Читать книгу Helle und der Tote im Tivoli - Judith Arendt - Страница 8

Kopenhagen, 14.00 Uhr

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Die halbgerauchte Zigarette drückte er mit der Schuhspitze aus und kickte sie in den Schneehaufen neben dem Weg. Da hinten kam die Schulklasse. Lustlos und verfroren, Kinder wie Lehrer. Die Klassenleiterin lief vorneweg, die Mädchen in ihren Parkas mit Pelzkragen oder diesen lustig bunten Daunenjacken hinterher, in kleinen Grüppchen, mit ihren Smartphones beschäftigt. Es folgte der Lehrer, der seine Sporttasche grimmig umklammerte, hinter ihm schlurften die Jungs. Adidas-Sporthosen, Kapuzenpullis, der Blick nach unten gerichtet, Kopfhörer im Ohr.

Sport in der siebten und achten Stunde. Schwimmunterricht im Winter. Bei Temperaturen unter null. Begeisterung sah anders aus.

Er kannte das. Er hatte lange genug Schwimmtraining gegeben. Aber er hatte sie immer begeistern können. Ein paar coole Sprüche, Aufwärmübungen, ein kumpelhafter Knuff hier, ein bisschen Kitzeln, zum Anfang eine Runde Wasserball und dann hatten die Kids ihre schlechte Laune vergessen. Oder nicht?

Er sah zu, dass er vor der Schulklasse ins Bad kam, um nicht aufzufallen. Außerdem konnte er sich dann einen taktisch günstigen Platz in der Umkleide aussuchen. Ganz unauffällig am Rand, aber so, dass er alles sehen konnte. Möglichst alles.

An die Kasse musste er nicht, er hatte eine Jahreskarte, die musste er nur durchziehen. So war es ihm lieber. Wer so oft kam wie er, wurde wiedererkannt. Irgendwann angesprochen. Ein Stammkunde, mit dem man hier und da ein wenig plaudern konnte. Das war nicht in seinem Sinn. Gar nicht.

Drinnen, im Becken, kannten ihn die Bademeister. Das ließ sich nicht vermeiden, aber bei Schwimmern war das nichts Ungewöhnliches. Immer zur gleichen Zeit seine Bahnen schwimmen, mehrmals die Woche. Man war schließlich Sportler und musste im Training bleiben. Außerdem trug er eine Badekappe und Brille. Die Hose wechselte er in regelmäßigen Abständen. Vor allem aber stellte er sich nicht so dumm an wie manch anderer.

Ja, es gab sie. Einige außer ihm. Er erkannte sie sofort. Daran, dass sie am Beckenrand blieben, die Kinder mit fiebrigen Augen verfolgten. Manche stierten ungeniert, gaben sich nicht einmal den Anschein, als seien sie zum Schwimmen in die Halle gekommen.

Er war raffinierter. Zog seine Bahnen. Blieb mit dem Kopf unter Wasser. Was auch seinen Reiz hatte. Manchmal schwamm er hinter einem der Jungen her und sah, wie dieser beim Schwimmen die Beine spreizte.

Aber jetzt stand er in der Umkleide und zog sich aus. Die Badehose hatte er schon an. Langsam und umständlich räumte er seine Sachen in den schmalen Spind und beobachtete aus den Augenwinkeln, wie die Jungs in die Umkleide kamen. Einer setzte sich, eine Armlänge von dort entfernt, wo er stand. Schob sich die Sneakers von den Füßen und pfefferte sie unter die Bank.

Er spürte, wie das Kribbeln kam. Das leichte Zittern von der inneren Anspannung. Die Vorfreude darauf, wenn der Junge sich nach und nach aus den Klamotten schälte. Das Sweatshirt über den Kopf streifen würde, danach das T-Shirt. Er könnte einen Blick auf den Oberkörper riskieren, auf die schmale Brust, den Bizeps, die eckigen Schultern, die zarte haarlose Haut. Manche hatten schon den ersten dunklen Haarstreifen, der sich vom Schritt zum Bauchnabel zog.

Das war nichts für ihn. Dann war es vorbei, er verlor das Interesse. Er mochte sie am liebsten, wenn sie im Dazwischen waren. Keine Kinder mehr und noch keine Männer. Wenn sie blühten. Diese Mischung aus kindlicher Unberührtheit und erotischem Verlangen.

Er sog die Luft scharf ein, und der Junge auf der Bank neben ihm sah kurz zu ihm auf. Rasch steckte er den Kopf in den offenen Spind und tat, als würde er in seinen Sachen nach etwas suchen. Das passierte ihm immer wieder. Er hatte sich nicht immer perfekt unter Kontrolle. Wenn er nicht aufpasste, vermasselte er es. Er sollte zusehen, dass er ins Bad kam, sonst würde man ihn für einen Spanner halten. Die Jungs waren auf der Hut.

Rasch schloss er den Spind, zog sich die Badekappe auf den Kopf, rückte seine Schuhe unter der Bank noch einmal gerade, so konnte er einen Blick auf die Waden des Jungen riskieren – dunkelblonde Haare, sicher waren sie noch weich, wie gerne hätte er sie berührt, einmal darüber gestreichelt. Aber er beherrschte sich, musste sich beherrschen und ging zu den Duschen.

Hier standen zwei ältere Männer. Er zog es deshalb vor, in die Einzelkabine zu gehen. Er genoss den warmen Strahl auf seiner Haut und fasste sich in den Schritt. Das Kribbeln wurde stärker, und er spürte, wie sich sein Penis versteifte. Sofort drehte er das Wasser auf kalt und nahm die Hand weg. Er durfte keine Erektion haben, wenn er durch die Schwimmhalle lief.

Aber er fühlte sich gut, er konnte sich doch kontrollieren, mit seiner Lust spielen.

Die Halle durchquerte er mit gesenktem Blick. Stellte seine Badeschuhe an den Rand und ließ sich schwerfällig ins Wasser gleiten. In die Bahn, die direkt neben der Absperrung für die Schulklassen lag. Die Mädchen waren schon im Wasser. Aber er verschwendete keinen Blick an sie, sie interessierten ihn nicht. Er wartete auf die Jungs. Der Schwimmlehrer kam bereits aus der Dusche und lief zielstrebig zu dem Raum mit den Utensilien. Bretter, Bälle, Poolnudeln. Das war für ihn das Signal, um unterzutauchen. Er benetzte die Brille mit Wasser und zog sie sich über den Kopf. Blinzelte das Wasser weg und stieß sich vom Beckenrand ab. 2000 Meter, 40 Bahnen, 40 Minuten. Brust, Kraul, Delphin. Zwei Bahnen auf dem Rücken zum Schluss, zur Entspannung. Danach würde er in den Whirlpool gehen oder den Massagestrahl im Salzwasserbecken genießen. Der Schwimmunterricht der Jungen würde ungefähr zur gleichen Zeit enden, dann hatten die Kinder meistens noch eine Viertelstunde, um zu tun, was sie wollten. Die meisten setzten sich dann in den Whirlpool, zusammen mit den Mädchen. Manche machten sich noch einen Spaß aus der Rutsche, gaben sich cool. Aber der Whirlpool war viel besser. Wenn er so voll war, musste man nah aneinanderrücken. Manchmal streifte sein Bein das eines der Jungen. Dann lief ein Zittern durch seinen Körper und er hatte große Mühe, sich gleichgültig zu geben.

Aber jetzt zog er seine Bahnen. Achtete darauf, dass er nicht zu schnell war, sonst konnte er das Feld nicht gut sondieren. Die Schüler schwammen neben der Absperrung. Wie so oft wärmten sie sich mit Wasserball auf. Dann blieb er länger unter Wasser, beobachtete ihre Unterkörper. Die langen Badehosen, die die Teenager heute trugen, gefielen ihm nicht. Er mochte die kurze, knappe Bademode lieber, wie man sie in seiner Jugend getragen hatte. Das hatte den Hintern betont. Diese festen runden Halbkugeln mit der Einkerbung. Er stellte sich vor, wie er seine Hand auf einen dieser Hintern legen würde.

Die Erektion kam. Er genoss das Gefühl der Schwerelosigkeit, das Wasser, das ihn umfing, sanft, wie ein Streicheln. Dazu die Lust zwischen seinen Beinen, die ihn beflügelte, die nicht brutal war und gemein, die nicht wehtat, die ihn einfach nur glücklich, leicht und schön machte. Dann spürte er nicht, wie alt er war, wie dick und plump. In seiner Phantasie war er dann so, wie er jetzt war: geschmeidig. Flink. Agil. Begehrenswert. So wie er die jungen Burschen begehrte. Sich vorstellte, wie er sie berührte und wie sie ihn berührten.

Der Ball flog über die Absperrung, das passierte immer, und er bemühte sich, ihn aufzufangen, wie zufällig. Es gelang ihm auch dieses Mal, einer der Jungen, der sich direkt an der rot-weißen Absperrung aufhielt, lächelte ihn an und hob die Hand, dass er den Ball zu ihm spielen sollte. Der Junge war hübsch, leider hatte er unreine Haut, das mochte er nicht. Er mochte nur die Strahlenden, die Reinen. Ohne Bartwuchs und Pickel.

Also tauchte er wieder unter Wasser und schwamm weiter. Die Erektion war verschwunden, die kleinste Störung seiner Phantasie, und es war vorbei.

Aber er wusste: die Stunde war noch nicht vorüber. Er würde jetzt ein paar Bahnen ziehen und dann einen neuen Anlauf starten. Nah an die Absperrung tauchen. Eine kurze unauffällige Verschnaufpause am Beckenrand machen. Oder nachher, im Whirlpool oder an der Massagedüse im Salzwasserbecken … Es gab Möglichkeiten. Das Schwimmbad war optimal. Zwei Mal in der Woche ging er hierher. Wenn er es nicht aushielt in seiner Wohnung, allein mit seinen Phantasien, immer vor dem Computer, dann kam er auch schon mal außer der Reihe hierher. Die Versuchung war zu süß.

Anfangs war er am Wochenende ins Schwimmbad gegangen. Anfängerfehler. Es war voll, deshalb war auch das Angebot gut. Aber es waren zu viele Familien, kleine Kinder. Mütter – vor allem die Mütter – waren vorsichtig, insbesondere alleinstehende Männer erregten ihr Misstrauen. Man stand ständig unter Beobachtung. Das wollte er nicht. Es kostete zu viel Mühe, die Erregung zu verbergen. Oder sie war sofort dahin, wenn die Kleinkinder um ihn herum zeterten. Und die Angst vor Entdeckung war zu groß.

Dann war er auf die Idee mit den Schulklassen gekommen. Es war so einfach gewesen! Im Eingang des Schwimmbades hing sogar ein Plan aus, wann bestimmte Bahnen für das Schulschwimmen gesperrt wurden. Er hatte daraufhin verschiedene Zeiten ausprobiert. Grundschüler und Kindergartenkinder waren uninteressant. Aber irgendwann hatte er raus, wann die Großen kamen. Und dann kam auch er.

Dienstag und Donnerstag. Eine neunte und eine zehnte Klasse. Er hatte sich schon ein paar Favoriten herausgepickt. Einer der blonden Jungs, nicht so groß, vielleicht eins siebzig, mehr ein Kind als ein junger Mann. Er hatte längeres lockiges Haar, war flink, hatte ein loses Mundwerk und schwamm gut. Einmal hatte er es geschafft, die Dusche neben ihm zu bekommen. Aber das war schon zu viel gewesen, zu nah. Er hatte das Duschen abbrechen müssen und sich in der Toilette eingesperrt, weil er seine Erregung nicht verbergen konnte.

Manchmal hatte er das Gefühl, als beobachtete der Lehrer ihn misstrauisch. Ob er ihm schon aufgefallen war? Er musste auf der Hut sein.

Ein schriller Pfiff schallte durch die Halle und gemahnte die Klasse daran, dass die Aufwärmzeit vorüber war. Einer der Buben räumte den Ball weg, dann stellten sie sich in einer Reihe hintereinander an den Beckenrand. Der Lehrer erklärte die Übung.

Er nahm das zum Anlass, seine Bahnen zu unterbrechen und eine Pause am Beckenrand zu machen. Vorgeblich, um seine Brille noch einmal ab- und wieder anzuziehen, tatsächlich, um einen Blick zu riskieren. Als die Jungen einer nach dem anderen mit einem Hecht ins Becken sprangen und ihre Bahnen schwammen, stieß auch er sich ab und schwamm weiter. Er konnte sie unter Wasser beobachten, ihre flachen Bäuche, gestreckt, die sich im Rhythmus der Armbewegungen leicht nach oben und wieder nach unten drehten. Ihre geraden und muskulösen Beine, die kleinen Paddelbewegungen ihrer Füße und die weit ausholenden Kraulbewegungen ihrer Arme. Muskulös, sehnig, und gleichzeitig so zart und zerbrechlich.

Er war eine Minute etwa neben einem Schüler geschwommen und hatte ihn beobachtet, jetzt ließ er sich zurückfallen, um den zweiten Jungen in Augenschein zu nehmen. Doch unversehens bekam er einen Hieb an den Kopf, an die Schläfe, für den Bruchteil einer Sekunde blieb ihm der Atem weg. Er stoppte und kam mit dem Kopf aus dem Wasser. Kurz war ihm richtiggehend schwarz vor den Augen geworden.

Er sah sich um, und hinter ihm tauchte eine schwarze Badekappe auf und ab. Ein Schwimmer, der ihm entgegengekommen war, hatte ihn wohl mit dem Fuß am Kopf getroffen und selbst nichts davon gemerkt. So ein Arschloch! Wie gerne hätte er gerufen oder wäre dem Typ hinterhergeschwommen, hätte ihn eingeholt, umklammert und untergetaucht, bis … Der musste aufpassen!

Aber er tat nichts von alldem, damit hätte er Aufmerksamkeit auf sich gezogen, und das konnte er sich nicht leisten. Er paddelte noch ein bisschen auf der Stelle, wenn der Typ mit der schwarzen Badekappe zurückkam, würde er ihn treten, aber wie!

Zu seinem Bedauern musste er mitansehen, wie der Schwimmer, der ihn versehentlich getreten hatte, sich am Rand hochzog und das Wasser verließ. Aber den würde er sich merken. Wenn der noch einmal zur gleichen Zeit mit ihm schwamm, würde er ihn bestrafen. Bestrafung musste sein!

Bei dem Stichwort musste er an seinen Vater denken, und ihm wurde augenblicklich schlecht. Mit letzter Kraft legte er den Rest der Bahn langsam zurück, hatte die Jungen vergessen und seine Phantasien, er war jetzt schwach und wollte nach Hause. Sein Kopf dröhnte von dem Tritt. Deprimiert setzte er sich in den Whirlpool, wo außer ihm noch zwei ältere Damen mit Badeanzügen aus den sechziger Jahren saßen – die eine trug sogar eine Badekappe mit Gummiblumen – sowie eine junge Mutter mit ihrem Kleinkind. Weiber.

Er schloss die Augen und versuchte, aus dem missglückten Tag wenigstens noch ein bisschen Glückseligkeit herauszupressen, das warme Wasser, das um ihn herum blubberte, der Gedanke an den Blonden … doch es wollte nicht gelingen. Ein roter Schleier überzog jeden schönen Traum, seine Wut auf den unbekannten Schwimmer mit der schwarzen Badekappe ließ sich nicht wegphantasieren.

Ächzend erhob er sich und trottete in die Umkleidekabine zurück.

Er duschte nicht. War alles vergebens. Er wollte nach Hause. Auch wenn seine Wohnung nichts Tröstliches hatte, aber sie war seine Höhle, er war allein, niemand kam auf die Idee, ihn dort zu stören.

Am Spind erwartete ihn das nächste Ärgernis. Seine Schuhe, die er stets so sorgsam mittig unter seinen Schrank stellte, waren verschwunden. Er sah sich um. Was für ein beschissener Tag. Womit hatte er das verdient? Er wollte heulen.

Auf allen vieren musste er durch die Umkleide kriechen, bis er seine Schuhe wiederfand. Er schnaufte, bekam kaum Luft, die Gelenke schmerzten unter seinem Gewicht. Ein Schuh lag weit hinten in einer Ecke, dort, wo die Putzfrau nicht sorgfältig saubermachte, der Schuh war voll mit Staub und Haaren, als er ihn schließlich mühselig dort hervorfischte.

Der andere stand auf den Schränken. Das war doch Absicht! Jemand wollte ihm einen Streich spielen. Die verdammten Jungs, man sollte ihnen den Hosenboden strammziehen. Kein Respekt.

Mit letzter Kraft zog er sich an, die Hose über die nasse Badehose. Ihm war alles egal. Bloß schnell nach Hause. Dort konnte er sich sofort ausziehen und unter die heiße Dusche gehen. Vielleicht vorher noch einen Clip ansehen. Damit sich ein gutes Gefühl einstellte.

Der Gedanke an einen kleinen feinen Film ließ ihn aufatmen. Seine Laune hob sich. Es war eben heute nicht sein Tag gewesen. Das kam vor – oder nicht?

Er setzte sich auf die Bank, um sich die Schuhe anzuziehen. Der rechte fühlte sich komisch an, irgendetwas störte. Hatte er einen Strumpf darin vergessen? Er zog den Fuß heraus und fasste mit der Hand hinein. Seine Finger stießen an etwas, das tief in die Schuhspitze geschoben war. Er zog es heraus. Schwarzes Gummi.

Es war die Badekappe des unbekannten Schwimmers.

Helle und der Tote im Tivoli

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