Читать книгу Helle und der falsche Prophet - Judith Arendt - Страница 8
Aalborg
ОглавлениеObwohl Helle vor ihrem Abflug in Nizza noch die Temperatur zu Hause gecheckt hatte, war sie nicht auf den scharfen Wind vorbereitet, der ihr mit kalten Klingen über das Gesicht fuhr, kaum dass sie den Terminal in Aalborg verlassen hatte. Sie zog den Reißverschluss ihres viel zu dünnen Parkas nach oben bis unters Kinn und nickte Jan-Cristofer zu, der an das Polizeiauto gelehnt auf sie wartete.
»Hej«, sagte Helle und ließ sich von ihrem langjährigen Freund und Kollegen zur Begrüßung fest in den Arm nehmen.
»Hej«, murmelte dieser in ihren Schal hinein und wollte sie nicht mehr loslassen.
Helle vergrub ihr Gesicht an seiner Schulter und ließ die innige Umarmung gerne zu, es würde der vorerst letzte Moment sein, in dem sie Schwäche zeigen konnte. Sobald sie in das Auto stieg, war sie im Dienst. Und übernahm die Ermittlung im Todesfall Merle Brabant.
Schließlich löste sich Jan-C von ihr und sah sie an.
»Bengt kommt mit Emil nach?«
»Mit dem Auto, ja. Sie sind heute mit mir von Nizza aufgebrochen. Ich rechne nicht vor Dienstag mit ihnen«, gab Helle zurück. Das bereitete ihr Unbehagen. Sie würde allein zu Hause sein. In dem schönsten Haus der Welt, aber allein. Um wie vieles lieber hätte sich Helle jetzt in einer Hütte ohne Wasser und Strom mit ihren Liebsten zusammengekuschelt, als in das große Holzhaus in den Dünen zu gehen, mit seiner Panoramascheibe, dem Blick auf Meer und Dünen, dem Kamin und der Sofalandschaft.
Es würde kalt bleiben, nur mit ihr allein.
Es würde so lange kalt bleiben, bis einer ihrer Lieblingsmenschen bei ihr sein könnte, Leif, ihr Sohn, der seinen schmalen Körper in einem übergroßen Hoodie verbergen und ihr aufmerksam mit den Augen durch den Raum folgen würde, bis sie Schulter an Schulter auf dem Sofa saßen und Serien guckten.
Oder Bengt, dessen fester, runder Körper Wärme und Energie ausströmte, die bis in die letzten Ritzen reichten; der hinter seinem gigantischen Herd stehen und sie allein mit dem Geruch des von ihm gekochten Essens zu trösten vermochte.
Oder Sina, ihre Tochter, mit ihrer vibrierenden Energie, der Unruhe im Körper, aber auch dem unstillbaren Bedürfnis nach Körperkontakt, die Helle fest an sich band, einspann in ihr Netz zärtlicher Verrücktheiten.
Und natürlich Emil. Der Beste. Der, für dessen unbeirrbare Liebe es keine Worte gab, dessen feuchte dicke Nase Helles Herz erschüttern konnte, dessen Körper ihren Beschützerinstinkt ebenso erwachen ließ, wie er ihr Geborgenheit vermittelte.
Familie. Helle brauchte sie jetzt mehr denn je, aber die Mitglieder der Familie Jespers waren im Moment weit voneinander entfernt.
Jan-Cristofer knuffte sie sanft in die Schulter. »Du kannst zu uns ziehen für die paar Tage«, sagte er, offenbar ihre Gedanken lesend. »Ich kann dir ein superbequemes Sofa im Wohnzimmer anbieten.« Er ging um den Wagen herum zur Fahrerseite.
Helle ließ sich auf den Beifahrersitz fallen. »Danke. Wenn es ganz schlimm mit mir wird, nehme ich dein Angebot an.«
»Wir haben immer Chips im Haus und eine Playstation 4.« Wir, das waren Jan-Cristofer und sein siebzehnjähriger Sohn Markus, der vor einem Jahr von seiner Mutter zu seinem Vater gezogen war. Seit Jan-C für ihn sorgen durfte, fiel es ihm noch leichter, keinen Alkohol mehr anzurühren.
»Dann wäre ich optimal versorgt.« Helle lächelte. Zum ersten Mal, seit die Nachricht vom Tod des Mädchens sie erreicht hatte.
Sie fuhren vom Flughafengelände, verließen das Stadtgebiet Aalborgs und steuerten nach Norden. Während Jan-C den Wagen durch die Weiten Jütlands lenkte, unter dem schweren Himmel, gebeutelt von den Herbststürmen, die über die Landzunge fegten, rekapitulierte er für Helle noch einmal den Stand der Ermittlungen. Zwar hatte sie Akten und Dossiers bereits auf ihrem Tablet studieren können, aber durch den Filter ihres Kollegen gewannen die dürren Fakten an Kontur. Helle lehnte ihren Kopf zurück, schloss die Augen und lauschte der vertrauten Stimme.
Die Leiche von Merle Brabant, neunzehn Jahre alt, wurde am Samstagnachmittag gegen siebzehn Uhr von einem Ehepaar, das mit seinen Hunden am Strand unterwegs war, bei Klitmarken in der Brandung entdeckt. Das Meer hatte den Körper an Land gespült. Ole und Jan-C, die als Erste vor Ort waren, hatten die junge Frau sofort identifiziert, deren Eltern sie noch nicht als vermisst gemeldet hatten.
Merle trug einen Neoprenanzug, darunter einen Badeanzug, sonst nichts weiter. Die Polizei und Küstenwache suchten gegenwärtig Meer und Küstenstreifen nach ihrem Surfboard sowie Klamotten und Rucksack ab. Gefunden hatten sie noch nichts, denn die Suche wurde durch hohen Seegang erschwert.
Dr. Holt hatte zunächst bei oberflächlicher Betrachtung des Körpers Tod durch Ertrinken festgestellt, Dr. Runstad, der Rechtsmediziner aus Aalborg jedoch, der auf Bitten von Helle die Leiche zu sich ins Institut geholt hatte, relativierte die Aussage. Er wollte sich so schnell noch nicht festlegen.
Merles Körper wies einige oberflächliche Verletzungen auf. Nichts, was auf den ersten Blick einen gewaltsamen Tod vermuten ließ, aber Runstad wollte alles offenlassen. Im Blut des jungen Mädchens ließen sich eine hohe Konzentration von Alkohol sowie THC nachweisen. Die junge Frau musste stark benommen gewesen sein. Die Polizei war noch im Unklaren, ob es sich um ein Unglück oder einen gewaltsamen Tod – oder gar Suizid – gehandelt hatte.
»Dieser Holt«, seufzte Helle. »Ist der nicht längst in Rente?«
Sie hoffte inständig, dass sie durch die simple Diagnose des Erstbegutachters keine Zeit verloren hatten. »Hat Runstad sich schon geäußert, wie alt diese Verletzungen sind?«
Der Gedanke, dass Merle – die kleine Merle, die sie seit beinahe zehn Jahren kannte, an die sie sich von der Einschulung ins Gymnasium erinnerte, an die blonden Zöpfe und die dürren Beine, an die aufgeschürften Knie und das heisere Kichern –, dass dieses zarte Mädchen vielleicht Gewalt ausgesetzt gewesen war, dass sie vor ihrem Tod gelitten, sicherlich Angst gehabt und sich verlassen gefühlt hatte, dass Merle etwas erlitten hatte, was auch ihren Kindern hätte geschehen können – das war ein schier unerträglicher Gedanke für Helle. Dass die junge Frau selbstgewählt in den Tod gegangen war, schloss Helle aus. Nicht Merle, ein so positives, an der Zukunft orientiertes Mädchen.
»Du kennst doch den Leichenleser«, brummte Jan-Cristofer. »Am liebsten hätte er uns noch gar nichts gesagt.«
Helle nickte. Dr. Nils Runstad war in ihren Augen der beste Rechtsmediziner Dänemarks, sein Wort galt. Es gab nichts, was er nicht fand, aber das hatte seinen Preis: Der Kettenraucher und Griesgram untersuchte sorgfältig, ließ sich von niemandem zur Eile antreiben oder zu einer Äußerung hinreißen, derer er nicht zu hundert Prozent sicher war.
»Aber er weiß, dass du kommst und ihn nerven wirst«, fuhr ihr Kollege fort. Dabei warf er einen raschen Blick auf Helle.
»Okay. Ich rufe ihn später an.«
»Ich war gestern mit Ayuna bei den Eltern.«
Jetzt war es an Helle, Jan-C anzusehen. Er biss sich auf die Lippen.
Eltern sagen zu müssen: dein Kind ist tot. Die furchtbarste Aufgabe für Polizisten. Aber Helle fand es richtig, dass Ayuna Ekberg, die neue Leiterin der Polizeikommission Frederikshavn, Jan-C mitgenommen hatte. Er schaffte das. Er war gut in diesen Dingen; die Menschen spürten, dass er selbst Schreckliches erlebt und seine Seele auf immer markiert war. Vielleicht erkannten sich die Versehrten und Verletzten, vom Tod Gestreiften, dachte Helle manchmal. Dieser Gedanke tröstete sie. Ein wenig.
Sie fragte jetzt nicht danach, wie die Eltern die Nachricht aufgenommen hatten. Die Antwort war immer gleich: Sie haben es kaum überlebt. Ihr Herz ist gebrochen.
Außerdem würde Helle selbst noch heute zu Inez und Fredrick Brabant rausfahren, sie kannten sich so gut. Es war ihre Pflicht, ihnen zu sagen, dass sie alles tun würde, um Merles Tod aufzuklären. Auch wenn das ihnen die Tochter nicht mehr zurückbrachte. Aber es war wichtig für die Hinterbliebenen, Gewissheit zu haben. Zu wissen, was geschehen war.
»Sie haben erzählt, dass Merle zur Fridays-for-Future-Demo nach Aalborg gefahren ist. Mit Freunden. Dort war sie regelmäßig, weil ihr Bruder da wohnt«, fuhr Jan-Cristofer nun fort.
»Ihre Freunde sind aber ohne sie zurück nach Frederikshavn?«, rekapitulierte sie.
Jan-C nickte. Sie passierten Frederikshavn und steuerten in Richtung Skagen durch Bannerslund.
»Können wir gleich mal bei Møjen anhalten?«, bat Helle ihn. Dort war der Fundort der Leiche. Auch wenn es mutmaßlich nichts zu sehen gab, für Helle war es dennoch wichtig, sich ein Bild zu machen. Sie sammelte Bilder eines Falles in ihrem Kopf und immer fügten sie sich im Verlauf der Ermittlungen zu einem Mosaik zusammen. Einem traurig stimmigen Mosaik.
Jan-C nickte und fuhr in seinem Bericht fort.
»Merle wollte ihr Surfbrett bei ihrem Bruder abholen. Oder vielmehr«, verbesserte er sich, »sie hat es tatsächlich getan. Sie haben zusammengesessen und ein Bier getrunken. Dann hat er ihr Geld für den Zug gegeben.«
»Wissen wir mittlerweile, ob sie Zug gefahren ist?«
»Nein. Die Bänder aus Aalborg und Frederikshavn werden ausgewertet. Bis jetzt hat sich niemand an sie erinnert. Weder Schaffner noch Schalterbeamte. Aber die Kollegen sind noch dran.«
»Sie müsste aufgefallen sein«, bemerkte Helle. »Wer ist im Oktober mit einem gelben Brett auf dem Rücken unterwegs?«
»Richtig. Das ist unser schwarzes Loch. Wir wissen nicht, was zwischen Freitag, kurz nach fünf, als sie aus der Wohnung des Bruders gegangen ist, und Samstagnachmittag geschehen ist.«
»Gibt es Zeugen dafür, dass sie bei ihrem Bruder war – und auch wirklich gegangen ist?«
Jan-C sah sie wieder von der Seite an. Dass ein Bruder seiner Schwester Gewalt antun könnte, war ein furchtbarer Gedanke, aber Helle hatte recht: So etwas kam vor, nicht zu selten, und sie durften nichts ausschließen. Auch – oder gerade weil – sie die Familie kannten.
»Ja. Seine Frau war auch da. Daran gibt es erst einmal keinen Zweifel. Die beiden sagen, Merle wollte zu Fuß zum Bahnhof gehen. Es ist nicht weit, vielleicht zwanzig Minuten durch die Innenstadt.«
»Okay.« Helle sah aus dem Fenster und schauderte. Die dunklen Wolken hingen tief, wurden vom starken Wind über das flache Land gepeitscht. Dürre Kiefern bogen sich, einige wenige Häuser duckten sich noch tiefer zwischen Sandhügel und Hagebuttenhecken. Es war kalt und ungemütlich und es würde immer kälter werden. Der Sommer war vorbei, der Herbst gab ein kurzes Gastspiel, der Winter klopfte bereits an. Nichts schmeckte hier nach Pastis und Crémant, es war die Zeit für starken heißen Kaffee. Helle dachte an Bengt und Emil, die langsam im Volvo nach Hause gondelten. Im Moment fuhren sie vielleicht durch die Schweiz. Quälten sich über den San Bernadino. Sie wusste, dass Bengt am höchsten Punkt des Passes anhalten und mit Emil eine Runde drehen würde. Zu einem der unzähligen Wasserfälle oder Viadukte. Wie gerne wollte sie jetzt mit ihnen dort sein und sich nicht um tote Mädchen kümmern. Helle fühlte sich miserabel, hatte sie sich doch gestern noch einen Mord gewünscht, damit ihr Job bitte weniger eintönig sei. Und jetzt schien es ihr, als hätte sie sich damit das Schlimmste herbeigewünscht, als hätte jemand, der das Schicksalsrad drehte, sie für ihren bösen Wunsch strafen wollen.
»Haben die Eltern sie zu Hause erwartet? Also, wissen wir, ob sie nach Frederikshavn wollte?«
Jetzt nickte Jan-C eifrig. »Das ist eine wichtige Sache, der wir nachgehen müssen. Die Eltern waren sich nicht sicher. Die Mutter …«
»Inez.«
»… Inez meint, sich zu erinnern, dass Merle etwas von einer Party erzählt hat. Aber der Vater wusste nichts davon.«
»Normale Väter wissen so etwas nicht. Nicht von ihren Töchtern«, kommentierte Helle.
»Was bist du für eine Chauvinistin? Pfui, Helle, ehrlich. Ich jedenfalls weiß, wenn Markus auf eine Party geht. Und Bengt wusste von Leif und Sina sicher mehr als du.«
»Touché.« Jan-C hatte recht. Was für eine blöde Bemerkung von ihr. »Also gut, ich konkretisiere das mal. Viele Väter wüssten so etwas nicht. Und insbesondere nicht solche wie Fredrick Brabant. Er ist ein hohes Tier bei DanEnergi. Der hat sicher eine Achtzig-Stunden-Woche. Bei Schulveranstaltungen war immer nur Inez da. Und zwar allein. Also …«
»Okay.« Eine Sturmböe erfasste den Wagen, und Jan-C hielt das Lenkrad mit beiden Händen fest, damit sie nicht in den Graben geweht wurden. »Dann gilt es also rauszufinden, wo Merle hinwollte. Ole ist dabei und telefoniert die Freunde durch.«
»Haben wir ihr Handy?«
»Nein, nichts. Weder ihre richtigen Klamotten noch den Rucksack noch das Board.«
»Der Körper wurde bestimmt abgetrieben. Wir müssen uns mit der Strömung beschäftigen …«
Jan-C unterbrach sie. »Bin ich dran. Ich habe mit Trine«, er wurde rot, »darüber gesprochen. Sie können uns das ausrechnen, die Wetterdaten sind vorhanden. Keine Ahnung, wie die das machen, aber Windstärke, Strudel, Tidenhub – jedenfalls kann man das ungefähr berechnen, woher die Tote angeschwemmt wurde. Natürlich nicht auf den Meter genau, aber Trine kann uns sagen …«
»Schon gut.« Helle hob müde die Hand. Sie wollte nichts darüber hören, wie lange Merle im Wasser getrieben hatte, wie viele Stunden die dunkle wilde Braut sie umklammert, ihren zarten Körper unter Wasser gezogen hatte, hinab in die schwarze Tiefe und wieder emporgespült in die gelbe Gischt.
»Du und Trine?«, fragte sie stattdessen.
Jan-Cristofer blickte nun zur Fahrerseite aus dem Seitenfenster. Er will sein glückliches Grinsen verbergen, dachte Helle unwillkürlich, dabei freue ich mich für ihn. Ein Licht in dieser Düsternis.
»Wie lange geht das schon?«, fragte sie laut. »Und wieso hab ich davon nichts mitbekommen?«
Trine war Hafenmeisterin in Skagen. Sie war ihnen bei dem Fall der Toten in der Düne begegnet und es hatte auf Anhieb gefunkt zwischen ihr und Jan-C. Aber das war nun beinahe ein Jahr her und Helle hat nicht das kleinste Anzeichen bemerkt, dass sich zwischen den beiden ernsthaft etwas ergeben hatte.
»Ach lass«, sagte er jetzt. »Das ist im Moment nicht wichtig.«
»Doch!«, gab Helle zurück, mit einer Heftigkeit, die sie selbst überraschte. »Sterne in der Nacht, mein Lieber, verstehst du?« Und dann knuffte sie ihn liebevoll in den Oberarm.
Dreißig Jahre arbeiteten sie schon zusammen. Waren als Anwärter gleichzeitig zur Polizei gekommen. Hatten gemeinsam als junge Polizisten in Kopenhagen Dienst auf der Straße gemacht, in Christianias wilder Zeit. Helle hatte die Ehe ihres Freundes scheitern sehen und sein Abgleiten in die Sucht. Und nun war sie ehrlich froh, dass er es schaffte, seinem Leben eine neue, gute Richtung zu geben. Dass er nach dem Entzug seinen Sohn zu sich holen konnte, hatte sie und Bengt, der Jan-C ebenso mochte wie Helle, gefreut. Und dass er nun möglicherweise auch noch eine neue Liebe hatte, war umso verdienter.
Helle wollte weiterbohren, aber jetzt setzte ihr Freund den Blinker und sie verließen die Hauptstraße und fuhren durch die idyllische Siedlung in Richtung Klitmarken und Meer. Je näher sie dem Wasser kamen, desto mehr Fahrzeuge parkten am Rand der schmalen Straße. Übertragungswagen, Presse, Schaulustige.
Helle fror.
Jan-C fuhr an allen Wagen vorbei bis nach vorne an die Absperrung. Ein Kollege winkte sie durch.
Neben den anderen Wagen der Polizei hielten sie an, und Helle starrte durch die Scheibe auf die Dünenkuppe und die schwere See dahinter. Sie liebte das Meer so, wie sie es fürchtete. Sie war damit aufgewachsen, sie hatte größten Respekt vor seiner Kraft. Die Zerstörungswut der Wellen bei einer Sturmflut, die hinterlistigen Unterströmungen auch im flachen Wasser und die Kälte in der Tiefe, die sich ins Herz biss, sodass es aufhörte zu schlagen – all das hatte sie mehrfach erlebt. Hatte tote Badende und Segler gesehen, verwüstete Strandabschnitte und zerschellte Kutter. Die Vorstellung, dass Merle der Kraft der Nordsee schutzlos ausgeliefert gewesen war, deprimierte sie.
Jan-C war ausgestiegen und öffnete ihr jetzt die Beifahrertür. In der Hand hielt er seinen Parka.
»Zieh den an«, bat er sie. »Deine Jacke ist viel zu dünn.«
Helle nickte und streifte sich seine Jacke über, die ihr zu groß, aber von seinem Körper angenehm aufgewärmt war. Der Wind hatte hier vorne an der Küste an Stärke zugenommen und riss an ihren Haaren. Einige Meter von ihrem Wagen entfernt, erkannte sie die Markierung und zwei Kollegen; das musste die Fundstelle sein.
Helle stapfte los.
Es war wie erwartet: nichts zu sehen. Außer sehr vielen Abdrücken im Sand. Der Meeresspiegel war angestiegen, zweimal war die Flut gekommen und nun herrschte wieder Ebbe. Alle Spuren, wenn es jemals welche gegeben hatte, waren beseitigt. Aber wenn es so war wie angenommen, nämlich dass Merle im Meer ertrunken und hierher angespült worden war, dann gab es auch keinen Tatort. Und demnach nichts zu untersuchen. Sollte sie an Land zu Tode gekommen und erst danach ins Meer gebracht worden sein, dann mussten sie woanders suchen.
Helle stand mit den Füßen direkt an der Wasserkante und blickte die Küste nach Nordosten hinauf. Irgendwo dort musste Merle ins Wasser gegangen oder geschafft worden sein. Warum hatte sie sich entschieden, den Neoprenanzug anzuziehen und bei Dunkelheit im Oktober, bei Temperaturen deutlich unter zehn Grad, auf ihr Brett zu steigen und auf den Wellen zu surfen? Oder hatte sie das gar nicht vorgehabt? Was aber dann? Wieso sonst trug sie einen Badeanzug und den Neoprenanzug? Ihren Bruder hatte sie in normalen Klamotten verlassen, in den Akten fand sich eine genaue Beschreibung der Sachen, die sie getragen hatte.
Und warum war sie hier am Strand gewesen? Ihr Zuhause war in Frederikshavn, einige Kilometer weiter die Küste hinunter.
Hatte sie zufällig jemanden getroffen und war ihm oder ihr hierher gefolgt?
Oder hatte sie von vornherein vorgehabt an diesen Strandabschnitt zu fahren? Hatte es die Party gegeben, von der Inez vage gesprochen hatte?
Es war dringend nötig, mit ihren Freunden zu sprechen, beschloss Helle. Sie kannte einige davon, vielleicht würde sie die Gespräche führen müssen und nicht Ole. Vielleicht sagten ihr die jungen Leute eher etwas, weil sie sie kannten als Mutter von Leif, weil sie ihr vertrauten.
Helle beschloss, ihren Sohn anzurufen. Um ein bisschen mehr über Merle zu erfahren, was sie so machte seit dem Abitur und ob die beiden noch Kontakt hatten.
Sie drehte sich um und ging an den Schaulustigen vorbei zum Wagen. Sie stieg ein, nickte Jan-C zu, der den Wagen startete. Bis zur Polizeistation Skagen sprachen die beiden kein Wort miteinander.
Marianne erhob sich sofort hinter ihrem Tresen und ging auf ihre Chefin zu, als diese durch die Tür trat. Helle sah ihre geröteten Augen, dann wurde sie schon fest an den Busen ihrer Mitarbeiterin gepresst. Sie erwiderte Mariannes Umarmung mit kurzem Druck und löste sich dann. Sie wollte jetzt nicht von ihren Gefühlen übermannt werden, vom Parkplatz aus hatte sie bereits gesehen, dass ihre neue Vorgesetzte neben Ole in dessen Büro saß. Sie musste jetzt wach und klar im Kopf sein.
Ayuna drehte sich sofort nach ihr um, als sie das Zimmer betrat.
»Hej Helle. Setz dich, wir haben Runstad am Apparat.«
»Hallo, Frau Jespers«, schnarrte dieser auch umgehend durch den auf laut gestellten Telefonapparat.
»Hej Nils. Was hast du?«
Nils Runstad räusperte sich. Ein Räuspern, das nach fortgeschrittener Tuberkulose klang, kein Wunder bei dem exzessiven Zigarettenkonsum des Gerichtsmediziners.
»Ihr könntet auch einfach den Bericht lesen, ich habe ihn euch gerade gemailt. Aber gut, ich sage es noch einmal in einfachen Worten.«
Helle sah erst Ole an, dann Ayuna. Sie lauschten angespannt.
»Tod durch Ertrinken, ganz klar. Der Kollege Holt hatte also recht. Wir haben Wasser in der Lunge, daran gibt es keinen Zweifel. Allerdings …«
Runstad machte eine dramatische Pause.
»Wie ihr wisst, hatte sie eine hohe Alkoholkonzentration im Blut. Zum angenommenen Zeitpunkt des Todes, also zwischen 20 und 22 Uhr Freitagnacht, etwa 1,7 Promille. Das ist schon einiges. Vor allem bei so einem sehr jungen und schlanken Mädchen. Außerdem THC. Und die Spuren an ihrem Körper … die lassen durchaus darauf schließen, dass es ein Gerangel gegeben hat. Nichts Dramatisches, also keine Würgemale oder so etwas, aber … ja, Gerangel trifft es. Die Druckstellen an den Handgelenken sind auf alle Fälle frisch, und sie wurden vor dem Tod beigebracht. Ein paar Kratzer und an den Haaren hat ihr auch jemand gerissen. Unter den Fingernägeln sind Hautfetzen einer anderen Person. Fremde DNA. In der Datenbank kein Treffer.«
»Unter Gerangel verstehe ich etwas Harmloseres«, kommentierte Helle. »Kann es sein, dass sie bewusstlos war und jemand hat sie ins Wasser geschleift und dort ertrinken lassen?«
»Möglich. Aber nicht sehr wahrscheinlich. Ich gehe davon aus, dass sie sich im Wasser bewegt hat. Also vielleicht wirklich ein Weilchen gesurft ist oder geschwommen. Sie hat erst später Wasser in die Lunge bekommen.«
»Sie hatte also eine Auseinandersetzung an Land«, dachte Helle laut nach. »Und ging danach ins Wasser. Völlig zugedröhnt. Vielleicht hat sie sich mit ihrem Freund gestritten.«
»Haare ausreißen ist ziemlich untypisch für Männer«, kommentierte Ole Halstrup spitz.
»Also, wenn ihr hier weiter Spekulationen anstellen wollt, dann ohne mich. Ich habe gesagt, was zu sagen war. Jetzt brauche ich erst einmal eine Zigarette.«
»Alles klar, Nils. Vielen Dank.« Ayuna beendete das Gespräch mit dem Rechtsmediziner und blickte Helle an. »Möglicherweise doch ein Unfall.«
»Ja.« Helle war übel, sie musste sich setzen. Sie fror noch immer, obwohl der kleine Raum überheizt war und sie Jan-Cs Parka trug. Warum bekam sie jetzt keine Hitzewallungen?, fiel Helle ein, die kämen ihr jetzt gerade recht. Sie griff nach der Thermoskanne mit Kaffee und goss sich etwas von dem Getränk in einen Becher. »Auch wenn sich die Todesursache nach einem Unfall anhört – die Umstände des Ertrinkens sind für mich total seltsam. Ein Mädchen nachts im Herbst am Strand, betrunken und bekifft … da steckt auf alle Fälle mehr dahinter.«
»Selbstmord«, warf Ayuna ein.
Helle schüttelte den Kopf. »De facto vielleicht. Aber ich kenne Merle. Ich kann mir das überhaupt nicht vorstellen.«
In dem Moment steckte Marianne ihren Kopf durch die Tür. »Die Kollegen in Frederikshavn haben eine Meldung bekommen. Ein Tankstellenbesitzer. Er hat Merle auf dem Foto in der Zeitung erkannt und sich an sie erinnert.«
Sie hatten alle drei die Köpfe herumgerissen und waren wie elektrisiert. Manchmal geschah es, dass man einfach wusste, wann eine Spur richtig heiß war. Und das war so ein Moment. Gleich würden sie etwas Wichtiges erfahren, das war allen im Raum schlagartig bewusst.
»Sie hat bei ihm etwas zu trinken gekauft. Er erinnert sich an das gelbe Board. Dann hat sie mit einer jungen Frau gesprochen.«
»Ja?«, fragte Helle erwartungsvoll.
»Mit der ist sie mitgegangen. Die gehörte zu einem Auto, einem Pick-up. Merle ist eingestiegen und mitgefahren.«
»Bingo! Wo ist die Tankstelle?« Helle war bereits auf dem Sprung.
»Am Stadtrand von Aalborg, kurz bevor sich die Autobahn in die E39 und die E45 teilt«, gab Marianne zurück.
»Verdammt! Da sind wir gerade vorbeigefahren!«, ärgerte sich Helle. Tatsächlich hatte sie mit Jan-Cristofer die Stelle passiert, als er sie in Aalborg vom Flughafen abgeholt hatte. Sie wusste sogar genau, um welche Tankstelle es sich handelte.
»Der Zeuge heißt Hans Bruggen. Er erwartet euch, ihr könnt euch die Überwachungsbänder von Freitag anschauen, er wollte alles vorbereiten.«
»Wow«, murmelte Ole, »können nicht alle Zeugen so sein wie Hans?«
»Okay. Wir fahren hin – Ole, du fährst. Marianne, rufst du bitte bei den Eltern an und sagst ihnen, dass ich später vorbeikomme?«
Marianne nickte und zog sich zurück. Helle wollte ebenfalls das Zimmer verlassen, aber Ayuna fasste sie am Arm.
»Helle.«
»Ja?«
»Du weißt doch noch gar nicht, wer die Ermittlungen hier leitet.«
Helle blieb wie angewurzelt stehen. Ihr Reflex, den Fall sofort an sich zu ziehen und nicht im Traum daran zu denken, sich mit ihrer Vorgesetzten darüber zu verständigen, stammte aus der Zusammenarbeit mit Ingvar. Dort hatte sie gelernt, eigenmächtig zu handeln – aber so, dass Ingvar davon nichts mitbekam. Sie flog stets unter dem Radar. Dass sie ihr Verhalten nun ändern musste, war ihr noch gar nicht in den Sinn gekommen. Ayuna Ekberg hatte jetzt das Sagen.
»Sorry, Ayuna. Ich bin … also ich bin einfach davon ausgegangen. Aber natürlich …« Helle zuckte hilflos mit den Schultern.
»Ich übertrage dir die Untersuchungen. Ganz offiziell.« Ihre Vorgesetzte lächelte. »Aber solange wir nicht sicher sind, ob es sich tatsächlich um ein Gewaltverbrechen handelt, musst du mit einem kleinen Team arbeiten.«
Helle nickte. »Na klar. Kein Problem. Ich habe sowieso am liebsten meine eigenen Leute um mich.« Dann nahm sie einen erneuten Anlauf, sich zu entschuldigen. Helle hatte keine Lust, mit Ayuna, von der sie in den letzten Monaten einen sehr guten Eindruck gewonnen hatte, in die Konfrontation zu gehen. »Ich wollte dir nicht vorgreifen, tut mir leid.«
»Schon gut. Wer sonst sollte den Fall übernehmen? Es ist Skagen und du bist unsere beste Ermittlerin.«
»Danke. Kann ich Linn in mein Team bekommen?«
Ayuna ließ ihren Arm los. »Ja, das geht. Und noch etwas: Du bist sehr nah an der Sache dran. Versuch, etwas Abstand zu bekommen. Du darfst das nicht persönlich nehmen. Der Fall hat erst einmal nichts mit dir oder deiner Familie zu tun, okay?«
Helle nickte, bevor sie mit Ole den Raum verließ. Natürlich hatte ihre Chefin recht. Sie durfte Merles Tod nicht zu nah an sich heranlassen. Es sollte ein Fall wie jeder andere sein.
Aber, verdammt noch eins, es hätte ihr Kind sein können. Und sie wusste, dass sie das Bild des Mädchens, das mitten in der Nacht in der schwarzen und eiskalten Nordsee trieb, nie wieder würde vergessen können.