Читать книгу Helle und der Tote im Tivoli - Judith Arendt - Страница 7

Skagen, 12.30 Uhr

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Die Polizeistation von Skagen lag an der Ausfallstraße nach Fredrikshavn. Ein flacher Bungalow aus den Sechzigern, der Linoleumboden grün wie Galle. Kleine Räume links und rechts des geraden Gangs, der vom Eingang zur Arrestzelle führte. Vor zehn Jahren hatte Helle eine zusätzliche Wand einziehen lassen, damit nicht jeder, der zu Besuch kam, gleich in den Gang stürmte, sondern von Marianne, die über den so geschaffenen Empfangstresen herrschte, aufgehalten wurde.

Eine Maßnahme, die nicht unbedingt notwendig gewesen war, aber allen ein Gefühl der Struktur und Wertigkeit gab.

Marianne war der Filter, an dem die Bagatelldelikte – Beschwerden über Lärmbelästigung, das Laub des Nachbarn oder falsch parkende Touristenautos – aufbrandeten und nur das wirklich Wichtige weitergeleitet wurde. Einfache Diebstähle, betrunkene Jugendliche oder verbale Beleidigungen durften sich die ersten beiden Zimmer links und rechts des Gangs teilen. In dem einen saßen Ole, Helles politisches Sorgenkind, und Amira, erstes Ausbildungsjahr. Jan-Cristofer, der bereits mehrere Jahre auf dem Buckel hatte und mit Helle seit ihren gemeinsamen Anfangsjahren Dienst schob, saß in dem Kabuff gegenüber. Zwei Schritte weiter auf dem gallegrünen Flur waren die Toiletten und erst danach das Chefzimmer von Helle links, die Arrestzelle rechts.

Keine Kaffeeküche. Kein Archiv. Kein separater Raum für Verhöre.

Alte Akten stapelten sich überall, wo auch nur ein Zentimeter Platz war. Oder wo Marianne Platz schuf. Tag für Tag räumte sie beständig Papierstapel von hier nach dort. Von ihrem Tisch in das Billy-Regal neben der Wartebank am Eingang. Vom Regal in das Zimmer von Ole und Amira. Hier nahm sie ein paar Ordner, »K-P 1986« oder »Anträge 1974«, um sie bei Jan-Cristofer oder Helle zu verstauen. Was dort keinen Platz mehr fand, wurde geschreddert oder nach Fredrikshavn gebracht.

Verhöre – oder Befragungen, wie Helle es lieber nannte – wurden in den Dienstzimmern geführt. Oder bei einer Zigarette im Garten. Was so Garten genannt wurde. Ein Grünstreifen rund um den Bungalow, drei weiße Plastikstühle und ein Aschenbecher aus Beton.

Kaffeeküche wozu?

Marianne brachte ihre Thermoskanne mit. Damit versorgte sie Ole und Jan-Cristofer, Amira trank Tee, den sie sich mit ihrem Wasserkocher zubereitete. Helle hatte einen Porzellanfilter und goss per Hand auf. Wer Kaffee trinken wollte, musste sich eine abgespülte Tasse aus der Toilette holen, dort stapelte Marianne sie nach dem Abspülen auf dem karierten Geschirrhandtuch auf der Ablage unter dem Spiegel.

Helle goss zum dritten Mal heißes Wasser in den Filter mit dem Kaffeepulver. Sie mochte diese Art der Zubereitung, die Zeit, Sorgfalt und Aufmerksamkeit erforderte, viel lieber als die komplizierte Bedienung des »Biests«, wie sie die monströse italienische Gaggia-Kaffeemaschine zu Hause nannten.

Der Duft des frisch gebrühten Kaffees erfüllte den kleinen Raum und verdrängte den Geruch von altem Papier, das sich an den Wänden stapelte, dem Fisherman’s-Friend-Bonbon, das Jan-Cristofer lutschte, damit niemand roch, dass er noch immer eine Fahne hatte, und dem blumigen Parfum Mariannes.

Helle beobachtete, wie das Wasser am Rand des Filterpapiers schäumte und dann langsam durch das Kaffeepulver sickerte, bis nur noch eine dunkle lehmige Masse zurückblieb, die sie irgendwann am Abend, nach Feierabend, auf dem Grünstreifen verteilen würde.

Als der letzte Tropfen versickert und in der Kanne gelandet war, setzte Helle den Filter behutsam ab, nahm die Kaffeekanne und drehte sich um. Vier Gesichter blickten ihr erwartungsvoll entgegen.

Mord. Kaum einer ihrer Leute hatte das hier bisher erlebt. Hier in Skagen. Einzig für Helle und Jan-Cristofer war es in ihrer langen Berufslaufbahn nicht das erste Mal, dass sie mit gewaltsam zu Tode gebrachten Menschen konfrontiert wurden. Helle hatte Selbstmörder gesehen, Drogenopfer, aber auch – angefangen mit dem kleinen Mädchen – Tote, die durch Gewalt anderer gestorben waren. Wie auch der Junge auf dem Frühlingsfest. Aber nichts war auch nur annähernd so makaber gewesen wie die Art des Todes von Gunnar Larsen. Das war weit entfernt von Routine, und Helle ahnte, dass es in den kommenden Tagen und Wochen aufregend werden würde – für sie alle.

»Mord. In Skagen!« Ole hibbelte auf seinem Stuhl herum. Der junge Beamte hatte ein unbestimmtes Glitzern in den Augen, guckte aufgeregt von Helle zu seinen Kollegen und konnte nicht still sitzen.

»Genau genommen nicht in Skagen, Ole.« Helle goss ihm Kaffee in den Becher und verkniff sich zu erwähnen, dass es sich um einen ganz besonders guten Kaffee handelte, Sina hatte ihn ihr geschickt, von »Riccos« in Vesterbro.

»Holy shit, ausgerechnet Gunnar!« Ole schien gar nicht gehört zu haben, was sie gesagt hatte, und Helle nahm sich vor, den Jungen im Auge zu behalten. Vermutlich sah er sich schon in Kopenhagen bei der Mordkommission, und so fleißig Ole auch war, Aktionismus würde ihnen in diesem Fall nicht gut bekommen.

Amira legte eine Hand über ihre Tasse und schüttelte lächelnd den Kopf, als Helle ihr Kaffee anbot.

»Gunnar wurde im Tivoli ermordet. Und der befindet sich noch immer in Kopenhagen, Ole. Du darfst mich gerne eines Besseren belehren.«

Jan-Cristofer hielt ihr seinen Becher hin, die Hand zitterte leicht.

»Dementsprechend ist es der Fall von Sören und seinen Leuten«, fuhr Helle unbeirrt fort. »Wir sind lediglich um Amtshilfe gebeten worden.« Nicht einmal das, fügte sie insgeheim hinzu. Dieser Gudmund hatte sie losgeschickt wie eine Streifenpolizistin.

»Was ist denn nun wirklich passiert?« Marianne saß aufgerichtet, das Kreuz durchgedrückt, der ausladende Busen wies nach vorne oben, und sie führte ihre Kaffeetasse grazil zum gespitzten Mund, der kleine Finger weit abgespreizt.

Helle nickte dankend. Eigentlich wusste Marianne als Einzige außer ihr, was mit Gunnar Larsen geschehen war, weil sie den Bericht von Sören ausgedruckt und selbstverständlich sofort gelesen hatte. Aber sie tat alles, um ihrer Chefin zur Seite zu springen. Helle schätzte ihre Treue und Umsichtigkeit sehr.

»Zwei Wachmänner haben heute Nacht gegen drei Uhr das Geräusch eines Fahrgeschäftes gehört. Es hat sich herausgestellt, dass eines der Karusselle in Betrieb war …«

»Welches?« Ole wieder. Atemlos.

»Galejen.«

Jan-Cristofer sog scharf die Luft ein. »Ausgerechnet! Damit sind wir mit Markus immer gefahren.« Kurz huschte ein dunkler Schatten über sein Gesicht, die Hand mit dem Kaffeebecher zitterte noch stärker.

»Es stellte sich heraus, dass in einem der Wagen ein Mann saß«, fuhr Helle fort, ohne auf den Kommentar einzugehen. »Gunnar. Er war tot. In seinem Mund steckte ein kandierter Apfel. Aber daran ist er nicht gestorben. Er hat einen Herzstillstand erlitten. Der Gerichtsmediziner mutmaßt – aber das ist noch nicht belegt –, dass sein Herz stehen geblieben ist, weil ihm jemand bei lebendigem Leib die Augäpfel aus den Höhlen geschält hat.«

Marianne ließ die Kaffeetasse langsam sinken und beobachtete gespannt die Reaktion ihrer Kollegen.

Amira zog lediglich die Brauen zusammen und Jan-Cristofers Gesicht nahm die Farbe des Linoleumbodens an.

Ole war nun nicht mehr zu halten. Er sprang von seinem Stuhl auf, die schwarze Flüssigkeit schwappte aus seinem Becher auf den Boden, aber das bemerkte er gar nicht. »Fuck! Wow!« In seinem Gesicht wechselte sich Abscheu mit Faszination ab, Ekel mit Neugier.

»Ole, bitte. Das ist nicht angemessen.«

»Ja, klar. Sorry. Aber … ich meine, so was!« Der große Junge sah seine Kollegen an. »Dass so was echt passiert! Geil.«

Sie schwiegen. Und sahen betreten zu Boden. Ole trat verlegen von einem Bein aufs andere, dann setzte er sich wieder auf seinen Stuhl.

Helle starrte die Kaffeelache zu seinen Füßen an. Sie spürte, wie ihr plötzlich der Schweiß ausbrach, der dicke Strickpullover mit dem engen Ausschnitt bereitete ihr Pein, sie zog am Bündchen, aber es half nicht. Sie hatte das Gefühl, gleich umzukippen, und riss sich den Pulli über den Kopf. Jetzt schauten die Kollegen ihr ins Gesicht, die jüngeren überrascht, Jan-Cristofer mitleidig, Marianne lächelte wissend. Helles Haare standen elektrisch aufgeladen zu Berge, unter ihren Achseln färbte der Schweiß das hellblaue Hemd dunkel.

»Ach verdammt!« Sie riss gereizt das Fenster auf. Zwei tiefe Atemzüge von der eiskalten Winterluft, dann musste es wieder gehen. Resolut drehte sie sich um. »Die Mordkommission unter der Leitung von Sören Gudmund wird sich um den Fall kümmern. Ich glaube nicht, dass sie die Absicht haben, uns mit einzubeziehen …«

»Ich würde das nicht vorschnell ausschließen.«

Er stand ganz plötzlich in der Tür. Helle hatte nicht gehört, dass er die Polizeistation betreten hatte. Kein Rufen, kein Klopfen, keine Schritte auf dem Gang.

Vorstellen musste er sich nicht. Sie wusste auf den ersten Blick, dass der Leiter der Mordkommission Kopenhagen vor ihr stand. So groß wie sie, oder vielmehr genau so klein. Drahtig. Eine Figur wie ein Rennradfahrer. Durchtrainiert, das sah sie durch den eleganten leichten Mantel. Grauer Bürstenhaarschnitt. Eisblaue Augen mit stecknadelkopfkleinen Pupillen. Das Kinn schob er vor und blickte ihr direkt in die Augen.

Automatisch wanderte Helles Hand zu ihren Haaren, obwohl sie wusste, dass sie nichts mehr ausrichten konnte. Vorne klebten sie an der feuchten Stirn, der Rest lag von ihrer Wollmütze plattgedrückt am Kopf, nur oben, da standen sie noch immer elektrisch in die Höhe. Ihre Hand zuckte zurück, auch weil sie die Arme doch lieber an den Körper presste, um der Schweißflecken willen.

Sören verzog den Mund. Verdammt, sollte das ein Lächeln sein?

Hinter ihm erschien ein weiterer Mann. Groß, ebenfalls durchtrainiert, mit schwarzer Lederjacke und Schlägervisage.

»Das ist mein Kollege, Hauptkommissar Ricky Olsen.« Gudmund wandte den Blick nicht von ihr ab, und Helle spürte, wie ihr erneut der Schweiß ausbrach. An der Innenseite der Oberschenkel klebte die Stoffhose an der Haut, es juckte. Seit einiger Zeit probierte Helle es dort mit Rasieren, in der Hoffnung, dass sie dann weniger schwitzen würde, aber das machte alles nur noch schlimmer, es hatten sich Pusteln in der Leiste gebildet. Manchmal erwischte sich Helle dabei, wie sie dort kratzte, unanständig, wie ein Mann, der sich nicht beherrschen konnte.

»Und das hier«, Sörens Kinn zuckte kurz zu Helle, »ist die Polizistin vor Ort. Helle Jespers.«

»Hauptkommissarin Jespers.« Helle stemmte sich vom Schreibtisch ab und streckte den Arm in Richtung ihrer Kollegen aus der Hauptstadt. Aber keiner der beiden machte Anstalten, ihre Hand zu ergreifen. Der Riese hinter dem Kleinen tippte sich nur grüßend an die Stirn.

Helle versuchte, die Unhöflichkeit zu ignorieren. »Und das hier sind meine Mitarbeiter …«

»Ich warte noch immer auf deinen Bericht«, fiel Sören ihr ins Wort. »Meinen hast du vor drei Stunden bekommen, also …?«

»Ich bin noch nicht dazu gekommen.«

Warum rechtfertigte sie sich? Helle war wütend, aber statt ihre Wut an dem auszulassen, der sie hervorgerufen hatte, machte sie sich klein. Typisches Verhaltensmuster, so war es mit ihrem Vater schon gewesen. Das hatte sie jahrelang mit ihrer Therapeutin besprochen. Hatte versucht, das Muster zu durchbrechen, aber dann rutschte sie doch wieder hinein. Gerade jetzt. Zeig’s ihm, Helle, lass dich nicht ins Bockshorn jagen. »Du hast ihn in einer halben Stunde. Wir machen erst einmal eine Lagebesprechung.«

Die rechte Augenbraue des Leiters der Mordkommission wanderte steil nach oben. »Also gut. Halbe Stunde.« Er sah auf seine Uhr. Apple Watch. »In der Zwischenzeit bin ich bei der Witwe. Meine Leute sind schon dort und sehen sich um. Ich nehme an, du hast dort jemanden abgestellt?«

Helle guckte fragend zu Marianne. Die biss sich auf die Lippe, bevor sie zögernd antwortete. »Ich habe Matilde eine halbe Valium gegeben, damit sie schlafen kann. Und die Nachbarin gebeten, bei ihr zu bleiben.«

Der lange Typ formulierte stumm das Wort »Provinz«.

»Matilde Larsen ist ja wohl nicht dringend tatverdächtig, es besteht auch keine Fluchtgefahr, also habe ich keinerlei Veranlassung gehabt, sie unter Bewachung zu stellen.« Helle ergriff die Flucht nach vorn, obwohl sie wusste, dass da eine Wand war. Eine massive Wand aus Beton, mit eisblauem Blick und grauem Haar.

»Wir unterhalten uns später über deine Do’s and Don’ts.«

Sören Gudmund drehte ab und verließ hinter seinem Bodyguard das Zimmer. Erst, als das Klackern seiner Lederschuhe verklungen war – warum hatten sie das Geräusch beim Hereinkommen eigentlich nicht gehört, fragte Helle sich –, wagten sie es, Luft zu holen.

»Haben die keinen Winter im verdammten Kopenhagen?«, brach Jan-Cristofer das angespannte Schweigen.

Amira kicherte. »Habt ihr das gesehen? Diese Lederschühchen.«

»Keine Mütze, kein Anorak, keine Handschuhe.« Jan-Cristofer kam richtig in Fahrt. »Die sitzen wohl nur in ihrem Büro, da unten bei der Mordkommission.«

»Das war die Mordkommission?« Ole schien sich nicht lustig machen zu wollen. »Cool.«

»Am Arsch.« Jan-Cristofer schenkte sich mit zitternden Händen Kaffee nach. Helle nahm sich vor, heute Abend mit Bengt über ihn zu reden. Er war ein Freund der Familie, sie sollten etwas tun. Laut sagte sie: »Wir machen weiter, wo wir stehen geblieben sind. Marianne erzählt uns, was wir im Archiv über Gunnar haben.«

»Nicht, bevor ich die Zimtschnecken geholt habe.« Marianne erhob sich mit leichtem Ächzen. »Sonst ist mir von diesem Auftritt den ganzen Tag lang schlecht.«

Helle brauchte zehn Minuten für den Bericht. Aus Verärgerung unterschlug sie, dass Matilde sich selbst bezichtigt hatte. Helle formulierte es vorsichtiger: »… gab sich die Ehefrau des Verstorbenen die Schuld an seinem Tod, weil sie sich emotional bereits aus der Ehe verabschiedet hatte. Die Befragte ging dabei von einem möglichen Suizid ihres Mannes aus.« Nicht gelogen, aber eben nur die halbe Wahrheit.

Rasch überflog Helle die Dreiviertelseite, bevor sie auf Senden klickte. Mehr war über ihren Besuch bei Matilde nicht zu sagen. Mehr hatte Sören Gudmund auch nicht von ihr verlangt, also bitte.

Der Ton der abgesandten Mail war kaum verklungen, da spürte Helle, wie sich bleierne Müdigkeit ihrer bemächtigte. Es war kurz vor eins, Mittagszeit. Seit wie vielen Stunden war sie wach? Achteinhalb? Eine Zimtschnecke im Magen, den Pfannkuchen von heute Morgen und sehr, sehr viel Kaffee. Sich jetzt hinlegen können. In der bequemen Kuschelhose, mit dicken Socken, eines der Sofakissen auf dem Bauch und drei unter dem Kopf. Helle schloss die Augen und träumte sich nach Hause, in ihr Wohnzimmer. Sie sah das Flackern des Kaminfeuers und roch das Rehgulasch, das Bengt für sie aufwärmen würde. Das Wasser lief ihr im Mund zusammen, sie spürte, wie sie sich augenblicklich entspannte – da vibrierte ihr Handy und zeigte den Eingang einer Nachricht an. »Bericht ok. Komme um 14 Uhr. SG«

Eine Stunde, und wenn sie dann nichts Brauchbares vorzeigen konnte, würde sie nicht den Hauch einer Chance haben, an den Ermittlungen mitzuarbeiten, das wusste Helle. Im Grunde hatte sie sich vorhin schon ins Aus geschossen.

Die Faktenlage war dünn. Über das Opfer, Gunnar Larsen, gab es nichts. Weniger als nichts. Er wurde 1951 in Alborg geboren, als mittleres von drei Kindern. Der Vater Tierarzt, die Mutter Hausfrau. Grundschule, Gymnasium, Lehramtsstudium. Eine bruchlose Laufbahn, kein Auslandsaufenthalt, keine Einträge im Polizeiregister, nicht einmal falsch geparkt hatte Gunnar in seinem ganzen Leben. Matilde hatte er 1978 geheiratet, sie war Kindergärtnerin gewesen. Helle notierte sich ein Fragezeichen, wohl wissend, dass es sie kein bisschen weiterbringen würde.

Die Ehe war kinderlos geblieben. Warum? Wieder ein Fragezeichen. Das könnte schon eher von Bedeutung sein. Hatte Gunnar eventuell Befriedigung außerhalb der Ehe gesucht? Oder Matilde? Laut ihrer Aussage gingen sie bereits länger getrennte Wege. Aber die Tatsache, dass sie noch zusammen in einem Haus wohnten, ließ nicht gerade auf eine total zerrüttete Beziehung schließen. Oder doch? War alles nur Fassade?

Helle schloss die Augen und rief sich ihren ersten Eindruck von der Witwe in Erinnerung, als sie ihr gesagt hatte, dass ihr Mann tot war.

Verwirrt.

Aufgelöst.

Schuldbewusst.

Hysterisch.

Keine tiefe emotionale Erschütterung, keine Wärme oder Liebe. Sie würde noch einmal mit Matilde sprechen müssen, dieser Frau, die auf den ersten Blick ebenso blass erschien wie ihr Mann farblos. Trotzdem hatte Helle geglaubt, eine Kraft und Zähigkeit in dieser Person zu spüren, der sie auf den Grund gehen wollte.

Sie las noch einmal lustlos Gunnars Lebenslauf, so wie Marianne ihn in der Kürze der Zeit rekonstruiert hatte, aber da war nichts, was ihre Aufmerksamkeit erregte.

Nichts, was die Folter, die Gunnar über sich hatte ergehen lassen müssen, erklärte.

Im vorläufigen Bericht über den Zustand des Toten, den Sören ihr geschickt hatte, stand, dass Gunnar tadellos gekleidet war, lediglich auf seinem Wintermantel waren Blutspuren. Sein eigenes Blut, wenig verwunderlich, wenn man daran dachte, was ihm angetan worden war. Seine Hände waren mit Gaffa-Tape hinter dem Rücken gefesselt worden.

Der Aussage eines der Wachmänner entnahm Helle, dass er Schritte gehört hatte, kurz bevor sie den Toten im Karussell aufgefunden hatten. Der oder die Mörder? Ein Zeuge?

Helle grübelte, wie es möglich war, einen erwachsenen Mann von Gunnars Statur, der zwar sehr schlank gewesen war, aber immerhin mittelgroß, quer durch den Vergnügungspark zu transportieren und in eines der kleinen Wikingerschiffe zu setzen. Ein toter Körper war schwer. Um Gunnar zu tragen, musste man entweder kräftig sein – eine Frau war damit ausgeschlossen – oder nicht allein. Oder man hatte ein Hilfsmittel, wie eine Schubkarre. Die aber hätte das Wachpersonal oder spätestens die Polizei gefunden. Der Wachmann, der die Schritte gehört hatte, war außerdem felsenfest davon überzeugt, lediglich die Schritte einer Person gehört zu haben.

Wenn Gunnar getötet worden war, bevor er in das Karussell gesetzt wurde – wo hatte man ihn dann gefoltert? Er musste mächtig geschrien haben, sollte es im Tivoli geschehen sein, musste es irgendjemand gehört haben. Der Vergnügungspark lag mitten in der Stadt, in der Nähe des Hauptbahnhofs. Die Vesterbrogade lief direkt daran entlang, sie war Tag und Nacht belebt. Fußgänger, Radfahrer, Autos. Irgendjemand musste etwas gehört oder gesehen haben.

Helles müdes Gehirn wachte wieder auf, während sie über dem Fall grübelte. Wie gern wäre sie sofort losgestapft und hätte sich an die Arbeit vor Ort gemacht. Spuren suchen, Leute befragen. Aber diese Art der Kriminalarbeit war vollkommen überholt, von vorgestern. Seit sie Polizistin war, wurde nicht mehr so gearbeitet. Es war keine One-Man-Show und schon gar keine One-Woman-Show, wenn es das überhaupt gegeben hatte. Columbo war der Letzte gewesen, der so gearbeitet hat.

Heute wurden Teams von Tür zu Tür geschickt, um Befragungen durchzuführen. Und die Spurensicherung machte sich an die Arbeit, ausgebildete Kriminaltechniker.

Was also würde für sie zu tun bleiben?

»Nichts.« Sören verzog den Mund zu dem, was er für ein Lächeln hielt, aber es blieb eine Fratze. »Wir haben uns an die Arbeit gemacht, mein Team und ich. Mein Kollege Olsen bleibt heute noch vor Ort. Er wird die Befragungen im Umfeld des Toten weiterführen. Du kannst ungestört deiner Arbeit nachgehen. Falschparker aufschreiben und Ladendiebe überführen.«

Er erhob sich und zog den schmalen Mantel mit einem Ruck vor der Brust zusammen. Helle blieb sitzen und sah zu ihm auf.

»Natürlich, wenn ich deine Hilfe benötige, melde ich mich.«

Ohne ihr die Hand zu geben, machte Sören Gudmund auf dem Absatz kehrt.

»Wie kann ich auf dem Stand der Ermittlungen bleiben?«, wagte Helle einen vorsichtigen Vorstoß.

Gudmund stoppte und tat, als würde er überlegen. »Ich denke, das ist vorerst nicht nötig. Du bekommst einen Abschlussbericht. Das ist doch selbstverständlich. Unter Kollegen.« Er grinste. Dieses Mal sah es echt aus. Echt süffisant. »Bis dahin möchte ich dich bitten, die Füße stillzuhalten. Es sei denn, du erfährst etwas Relevantes. Dann darfst du mich gerne jederzeit kontaktieren.«

Helle wartete wieder, bis das Klappern seiner Absätze verstummt war. Dann erhob sie sich, todmüde, und ging nach vorne zu Mariannes Empfangstresen. Sie schnappte sich vom Teller eine weitere Zimtschnecke, lehnte sich zu Marianne über den Tresen und fragte mit vollem Mund: »Die Sekretärin aus Gunnars Gymnasium – ist die nicht eine Freundin von dir?«

Marianne antwortete mit einem vielsagenden Augenaufschlag, dann legte sie Mittel- und Zeigefinger übereinander und hob sie demonstrativ vor Helles Gesicht. »So!«

Helle nickte und schluckte den Rest des Zimtweckens hinunter. »Ruf sie an und sag ihr, dass ich vorbeikomme. Sie kann schon mal Kaffee aufsetzen.«

Helle hatte ihr Zimmer noch nicht wieder erreicht, da hörte sie, wie Mariannes Fingernägel auf der Telefontastatur klackerten. Helle grinste.

Helle und der Tote im Tivoli

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