher bei Sina sein.«

»O Gott! Die wird sich bedanken!«

»… ein schickes kleines Apartment in Nørrebro, du fährst mit dem Rad zur Arbeit ins Morddezernat, und abends gehen wir ins Kino. Oder ins Theater. Oder besuchen eine Ausstellung – meinst du nicht, das würde uns guttun?«

Helle schwieg. Wie oft hatte sie an diese Möglichkeit schon gedacht. Sörens Ruf nach Kopenhagen zu folgen. Mordkommission! Das war schon was. Aber sie hatte gleichzeitig auch Angst vor so einem Neubeginn. Ihr würden nicht nur ihre lieb gewonnenen Kollegen, ihr würde vor allem das Meer, die Weite, der Strand, die Dünen und, ja, die Einsamkeit Skagens fehlen. Außerdem hatte sie Angst davor, in einer Gruppe von Profis nicht bestehen zu können. Sie würde die Entscheidung einfach weiter hinausschieben, das wusste sie. Sie war noch nicht so weit. Noch nicht unzufrieden genug. Stuck in the middle.

Die Sonne war nun ganz an der Horizontlinie verschwunden, Helle fröstelte. Emil schlief schon wieder tief, aber sie weckten ihn auf und schlenderten Hand in Hand zu ihrem Apartment zurück. Bengt sprach noch ein bisschen über ein Leben in der Hauptstadt, sodass Helle der Verdacht beschlich, er wolle nicht ihretwegen den Lebensmittelpunkt verlagern, sondern weil ihm selbst die Decke auf den Kopf fiel.

Während sie den Tisch deckten, mit Weißbrot, Salzbutter, einem Käseteller, der von selbst laufen konnte, Oliven, Tapenade, gegrillten Paprika, terrine de canard und eingelegten Zwiebeln, sprach Helle ihren Mann darauf an. Bengt gab zu, dass es ihn reizen würde, gleichzeitig war er an Jütland beruflich gebunden und außerdem war sein Vater Stefan noch in einem Heim in Frederikshavn, auch ihn wollte er nicht im Stich lassen.

»Aber ich würde alles tun, damit wir beide nicht vor Langeweile sterben«, fügte er ernsthaft an.

»Dann musst du ein paar Leute umbringen«, lachte Helle. »So hätte ich was zu tun.«

»Dein Humor gefällt mir nicht«, meinte Bengt. »Du tickst manchmal nicht richtig.«

Helle wollte dem etwas entgegnen, aber dann rappelte ihr Handy und zeigte eine Flut von Anrufen und Nachrichten an – sie hatte es gedankenverloren wieder aktiviert und nicht damit gerechnet, gleich bombardiert zu werden.

»Verdammt, was …?«

Fünf Anrufe ihres Kollegen Ole. Drei Textnachrichten.

»Ruf bitte mal an.«

»Helle, bitte RR!«

Und zuletzt: »Wir haben eine Tote.«

Helle ignorierte alle weiteren Nachrichten und wählte augenblicklich die Nummer ihres Kollegen.

»Na endlich«, stöhnte Ole Halstrup.

»Was gibt’s?«

»Hier ist ein junges Mädchen gefunden worden. Am Strand bei Møjen. Wahrscheinlich ertrunken.«

»Um Gottes willen. Kennen wir sie?«

Ole schwieg einen Moment. »Helle, es tut mir leid. Es ist Merle.«

Helle wurde auf einen Schlag kalt. Es war, als gefröre ihr Blut. Merle. Merle Brabant. Eine enge Freundin von Leif. Sie kannte das Mädchen seit dem Kindergarten.

Bengt sah sie an. Er wusste sofort, dass etwas Schreckliches geschehen war und kniete sich vor seine Frau.

»Weiß man … ist sie … ein Unfall? Wissen die Eltern davon? Ich … o Gott, wie furchtbar.«

»Die Eltern sind benachrichtigt. Wir wissen noch nichts, Doktor Holt war gleich da und hat Tod durch Ertrinken festgestellt. Vermutlich ist sie fünfzehn bis achtzehn Stunden im Wasser gewesen. Fremdeinwirken können wir nicht ausschließen, sie hat ein paar Druckstellen an den Handgelenken. Aber um Genaueres zu sagen, müssen wir den offiziellen Befund abwarten. Sie ist in der Rechtsmedizin.«

Oles Ton war klar und sachlich, fast spröde, und Helle war ihm dankbar dafür. Trotzdem.

»Ich komme.«

»Helle, Frederikshavn übernimmt das.«

»Ich muss!«, unterbrach ihn Helle. »Ich nehme den nächsten Flieger.«

Und bevor sie auflegte: »Ruf Runstad an. Der soll sich den Fall rüberziehen. Ich will nicht, dass Holt da herumdilettiert. Wir dürfen keinen Fehler machen.«

Den letzten Satz hatte sie mehr geschrien, dann legte sie auf und schmiss das Handy quer über den Tisch. Presste sich die Hand vor den Mund, um den Schrei, der aus den Tiefen ihrer Seele drängte, zu unterdrücken. Bengt nahm sie wortlos in den Arm.

Eine Viertelstunde später hatte Bengt für Helle einen Flug von Nizza nach Kopenhagen gebucht, der erste am folgenden Tag. Hatte Helle in eine Decke gewickelt und mit Emil auf die Terrasse verfrachtet, die Flasche mit dem Pastis dezent verräumt und stattdessen einen Tee gekocht. Jetzt sprach er mit Leif, ihrem Sohn, um ihm die Nachricht zu überbringen, dass seine Freundin aus Kindertagen ertrunken war.

Helle hörte die Stimme ihres Mannes, die Worte drangen aber nur wie durch Watte an ihr Ohr, der Sinn erschloss sich nicht, sie konnte und wollte sich die Reaktion ihres Sohnes nicht ausmalen.

Merle war tot.

Ein Leben endete, noch bevor es sich wirklich entfalten konnte. Merle stand wie Leif an der Schwelle zu einem selbstbestimmten Leben, sie sollte jetzt entscheiden dürfen, welche Richtung sie einschlagen würde. Reisen oder Studium, Ausbildung oder doch erst einmal jobben? Großstadt oder Jütland, Fun oder Karriere, Frauen oder Männer, wer bin ich eigentlich. Die ganz großen Fragen, die sie sich jetzt stellen sollte, waren mit ihr auf den tiefen dunklen Grund des Meeres gesunken. Fredrick und Inez, ihre Eltern, die Helle so gut kannte, würden niemals erfahren, welchen Weg ihre Tochter Merle gewählt hätte.

Helle dachte an ihre Tochter Sina, die seit drei Jahren aus dem Haus und bei jedem Besuch eine andere war, sie immer wieder mit neuen Plänen überraschte und, anstatt ihre Eltern damit in den Wahnsinn zu treiben, Stolz und Freude in ihnen hervorrief, weil sie so voller Energie und Ideen war.

Und Helle dachte stets: Sieh mal einer an, was meine Tochter alles kann. Für was sie sich interessiert. Eine schillernde Person voller Möglichkeiten, die alle um sich herum in Atem hielt. Im Moment war sie mit ihrer Band als Straßenmusikerin irgendwo in Osteuropa unterwegs.

Aber Merles Eltern würden immer an ihre Tochter denken müssen, die leblos im dunklen Meer trieb, einsam im kalten Wasser.

Lieber Gott, dachte Helle, warum befolgst du Arschloch nicht die einfachsten Regeln: Kinder dürfen nicht vor ihren Eltern sterben.

Helle und der falsche Prophet

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