Читать книгу Helle und der falsche Prophet - Judith Arendt - Страница 9

Irgendwo in Dänemark

Оглавление

Er machte sich Sorgen. Um Jemi. Sie saß neben ihm auf dem Beifahrersitz, die Fleecedecke hüllte sie vollkommen ein, die Heizung im Wagen war auf Anschlag gedreht, aber trotz der Hitze klapperte sie mit den Zähnen. Er hatte ihre Stirn gefühlt – heiß. Bestimmt hatte sie Fieber und Schüttelfrost, noch eine weitere Nacht im Freien würde sie nicht gut überstehen, nicht bei diesen Temperaturen. Nick war klar, dass er sich etwas überlegen musste.

»Glaubst du, sie suchen uns?«, fragte sie ihn.

»Keine Ahnung. Ja, wahrscheinlich.«

»Er will bestimmt sein Auto zurück.«

Nick schwieg. Er wusste, dass es Hiob nicht um das Auto gehen würde. Wenn er sie suchen ließ – und Nick war sich zu hundert Prozent sicher, dass er das tat –, dann weil niemand einfach abhaute. Abtrünnige wurden bestraft, es durfte nicht sein, dass man Hiob den Rücken kehrte. Das Auto war ihm scheißegal, ein alter Pick-up, das juckte ihn nicht.

Aber Verrat – das ließ die Flamme nicht zu.

Das sagte Nick Jemi jetzt nicht, auch wenn seine Gedanken genau um diesen Punkt kreisten, seit sie abgehauen waren. Er wollte sie nicht in Unruhe versetzen, es war schon alles verfahren genug.

Irgendwie war nichts so gelaufen, wie er es geplant hatte. Es sollte doch ganz einfach sein. Nick hatte angenommen, dass es am schwierigsten sein würde, aus dem Königreich zu türmen. Die Wachen zu überwinden, das Auto und Geld zu klauen und all das. Über alles, was danach kam, hatte er sich keine Gedanken gemacht. Hatte geglaubt, dass er mit der schönsten Frau auf der Welt in die Freiheit fahren würde, und hey – wo war da ein Problem?

Nun, das erste Problem war schon mal diese Tramperin gewesen. Hätten sie sie bloß niemals mitgenommen! Was hatte Jemi sich denn dabei gedacht?

Er blickte erneut zu ihr hinüber. Ihre hübsche Nasenspitze lugte unter der Decke hervor, eine lange rostrote Haarsträhne fiel auf ihr Knie. Jemi dachte nicht viel nach, wie er in den vergangenen zwei Tagen feststellen durfte. Sie tat einfach, was ihre Gefühle ihr befahlen. Impulsiv und mit einer Heftigkeit, die ihm Furcht einflößte.

Dieser Streit zwischen ihr und Merle … es war so unnötig gewesen, vollkommen irrwitzig, wegen nichts und wieder nichts. Wegen Wodka! Kein Grund durchzudrehen, aber Jemi hatte rotgesehen und sie beide in Gefahr gebracht, allerdings war sie sich dessen gar nicht bewusst.

Aber das lag jetzt hinter ihnen, viel drängender waren die Probleme, die vor ihnen lagen.

Sie hatten kaum Geld.

Und sie hatten keine Ausweispapiere, sie konnten also das Land nicht verlassen.

Nick hätte damit klarkommen können, hätte sich durchgeschlagen, er war nicht auf den Kopf gefallen, und vor allem scheute er die Arbeit nicht. Aber Jemi konnte nichts. Sie wusste nichts und sie hatte vor allem Angst. Seit dem Streit mit der Tramperin betete sie wieder, geriet darüber manchmal in Ekstase und sogar in Trance.

Davor fürchtete sich Nick am allermeisten: dass sie wieder zurückkehren wollte. Ins Königreich, zu Hiob. Dass sie nicht klarkam hier draußen und, noch viel schlimmer: dass sie es gar nicht wollte.

Ständig fing sie wieder davon an. Dass Hiob recht gehabt hatte mit allem, was er ihnen predigte. Dass die Welt ein Sündenpfuhl war, die Menschen gottlos und den rechten Pfad bereits verlassen hatten.

Dass sie in einer sündigen Welt lebten, die vergiftet und verseucht war, dass die Apokalypse auf sie niederfahren würde.

Der ganze verlogene Scheiß, den er sich seit über zehn Jahren anhören musste. All das kam nun aus ihrem Mund.

Nick setzte den Blinker bei einem Supermarkt und fuhr auf den Parkplatz.

»Hör mal«, sagte er zu Jemi, »ich geh da jetzt rein und kaufe uns etwas zu essen. Für dich Vitamine, Obst und gesunde Sachen. Du musst auf die Beine kommen.«

Sie nickte und duckte sich noch tiefer zwischen ihre Knie. Sanft streichelte er ihren Rücken, auf und ab, auf und ab.

»Du bleibst im Wagen, ja?«

Jemi nickte stumm und ließ sich zur Seite fallen. Sie kauerte sich auf der Sitzfläche zusammen und zog die Decke nun auch über das Gesicht.

Nick schloss behutsam die Beifahrertür.

Das Angebot im Supermarkt überwältigte ihn. Natürlich hatte es große Supermärkte und Einkaufszentren schon früher, in seiner Kindheit, gegeben. Und doch hatte er den Eindruck, dass alles so viel bunter und vielfältiger war als damals. Seine Eltern waren keine Freunde großer Supermarktketten gewesen. Hatten stets von Konsumterror gesprochen und dass die Wirtschaft nichts anderes im Sinn habe, als sie zu manipulieren, sie zu hirntoten Opfern des Kapitalismus zu machen. Wehe, Nick und sein Bruder hatten mal Wünsche geäußert, nach Kaugummi oder Chips. Oder – geradewegs vom Teufel erfunden – Cornflakes!

Dafür wühlten seine Eltern jetzt mit rissigen Händen in Dänemarks schwerer Erde und klaubten Kartoffeln, dachte Nick mit einem Gefühl tiefster Befriedigung, während er das Supermarktregal entlangschritt, in dem die bunten Tüten mit glänzender Aufschrift wie Genusssoldaten aufgereiht standen. Er nahm eine Tüte aus dem Regal, die besonders feurige Chips mit dem Geschmack Afrikas versprach. Grinsend steckte er sie in seinen Einkaufskorb.

Er war frei. Und wusste, dass seine Entscheidung abzuhauen richtig gewesen war. Es galt nur, Jemi davon zu überzeugen.

Während er durch die Regalreihen streifte, hob sich Nicks Laune zusehends. Schließlich legte er seine Einkäufe auf das Band, Orangen und Bananen, Äpfel, jede Menge Knabberkram, Milch, Schokomüsli, Plastikbecher und Teller, Salami, Käse, Butter, geschnittenes Vollkornbrot, mehrere Tafeln Schokolade. Coca-Cola, Dosenbier und stilles Wasser für Jemi. Die junge Mutter, die vor ihm in der Schlange stand, drehte sich zu ihm um und warf einen Blick auf das Plastikgeschirr.

Nick verstand nicht, warum, zahlte, als er an der Reihe war – mit Bargeld, was in diesen Zeiten offenbar unüblich geworden war, so viel hatte er jetzt schon mitbekommen, alle um ihn herum zahlten mit Karte –, und schlenderte am Kiosk vorbei, wo es Zeitungen und Zigaretten gab. Sein Blick fiel auf die Jyllands Posten, zuerst las er die Schlagzeile, dann sah er das Bild darunter.

Merle.

Er musste den Artikel nicht lesen, um zu begreifen, was das bedeutete.

Nick verließ den Supermarkt so hastig, dass ihm um ein Haar die Einkäufe aus dem Plastikkorb gepurzelt wären, und lief zum Wagen. Er schleuderte den Plastikkorb samt Inhalt hinten auf die Ladefläche, ohne sich Gedanken darüber zu machen, ob die Flaschen zerbrachen oder dass der Korb Eigentum des Supermarktes war, riss die Fahrertür auf und startete.

Jemi schreckte hoch, sie hatte geschlafen.

»Wir müssen weg«, gab Nick ihr zu verstehen, die Zähne zusammengebissen.

Jemi schaute ihn nur an. Er wollte ihr nichts erklären, es hätte nur Streit gegeben, schließlich hatte doch Jemi sie in diese Lage gebracht.

Nick gab Gas, er wollte weg, so schnell wie möglich weg, aber dann fiel ihm ein, scheiße, was, wenn sie ihn wegen überhöhter Geschwindigkeit blitzten oder anhielten, oder was auch immer passieren konnte, wenn man zu schnell fuhr. Ohne Führerschein überdies. Sie waren bereits weit hinter Kolding, weil sie eigentlich vorgehabt hatten, nach Deutschland zu fahren. Nick war überzeugt gewesen, dass man sich irgendwo weit ab von den großen Straßen über die Felder oder den Wald ins Nachbarland durchschlagen konnte. Aber das Risiko war jetzt viel zu hoch. Man würde sie suchen.

Er gab Gas und nahm die Abzweigung auf die A8, um dann an der nächsten Ausfahrt die Autobahn wieder zu verlassen.

Er war kopflos, konnte keinen klaren Gedanken fassen.

Das Mädchen, der Streit, würde man nach ihnen suchen? Wo sollten sie hin? Er hörte Jemi murmeln, sah ihre gefalteten Hände, und in ihm stieg Wut auf, ein vertrautes Gefühl, Wut, die sich wie eine Faust in seinem Magen zusammenballte, eine Faust, die wuchs und wuchs und seinen Körper von innen sprengen würde, wenn er jetzt nicht Dampf ablassen konnte. Wut, die er ihr gegenüber noch nie empfunden hatte, sie war doch sein Mädchen, seine Frau, seine Jemi.

Es war die Wut auf Hiob, auf die frommen Lügen, die Gebete, die Bibel, die Sprüche, die Schläge und die Geißelungen, die Wut auf seine beschissen fanatischen Eltern …

Ein Schild wies zu einem Wanderrundweg in dem ausgedehnten Waldgebiet und Nick folgte der Straße. Eine halbe Stunde später fuhr er einen Forstweg entlang, verboten für den Verkehr, aber genau das, was er gesucht hatte. Er hielt an, stellte den Motor ab.

»Du bleibst hier drin«, beschied er Jemi, die ihn verwirrt ansah. »Ich muss ein paar Schritte laufen. Mir was überlegen. Wir brauchen einen Plan, okay?«

»Nick?« Sie zog ihre schmalen Brauen zusammen. »Du lässt mich aber nicht allein?« Jemi warf einen angstvollen Blick durch die Windschutzscheibe. Dunkler, dichter Wald.

Es wäre das Einfachste, schoss es ihm kurz durch den Kopf. Sie hierlassen und alleine weitermachen. Man würde sie finden. Und dann sollten sich andere überlegen, was mit ihr zu tun war.

»Nein, niemals«, sagte er und küsste sie. Ihre Lippen blieben unbewegt, sie waren heiß und trocken. Er löste sich von ihr, strich ihr über das Haar wie einem kleinen Kind.

»Ich lass mir was einfallen.«

Dann ließ er sie alleine im Fond des Wagens und lief auf dem Forstweg ein Stück weiter, bis der Wald lichter wurde, er konnte den Himmel sehen, düster und tief. Schließlich stand er am Ufer eines Sees, der sich weit vor ihm erstreckte, aufgewühlt, Wildgänse erhoben sich in Formation aus dem Uferschilf. Der Wind nahm an Stärke zu, aber Nick genoss die scharfe kalte Luft an seinem Kopf, das Brausen in den Ohren. Er sah den Gänsen hinterher, die am anderen Ufer im Wasser landeten, sich heiser über die Störung beschwerten. Seine Haare waren feucht, sein Gesicht und der Parka, aus dem Nebel wurde Regen.

Konzentrier dich Nick.

Man hatte sie zusammen gesehen, sie alle drei, in dem Wagen. Die Tankstelle, an der sie Merle getroffen hatten. Früher oder später würde sich dort jemand erinnern. Und das Auffälligste an ihnen war der Wagen. Ohne ihn waren sie einfach nur ein Pärchen, Nick und Jemi, ein junger Mann und eine junge Frau. Sie würden untertauchen können. Irgendwo, wo Menschen waren, viele Menschen.

Eine Großstadt.

Kopenhagen.

Also mussten sie das Auto loswerden. Am besten wäre, es gleich hier stehen zu lassen. Sich zu Fuß durchschlagen, einen Bus oder Zug finden, irgendwie nach Kopenhagen kommen. Nick hatte nur eine vage Orientierung, im Königreich hatte es weder eine Karte von Dänemark noch von Europa oder gar der Welt gegeben, denn in ihrer aller Vorstellung war alles außerhalb zum Niedergang verurteilt. Aber er hatte einmal, als sie das Holz ihres Waldes verkauften und er die Männer begleiten durfte, im Büro des Sägewerks eine Karte gesehen. Minutenlang hatte er sie angestarrt und versucht, sie sich einzuprägen. Zwei Jahre war es her, und er hatte schon damals gewusst, dass er abhauen würde.

Was für ein Schwachsinn, dachte er jetzt, sie konnten nirgendwo zu Fuß hin. Sie würde das nicht schaffen. Jemi konnte nicht laufen, erst recht nicht mit Gepäck.

Er verspürte den Drang, zu flüchten, zu rennen, jetzt und hier zu starten, alles hinter sich zu lassen, den ganzen Mist, der passiert war.

Vor ihr davonlaufen.

Er hatte nicht geahnt, was er freigesetzt hatte. Die Angst schlich ihm den Nacken hinauf, drückte seine Augen von innen aus den Höhlen.

Was, wenn er sie nicht in den Griff bekäme?

Die Antwort konnte er sich selbst geben.

Das Mädchen. Das Meer. Die Nacht.

Ein Geräusch hinter ihm ließ ihn herumfahren. Es war Jemi, die in die Decke gehüllt auf ihn zukam, das wunderschöne lange Haar, dessen Strähnen er sich so gerne um den Finger gewickelt und den Duft eingesogen hatte, sah stumpf aus, ihre Augen lagen tief in den Höhlen, die Wangen eingefallen.

Zögerlich kam sie näher, fiebrig und kraftlos.

Als er sie so sah, wusste Nick, dass er dafür verantwortlich war. Er hatte sie aus ihrem Umfeld herausgerissen, weil er gehofft hatte, sie befreien zu können, den Albtraum zu beenden. Stattdessen hatte er sie gezwungen, sich in eine Welt einzufinden, die sie gar nicht gewollt hatte.

Nun musste er es auch durchziehen. Musste sich um sie kümmern. Es war seine Pflicht.

Er breitete die Arme aus. »Komm her, Schönheit.«

Keine drei Stunden später betraten sie zu Fuß die Fähre, die sie von Fynshav nach Bøjden brachte. Nick trug den Rucksack, Jemi war in drei Pullis und ihrer beider Jacken gehüllt. Sie sah lächerlich aus, eine Tonne aus Wolle und Segeltuch, aber dafür war sie warm verpackt.

Nick war stolz auf sich. Er war nicht durchgedreht und hatte alles richtig gemacht. Den Wagen wieder aus dem Wald und Jemi in der Nähe des Fähranlegers in ein Café gebracht. Dort sollte sie sitzen bleiben, viel Tee trinken, sich aufwärmen und zur Ruhe kommen. Er hatte sogar die Kellnerin gebeten, ein Auge auf seine Freundin zu haben, er müsse dringend weg und würde erst in etwas mehr als einer Stunde wiederkommen.

Die Kellnerin, ein junges Mädchen, wahrscheinlich eine Studentin, die dort jobbte, war sehr mitfühlend gewesen und hatte ihm versprochen, auf Jemi zu achten. Dabei hatte sie Nick so offen angelächelt, dass er sich fast schämte, sie für seine Zwecke einzuspannen. Ganz offensichtlich tat sie ihm den Gefallen, weil er ihr gefiel.

Dann hatte er den Pick-up weggebracht. Zuerst wollte er ihn in den Wald fahren, aber dann dachte er, dass der Wagen am besten so verschwand, wie sie beide: Untertauchen unter seinesgleichen. Und so hatte er ihn auf dem riesigen Parkplatz eines Einkaufszentrums abgestellt, wo er so schnell nicht auffallen würde. Hatte den Wagen komplett ausgeräumt, den Müll weggeschmissen und alles, was sie für ihre Unternehmung brauchen konnten, in den Rucksack gestopft. Bei der Gelegenheit war ihm das Handy im Fußraum aufgefallen. Merle musste es verloren haben. Kurz zögerte er, aber dann steckte er es ein. Wer weiß, wozu er das gebrauchen konnte. Mit diesen Apparaten kannte er sich nicht aus, er hatte nie ein Handy besessen. Aber er erinnerte sich, dass einige wenige Klassenkameraden in seiner deutschen Schule schon welche gehabt hatten. Aufklappbare Minitelefone, auf denen man Spiele zocken konnte.

Zocken, das Wort hatte er von seinem Bruder zuerst gehört. Jan war immer scharf aufs Zocken gewesen. Er war ja schon groß, vierzehn, und hatte deshalb ständig Streit mit den Eltern gehabt.

Wo bist du jetzt, dachte Nick. Was hast du in den letzten zehn Jahren gemacht? Ich brauche dich jetzt, mein Bruder, du musst mir helfen.

Jan würde auch wissen, was mit dem Handy dieser Tramperin zu tun war, Nick hatte versucht, es anzuschalten, aber der Bildschirm blieb schwarz.

Vom Einkaufszentrum war er mit einem Bus zurück ins Café gefahren, hatte dort einen Kaffee mit Jemi getrunken, die nicht mehr ganz so bleich war wie zuvor. Ihre Finger, mit denen sie seine Hände umklammerte, waren nicht mehr klamm und kalt, sie sagte, sie habe sich die gesamte Zeit seiner Abwesenheit über am Tee gewärmt.

»Wir fahren nach Kopenhagen und dort suchen wir eine Jugendherberge, okay?«

Sie sah ihn verständnislos an. Immer wieder vergaß er, dass sie nichts von dem kannte, was er über die Welt wusste, und er war selbst zehn lange Jahre auf einem anderen Planeten gewesen. Nick erklärte Jemi, dass es sich um eine günstige Unterkunft handele, in der nicht nur Jugendliche übernachten durften, auch wenn es sich so anhörte. Jugendherbergen kannte er zur Genüge, er und sein Bruder hatten mit den Eltern auf diese Art Urlaub verbracht. Wenn man es überhaupt Urlaub nennen konnte, ihre Freunde waren in den Skiferien gewesen oder am Gardasee. Nach Mallorca oder sogar nach Thailand geflogen.

Sie wanderten in der Eifel.

Wenn er darüber nachdachte, war seine Kindheit beschissen gewesen, aber alles, was danach kam, war noch viel beschissener, sie hatten ihm das Leben weggenommen, das er vorher wenigstens ansatzweise gehabt hatte.

Wie sehr er seine Eltern dafür verachtete.

Er hasste sie nicht, sein Hass galt ihm, Hiob, der Flamme. Seine Eltern waren einfach nur kleine arme Würstchen und sein Bruder hatte es genau gewusst.

»Zeit, dass wir zur Fähre gehen«, sagte Nick nun nach einem Blick auf die Uhr.

»Sehe ich noch mal das Meer?«, fragte Jemi, und ihre Wangen röteten sich leicht, aufgeregt wie ein kleines Kind.

»Ja«, sagte Nick. »Du wirst das Meer sehen. Es ist aber nur ein ganz kleines Meer. Eher so eine Art breiter Fluss, nicht so wie das Meer, an dem wir gestern waren.«

Nach dem Streit mit Merle waren sie weiter südlich gefahren und hatten an einem Campingplatz in den Dünen haltgemacht. Der Platz war verlassen, sie hatten im Pick-up geschlafen, sich gegenseitig mit ihren Körpern gewärmt. Als sich am Morgen der Vorhang der Nacht hob, hatten sie durch das beschlagene Fenster graue See gesehen. Ein endloses Grau in Grau, Himmel und Wasser verschmolzen zu einer Decke aus flüssigem Blei. Aber Jemi war außer sich gewesen, das erste Mal hatte sie eine Ahnung von der Weite der Welt bekommen.

Sie hatte neunzehn Jahre mit begrenztem Horizont gelebt.

Wald war überall dort gewesen, wo sie hatte hinblicken können. Schwarzer Wald, ein paar Felder, das war ihr Leben.

Aber nun würde alles anders werden.

Nick legte Geld auf den Tisch, schenkte der Kellnerin ein Lächeln und zog Jemi hinter sich her aus dem Laden. Die große Fähre lag bereits am Kai, sie war von weitem zu sehen, und Nick spürte, dass alles gut werden würde.

Ganz sicher.

Alles.

Gut.

Helle und der falsche Prophet

Подняться наверх