Читать книгу Helle und der Tote im Tivoli - Judith Arendt - Страница 10

Fredrikshavn, 15.00 Uhr

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Helle parkte den Wagen zwei Blocks vor dem Gymnasium. Gunnars Sekretärin Lisbeth hatte ein Café als Treffpunkt vorgeschlagen, denn in der Schule waren noch immer Sören Gudmunds Leute von der Mordkommission unterwegs. So schlugen sie zwei Fliegen mit einer Klappe, denn Lisbeth war froh, aus ihrem Büro herauszukommen, und Helle war es lieber, wenn niemand sie sah. Schließlich hatte Gudmund ihr unmissverständlich klargemacht, womit sie sich zu beschäftigen hatte. Falschparker und Ladendiebe. Das war ungefähr so, als sagte man der Frau Hauptkommissarin, dass ihr Platz in der Küche sei. Sören Gudmund hatte Helle damit herausgefordert – hätte er Bengt gefragt, dann hätte der ihm gesagt, dass es genau das war, was man bei Helle tunlichst vermeiden sollte. So aber würde Helle Jespers die Füße erst recht nicht stillhalten.

Sie rangierte den Polizeiwagen umständlich und ein wenig rabiat zwischen zwei Schneehaufen in die Lücke. Eigentlich hatte es schon lange nicht mehr geschneit, aber die Tiefsttemperaturen sorgten dafür, dass die schmutziggrauen Schneereste einfach nicht aus dem Straßenbild verschwanden.

Das Café lag ein paar Meter weiter, es war winzig, gerade mal sechs Tische gab es, und drei davon waren besetzt. An einem saß Lisbeth. Helle kannte sie, weil ihre beiden Kinder auf dem Gymnasium waren, beziehungsweise gewesen waren. Sina hatte im letzten Jahr Abitur gemacht und studierte seit dem Herbst in Kopenhagen. Leif kämpfte sich noch mehr schlecht als recht durch die elfte Klasse.

»Das ist ja nett hier, ist das neu?« Helle sah sich um. Das kleine Café hätte auch in irgendeinem von Kopenhagens Szenevierteln liegen können. Zusammengewürfelte Möbel vom Flohmarkt, alle in dem weißen Shabby-Chic-Stil, gläserne Industrielampen, mollige Kissen aus Patchwork oder Strick, und auf der Theke standen Etagere an Etagere, Teller, Körbchen und gläserne Kuppeln, unter denen sich hausgemachtes Gebäck befand. Croissants und Brioches, Baguettebrötchen, Muffins, kleine Gugelhupfe, rustikales Sauerteigbrot.

Dazu roch es wie in einer Kaffeerösterei, das Licht leuchtete freundlich, und es war angenehm warm. Helle zog sich die dicke Mütze vom Kopf und schälte sich aus ihrem Anorak. Auch den Pulli legte sie vorsorglich gleich ab, sie wusste, es würde nicht lange dauern und ihr würde das Wasser in Bächen hinunterlaufen.

»Ja, ist neu. Die Schüler gehen hier gerne hin.« Lisbeth betrachtete Helle mit einem Hauch Skepsis.

Helle ließ sich davon nicht irritieren und bestellte einen großen Kaffee sowie eine frisch gebackene Waffel mit Schinken.

»Müsst ihr alles auf den Kopf stellen?«

Helle entging der aggressive Tonfall nicht. Lisbeth hatte ihre fein gezupften Brauen streng zusammengezogen und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Wen meinst du? Die Mordkommission?«

»Keine Ahnung, wer das ist. Ein kleiner arroganter Sack und ein Fieser, der aussieht wie ein Schlägertyp.«

Helle grinste. »Gudmund und Olsen. Ja, das ist die Mordkommission aus Kopenhagen. Ich durfte auch schon ihre Bekanntschaft machen.«

Lisbeth nahm die Arme vor der Brust weg und hob mit dem Löffel etwas Sahne von ihrem Kakao. »Gehört ihr nicht zusammen? Ihr seid doch alle von der Polizei.«

Helles Kaffee kam, und sie beschäftigte sich statt einer Antwort umständlich damit, viel Zucker hineinzugießen.

»Nicht wirklich, weißt du. Hat Marianne dir denn nichts erzählt?«

Lisbeth schüttelte den Kopf. »Sie meinte nur, dass du dich mit mir unterhalten willst.«

»Es ist eigentlich nicht meine Baustelle, weißt du. Die Ermittlungen führen die Kopenhagener, weil Gunnar dort … zu Tode gekommen ist.« Sie nahm einen Schluck von dem süßen heißen Getränk. »Aber weil ich Gunnar doch kenne, dachte ich …« Helle zwinkerte Lisbeth über den Kaffee verschwörerisch zu. »Na ja, du weißt, wie das ist. Man kann es ja nicht glauben, dass so etwas einem von uns passiert.«

Damit hatte sie die Sekretärin am Haken. Lisbeths Zurückhaltung verschwand vollkommen, sie standen jetzt auf der gleichen Seite.

»Ist das nicht schrecklich? Der arme Gunnar!« Sie beugte sich näher zu Helle über den Tisch und senkte die Stimme. »Du weißt bestimmt genauer, was passiert ist, oder? Uns haben sie ja nichts gesagt. Nur dass Gunnar ermordet wurde. Ermordet!« Sie wiederholte das Wort mit dunklerem Timbre.

»Ich kann dir leider nichts sagen, weil die Ermittlungen laufen. Aber es war nicht besonders appetitlich. So viel kann ich dir verraten.«

Lisbeth schloss kurz die Augen, bevor sie sie wieder aufriss und Helle mit veilchenblauem Blick fixierte. »Du ermittelst auf eigene Faust, stimmt’s?«

Die junge Bedienung stellte Helle die Schinkenwaffel vor die Nase und enthob sie damit einer direkten Antwort.

»Nein … aber ich stelle mir natürlich die eine oder andere Frage. Deshalb wollte ich auch mit dir reden. Ich meine, du kennst Gunnar wahrscheinlich besser als kaum jemand anders.«

»Besser als seine Frau.« Lisbeth lachte, dabei rasselte es in ihrer Kehle und ließ auf erheblichen Zigarettenkonsum schließen. »Zwanzig Jahre. Zwanzig Jahre habe ich in seinem Vorzimmer gesessen.« Sie schüttelte den Kopf. Helle sah in ihren Augenwinkeln Tränen glitzern.

»Bis er letztes Jahr pensioniert wurde«, half sie Lisbeth weiter.

Sie nickte. »Ja. Seitdem haben wir kaum noch Kontakt gehalten. Weißt du, Gunnar war nicht so einer. Er war immer korrekt, höflich. Aber distanziert. Ich habe natürlich gemerkt, wenn ihn was bedrückt hat. Aber erzählt hat er nie etwas.«

»Was hat ihn denn zum Beispiel bedrückt?«

Lisbeth musste nachdenken. »Schlechte Schüler. Also nein, nicht dass er auf sie herabgeschaut hat, ganz im Gegenteil. Sie taten ihm leid. Ich hatte immer das Gefühl, dass er unter jedem Kind, das durchgefallen war oder sogar die Schule verlassen musste, litt. Er hat es sich persönlich angekreidet. Gunnar war der Meinung, dass die Eltern oder die Pädagogen versagt haben, wenn ein Kind schlecht in der Schule war.«

Helle dachte an ihren eigenen Sohn. Sie hatte eigentlich das Gefühl, dass sie und Bengt alles taten, um Leif zu unterstützen. Dennoch brachte er eine schlechte Note nach der anderen nach Hause. Sollte es also die Schuld der Schule sein? War es so einfach? Sie schüttelte den Gedanken ab und konzentrierte sich wieder auf Lisbeth.

»Erinnerst du dich an Streit mit Eltern? Also richtig heftigen Streit, sodass man denken könnte …«

»… jemand würde Rache nehmen?« Lisbeth schüttelte ihren Kopf, die kleinen Löckchen flogen hin und her. »Auf keinen Fall. Zwar hatte er oft Ärger mit Eltern. Manchmal gab es laute Worte, Beschimpfungen oder Türenknallen. Aber nicht so, dass man … also Mord? Nein.« Sie kaute auf ihrer Unterlippe herum und dachte nach. »Vielleicht war es ein Versehen? Vielleicht war es gar nicht Gunnar, der sterben sollte.«

Helle blieb die Schinkenwaffel beinahe im Halse stecken. Sie dachte an die herausgeschälten Augäpfel und schüttelte den Kopf. »Das ist ausgeschlossen. Sehr sicher.«

Lisbeth starrte sie an. Helle war klar, dass sie irgendeine Information rausrücken musste. Die Sekretärin war auf der Hut. Ohne Gegenleistung würde sie nicht mehr aus ihr herausbekommen.

»Weißt du, Lisbeth, das ist der Grund, warum ich ein bisschen neugierig bin. Die Jungs aus Kopenhagen kennen Gunnar nicht. Aber ich kenne ihn. Ein wenig jedenfalls. Nicht so gut wie du.« Sie legte die Waffel zur Seite, was ihr nicht leichtfiel, nahm einen Schluck Kaffee und beugte sich dann zu Lisbeth. »Gunnar wurde gefoltert. Wie, das darf ich dir nicht sagen. Aber es ist anzunehmen, dass Gunnar gemeint war.«

Selbst unter der starken Schminke konnte Helle sehen, wie Lisbeth blass wurde. Der Mund blieb offen stehen, und sie nickte ganz leicht.

»Wir sind uns bestimmt einig«, fuhr Helle fort, »dass Gunnar kein Charakter war, den man hassen konnte. Und wir können uns beide nicht vorstellen, dass er in seinem Leben jemals etwas so Schreckliches getan haben soll, das diese Art des Todes provozieren würde.«

Lisbeth klappte den Mund auf und zu, beschränkte sich dann aber darauf, gehorsam zu nicken. Helle machte eine dramatische Pause und guckte Lisbeth herausfordernd an.

»Ah, deshalb …« Lisbeth schluckte.

Helle zog nur eine Augenbraue hoch, sie kaute auf dem letzten Bissen ihrer Schinkenwaffel.

»Sie stellen unmögliche Fragen, weißt du.« Erneut traten Tränen in Lisbeths Augenwinkel. Sie angelte ein Taschentuch aus ihrer überdimensionierten Handtasche, und während sie sich damit die Augen trocken tupfte, erzählte sie. »Sie fragen, wie Gunnars Verhältnis zu den Kindern war. Und wenn man sagt: gut, dann fragen sie: wie gut?« Sie sah Helle wieder direkt ins Gesicht. »Weißt du, was ich meine? Weißt du, was sie ihm unterstellen wollen? Ein alter Mann, keine leiblichen Kinder, zerrüttete Ehe … na ja, was soll ich sagen.«

»Was denkst du denn darüber?« Der Verdacht lag nahe, das hatte Helle von Anfang an gedacht, als sie gehört hatte, wie Gunnars Leiche inszeniert worden war. Das Kinderkarussell, der kandierte Apfel. Es war, als wolle der Mörder oder die Mörderin darauf aufmerksam machen, schaut her, ein Pädophiler. Aber Helles Bauchgefühl sagte ihr, dass das eine Sackgasse war. Gunnar und Kinder? Nein. Niemals. Nicht sexuell.

»Das ist totaler Bullshit, weißt du. Zwanzig Jahre, Tür an Tür. Ich hätte es bemerkt, wenn er die Kinder irgendwie angesehen hätte. Oder mit einem allein sein wollte. Oder sie komisch angefasst hätte. Aber nichts davon war der Fall. Gunnar war …« Lisbeth überlegte und schob dabei die Zungenspitze von einer Seite des Mundwinkels zur anderen. »… total unkörperlich.«

Sie schnäuzte sich, und Helle dachte nach. Unkörperlich. Das genau war es. Das war, was sie im Haus der Larsens wahrgenommen hatte, als sie Matilde Larsen die Nachricht vom Tod ihres Mannes überbracht hatte. Gunnar war wie ein Geist. Nicht zu greifen. Es hatte nicht einmal nach ihm gerochen.

Ihre Gedanken wurden von Lisbeth unterbrochen. »Ich weiß, die Ehe war kaputt. Aber ich hatte eher den Eindruck, als ob es Gunnar entweder gleichgültig oder sogar ganz recht war. Er war ganz einfach nicht emotional. Oder liebevoll. Und trotzdem war er ein guter Mensch.« Lisbeth suchte nach Worten. »Er war so total moralisch. Er hat sich an das gehalten, was korrekt war. Verstehst du?« Ihr Blick war flehend. »Da passt es doch nicht, dass sich jemand Kinderpornos anguckt oder seine Schüler verführt!«

Helle schwieg. Einerseits gab sie Lisbeth recht. Andererseits – sie war Polizistin. Und hatte schon einiges gesehen, was sie nicht für möglich gehalten hätte. Trotzdem.

»Es gibt natürlich Gerede. Unter den Lehrern. Irgendwann wird es zu den Schülern und den Eltern durchsickern. Ich darf gar nicht daran denken, was dann passiert.« Jetzt fing Lisbeth wirklich an zu weinen. Sie schluchzte haltlos. Die anderen Gäste und die Bedienung guckten mitleidig zu ihrem Tisch hinüber.

Helle fummelte ein Taschentuch aus ihrem Anorak und reichte es Lisbeth über den Tisch.

»Also okay, in die Richtung gehen die Ermittlungen also.«

Lisbeth guckte überrascht auf. »Aber weißt du das denn nicht? Wieso bist du nicht informiert?« Ihre Skepsis kehrte zurück.

»Weil die aus Kopenhagen ihr eigenes Süppchen kochen, deshalb.« Helle kaute auf ihrer Unterlippe herum und überlegte, wie es ihr gelingen konnte, sich Lisbeths Solidarität zu erhalten und die Kollegen aus Kopenhagen trotzdem nicht schlechtzumachen. »Natürlich haben die ganz andere Mittel, weißt du. Haben Zugriff auf internationale Daten und so. Wir sind ja in Skagen nur eine kleine Polizeistation. Das weißt du ja von Marianne.«

»Verstehe.« Lisbeth nickte. »Aber ich rede lieber mit dir als mit den arroganten Typen.«

Helle winkte der Bedienung wegen der Rechnung. Dann schob sie Lisbeth ihre Visitenkarte zu. »Du kannst mich jederzeit anrufen.« Im Stillen hoffte sie, dass Lisbeth gerade das nicht tat, sondern nur, wenn ihr etwas wirklich Wichtiges einfiel, aber Helle hatte im Lauf ihres Berufslebens gelernt, dass dieser Satz wahre Wunder wirkte. Die Leute fühlten sich wichtig, wenn sie einen direkten Draht zur Hauptkommissarin hatten, und waren eher bereit, ihr Wissen zu teilen.

»Noch eine Frage habe ich.«

Lisbeth drehte die Visitenkarte in ihren sorgfältig manikürten Händen und nickte brav wie eine aufmerksame Musterschülerin.

»Kannst du dir vorstellen, dass irgendjemand Gunnar in dieser Hinsicht verleumdet hat? Jemand von den Schülern oder aus dem Kollegium.«

»Nach seinem Tod? Das ergibt doch gar keinen Sinn! Wenn man Gunnar schaden wollte, dann hätte man das doch getan, solange er Direktor war.« Lisbeth war empört. »Nein, also wirklich. Auf die Sache mit den Kinderpornos müssen die schon selbst gekommen sein.«

»Ich möchte wirklich wissen, wie Sören und seine Truppe auf dieses schmale Brett kommen, dass Gunnar ein Pädophiler war«, sagte Helle ein paar Stunden später nachdenklich und drehte ihr Weinglas in den Händen. Es war erst sechs Uhr, zu früh für Wein, aber sie war seit so vielen Stunden auf den Beinen, und außerdem war es seit einer Stunde stockfinster, deshalb hatte sie das Gefühl, dass die Zeit für Alkohol genau richtig war. »Sie haben seinen Computer beschlagnahmt. Das hat mir Lisbeth erzählt, und sie weiß es von Gunnars Frau Matilde.«

Bengt hob die gusseiserne Pfanne mit den Bratkartoffeln über der Gasflamme und schwenkte sie ein paar Mal mit Schmackes hin und her, sodass die Kartoffelscheiben hoch in die Luft flogen, um dann wieder sicher im Öl zu landen. Helle bewunderte sein Geschick und seine Kraft – wenn sie sich an dem Kunststück versuchte, bekam sie Schmerzen in den Handgelenken von der schweren Pfanne und die Hälfte der Kartoffeln landete auf dem Herd.

Beim Anblick der goldgelben Scheiben lief ihr das Wasser im Mund zusammen. Die Bratkartoffeln waren noch nicht perfekt knusprig, dufteten aber verführerisch, so wie das Champagnerkraut, das schon länger auf dem Herd köchelte.

Helle hatte das erste Glas Lugana zu hastig geleert, das spürte sie nun in Kopf und Beinen. Außerdem hatte sie schrecklichen Hunger, die Schinkenwaffel war längst verdaut, und ihr Magen meldete großes Verlangen nach Nahrung. Aber sie musste sich gedulden und pickte einstweilen nur in dem grünen Salat herum, den Bengt schon auf den Tresen gestellt hatte. Sie liebte es, von ihrem Barhocker aus ihrem Mann beim Kochen zuzusehen.

Sie waren sich damals, als sie das Haus zusammen mit Nikolas planten, einig gewesen, dass sie unbedingt eine große offene Küche wollten, und hatten es nie bereut. Die Küche war Dreh- und Angelpunkt des Hauses. Bengt tat nichts anderes, als zu kochen, zu backen, zu marinieren oder zu fermentieren, sobald er von seinem Job nach Hause kam. Es war sein Hobby, aber auch seine Art, mit all dem, mit dem er täglich als Streetworker zu tun hatte, fertig zu werden. Er sagte selbst, dass er nur in der Küche völlig bei sich war und alles vergessen konnte. Niemand hinderte ihn daran, die Familie hatte schon immer davon profitiert.

»Wieso bist du so sicher, dass Gunnar nicht irgendwelches Zeug auf dem Computer hatte?« Bengt drehte ihr den Rücken zu und hantierte mit Topf und Pfanne.

»Sicher bin ich mir über gar nichts. Aber meine Erfahrung sagt mir, dass er kein Pädophiler war.«

»Gunnar? Never.« Leif kam von draußen herein und brachte einen Schwall eisiger Luft mit.

»Mach sofort die Tür zu! Bist du irre?« Helle wedelte in Richtung des Windfangs, dessen Tür zum Wohnraum sperrangelweit offen stand.

»Hallo, Mama, hab dich auch lieb.« Ihr Sohn kam zu ihr und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. Dann schielte er in Richtung Herd. »Was gibt’s?«

»Du bist nicht eingeplant, tut mir leid.« Bengt holte zwei vorgewärmte Teller aus der Wärmeschublade des Herds, der aussah, als entstamme er der Küche eines viktorianischen Herrenhauses, tatsächlich war er aber ein moderner Gasherd zum Preis eines Einfamilienhauses. Helles Erbe war seinerzeit für den Hausbau draufgegangen, Bengt hatte darauf bestanden, den Herd beizusteuern, und dafür einen Kredit aufgenommen. Zehn Jahre hatte er abbezahlt, seit kurzem gehörte das Monstrum nun zur Gänze ihm.

»Ach komm schon, wir können uns deine Portion teilen.« Leif grinste und zwickte Helle in die Seite. »Keine Angst, Mama, dir isst keiner was weg.«

Beide Männer kicherten, und Helle sah beschämt an sich herab. Es stimmte leider, sie war der Fresssack der Familie, und obwohl Bengt ihr in Sachen Bauch den Rang ablief, hatte ihr gieriger Nahrungskonsum nach der Geburt der zwei Kinder Spuren hinterlassen. Die Hose schloss nur noch unter dem Bauchwulst, und das Wort Taille konnte sie schon lange nicht mehr buchstabieren. Helle gab ihrem Mann die Schuld daran, dass sie etwas aus dem Leim gegangen war, tatsächlich aber wusste sie, dass Essen, Trinken und Schlafen so ziemlich das Einzige war, was ihr richtig Freude machen konnte. Und mit Emil spazieren gehen natürlich. Was man selbst mit gutem Willen nicht als sportliche Betätigung bezeichnen konnte.

Während Bengt noch einen weiteren Teller für Leif bereitstellte, um dann drei Mal Bratkartoffeln und Kraut anzurichten sowie für sich und Helle frische Nordseekrabben darüberzustreuen, ging Helle mit ihrem Weinglas zu dem großen Mischling, der in seinem Körbchen lag und laut schnarchte. Obwohl er sich im Tiefschlaf zu befinden schien, pochte sein Schwanz ein paar Mal mechanisch auf und ab, als Helle sich ihm näherte, als sei er ferngesteuert. Zärtlich strich sie ihm über die weiche Schnauze, die nun immer grauer wurde. Emil war elf Jahre alt und hatte seit einiger Zeit Leberkrebs. Helle konnte ihren Liebling kaum mehr ansehen, ohne in Tränen auszubrechen. In ihren Vorstellungen musste Emil mindestens sechzehn Jahre alt werden – utopisch für einen Hund seiner Größe, auch ohne Krebs.

Jetzt öffnete er ein Auge, sah sie freundlich an und leckte mit seiner warmen Zunge ihre Hand ab. »Gleich gibt’s ein paar Bratkartoffeln, mein Schatz«, flüsterte Helle, gab dem Hund einen Kuss auf die Nase und ging wieder zum Tresen, auf dem Mann und Sohn mittlerweile gedeckt hatten.

»Wir müssen das Thema wechseln.« Helle goss sich noch einmal Wein ein, gegen jede Vernunft. »Ich darf mit euch gar nicht über den Fall reden.«

»Tun wir doch auch nicht.« Leif nahm sich ebenfalls ein Glas Weißwein, was Helle nicht gerne sah. Klar, er war siebzehn, auch sie hatte in dem Alter schon Alkohol getrunken, aber sie konnte sich einfach nicht an den Anblick gewöhnen. Er war immer noch ihr kleiner Junge. »Wir reden über Gunnar. Du musst ja nichts von deinen Ermittlungen preisgeben.«

Helle schnaubte. »Von wegen meine Ermittlungen.«

»Tadaaa!« Bengt ging mit den Tellern dazwischen und stellte jedem einen vor die Nase. Es roch köstlich, Helle konnte sich kaum beherrschen, nicht sofort darüber herzufallen. Aber das hätte ihren Mann beleidigt. Zwar erwartete er, dass allen schmeckte, was er zauberte, aber schlingen oder schaufeln war in seinen Augen ein Frevel an seiner Kochkunst. Deshalb hob Bengt zunächst sein Glas, sah Helle und Leif feierlich in die Augen und wünschte guten Appetit, dann wurde angestoßen.

»Was ist mit Gunnar passiert?«, erkundigte sich Leif nach den ersten Bissen. »Alle tun furchtbar geheimnisvoll.«

»Ich rede nicht darüber.«

»Es heißt in der Schule, die Polizei hat ihn wegen Kinderpornos in Verdacht.«

»Was an sich schon Quatsch ist«, gab Helle mit vollem Mund zurück. »Warum soll man das Opfer im Verdacht haben?«

Leif zuckte mit den Schultern. »Jetzt sag schon.«

»Ich glaube nicht daran.« Helle warf einen Blick zu Bengt. »Wie ist das in der Szene, hm?«

Bengt war Sozialarbeiter und arbeitete in Fredrikshavn mit Kindern und Jugendlichen, die in Not geraten waren. Er war als Streetworker unterwegs, und selbst in der kleinen Stadt – Fredrikshavn hatte etwas mehr als 20000 Einwohner – sah er einiges, was ihm den Glauben an die Menschheit hätte austreiben können.

Jetzt nahm er einen großen Schluck Wein, schloss genüsslich die Augen und schüttelte dann den Kopf. »Ich habe keine Ahnung, wie viele Leute sich Kinderpornos reinziehen. Aber es kommt natürlich vor, viel häufiger, als wir uns das vorstellen wollen, auch in unserer kleinen Stadt. Missbrauch allerdings geschieht fast ausschließlich im häuslichen Umfeld. Dass Gunnar sich seinen Schülern irgendwie unsittlich genähert hätte, das wäre sicher nicht unbemerkt geblieben. Nicht über diese lange Zeit.«

»Er war total überkorrekt!« Leif pickte mit der Gabel in der Rechten Bratkartoffeln auf, während er mit dem linken Daumen rasend schnell eine Nachricht in sein Smartphone tippte. Trotzdem gelang es ihm, der Unterhaltung zu folgen und sich daran zu beteiligen. Helle bewunderte die Multitasking-Fähigkeit der Jugendlichen. Sie kam sich vor wie ein digitaler Dinosaurier.

»Gunnar war stocksteif, aber voll korrekt. Ich glaube auch, Papa hat recht. Wäre Gunnar ein Grabscher gewesen, hätte man das gewusst«, fuhr Leif fort. »Aber wieso ermittelt ihr dann in diese Richtung?«

»Ich ermittle gar nicht.« Helle hatte ihren Teller schon wieder halbleer gegessen, als Erste in der Runde. Rasch legte sie ihr Besteck zur Seite, um sich selbst zu disziplinieren. »Das ist Sache der Kopenhagener.«

Bengt und Leif wechselten einen Blick.

»Wieso hast du dich dann heute im Rosi’s mit Lisbeth getroffen?« Leif grinste breit.

Helle öffnete den Mund, um sich zu verteidigen, klappte ihn dann aber wieder zu. Sie hatte nicht bemerkt, dass Leif sie gesehen hatte. Zu blöd. Wer hatte sie dann noch alles im Gespräch mit Lisbeth beobachtet?

»Ich bin ein bisschen neugierig. So what

Ihre Männer lachten. Sie kannten sie zu gut und wussten, dass Helle sich nicht einfach in die Ecke stellen lassen würde. Nicht, wenn es sich um ihren ersten Mordfall handeln könnte.

Wenig später lag Helle mit sich drehendem Kopf und vollem Magen im Bett. Sie war todmüde, ihr Körper wie zerschlagen, aber ihre Gedanken jagten einander, und Helle wusste, dass ihr wieder eine weitgehend schlaflose Nacht bevorstehen würde. Bengt dagegen atmete schon tief und gleichmäßig, die Augen hatte er geschlossen, und es würde nur wenige Minuten dauern, bis sie sein Schnarchen hörte.

Jetzt drehte er sich zu ihr, schob seine Hand unter ihre Decke und legte sie auf ihren Bauch. Helle griff dankbar danach. Bengt hatte Wunderhände. Sie waren immer warm, weich, und sie strahlten. Wenn Bengt eine seiner Hände auf ihren Körper legte, entspannte sie sich sofort. So auch jetzt, sie atmete augenblicklich in den Bauch, ruhiger und tiefer.

»Verbrenn dir nicht die Finger«, murmelte Bengt, schon im Halbschlaf.

»Wie meinst du das?«

»Du sollst diesem Sören nicht in die Quere kommen. Du bekommst Ärger, wenn du auf eigene Faust ermittelst.«

»Tu ich nicht. Ich höre mich nur um. Und trage konstruktiv zu den Ermittlungen bei. Du kennst mich.«

»Eben drum.« Bengts Finger zwickten sie sanft in die Speckrolle. »Du bist unterfordert, da, wo du bist.«

»Quatsch. Ich liebe meinen Job«, widersprach Helle, wusste aber, dass ihr Mann recht hatte. Deshalb hatte sie Sörens Bemerkung mit den Falschparkern und Ladendieben auch so getroffen. Weil er recht hatte.

Bengt seufzte. »Gute Nacht.«

Helle drehte sich zu ihm, kraulte seinen roten Wikingerbart und gab ihm einen Kuss. »Good night.«

Bengt drehte sich zufrieden auf die andere Seite und kuschelte sich in seine Decke.

»Wir müssen uns um Jan-Cristofer ein bisschen kümmern«, fiel Helle jetzt ein. »Ich mache mir Sorgen.«

»Warum?« Bengt hatte schon fast geschlafen.

»Ich glaube, er säuft.«

Bengt erwiderte nichts, und Helle glaubte, dass er sie nicht mehr gehört hatte. Mit einiger Verzögerung kam doch eine Antwort.

»Tun wir auch.«

Kurz darauf schnarchte ihr Mann, und Helle starrte an die Decke. Ihre Gedanken waren von ihrem Alkoholkonsum zu ihrem Freund und Kollegen gewandert, um dann doch wieder beim Mord an dem ehemaligen Gymnasialdirektor zu landen.

Gunnar, dachte sie, warum du?

Helle und der Tote im Tivoli

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