Читать книгу Helle und der Tote im Tivoli - Judith Arendt - Страница 5

Skagen, 4.30 Uhr

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Helle wurde von ihrem Handy geweckt. Es vibrierte unter ihrer linken Gesichtshälfte. Gewohnheitsmäßig legte sie es unter ihr Kopfkissen, damit Bengt nicht geweckt wurde, falls sie angerufen wurde. Zusätzlich stellte sie es auf stumm. Maßnahmen für den Ernstfall, zu dem es so gut wie nie kam, denn sie wurde äußerst selten mitten in der Nacht geweckt.

Skagen war nicht gerade die kriminelle Hauptstadt Dänemarks, und eigentlich gab es nichts, was so wichtig war, dass der diensthabende Polizist Hauptkommissarin Helle Jespers aus dem Schlaf holen musste.

Aber heute vibrierte das Ding, und Helle zog es unter ihrem Kopf hervor. Es klebte an ihrer verschwitzten Wange, anscheinend war es unter dem Kopfkissen hervorgerutscht. Kein Wunder, Helle hatte sich bis vor einer Stunde noch hellwach im Bett gewälzt.

Sie konnte die Augen kaum öffnen, erkannte aber, dass es eine ihr unbekannte Nummer war. Seltsam, denn die Nummer des Handys hatte kaum jemand außer ihren Kollegen. Helle nahm den Anruf an.

»Helle Jespers.«

»Sören Gudmund. Mordkommission Kopenhagen. Helle, wir brauchen deine Unterstützung.«

Eine forsche Stimme, die keine Widerrede zuließ. Helle rollte sich stöhnend über ihre linke Seite aus dem Bett und hielt eine Hand vor den Apparat. Sie wollte nicht, dass Bengt jetzt aufwachte, aber offensichtlich hatte ihr Mann nichts von dem Anruf mitbekommen. Er lag auf dem Rücken und schnarchte mit offenem Mund. Der schwere Rioja hatte sein Werk getan.

»Was … Weißt du eigentlich, wie spät es ist?!« Scheiße, das war die falsche Antwort, Helle ahnte es, kaum dass sie es ausgesprochen hatte.

Schweigen am anderen Ende der Leitung. Mehr als das. Deutlich genervtes Schweigen. Sören Gudmund, dachte Helle und versuchte, ihre eingeschlafenen grauen Zellen zu aktivieren, während sie mit dem iPhone am Ohr ins Bad huschte, kenn ich den?

»Im Gegensatz zu dir haben wir hier in Kopenhagen keinen gemütlichen Nine-to-Five-Job.« Sören Gudmunds Stimme war so eisig, dass Helle augenblicklich fröstelte.

»Ich weiß«, konnte sich Helle nicht verkneifen. »Crime never sleeps.«

»Meinst du das ernst?«

»Hast du es ernst gemeint?« Helle klappte die Klobrille runter und versuchte, sich so hinzusetzen, dass Gudmund nicht hören konnte, was sie gerade tat. Er war ja ohnehin nicht sonderlich gut gelaunt. Aber sie war es auch nicht. Nicht mehr, nach seinem Anruf.

»Okay, noch mal von vorn«, hörte sie sich sagen. Mordkommission, das waren schließlich nicht irgendwelche Dorfbullen, es würde ihr nicht gut bekommen, wenn sie weiterhin so pampig blieb.

Gudmund ließ sich nicht lange bitten. »Ein gewisser Gunnar Larsen wurde gegen drei Uhr heute Morgen im Tivoli aufgefunden. Er kam gewaltsam zu Tode, so viel kann ich mit Gewissheit sagen. Ich habe hier die Information, dass er in deiner Gemeinde gemeldet ist, und möchte dich bitten, den Angehörigen die Nachricht zu überbringen.«

Helle war noch immer darauf konzentriert, so geräuschlos wie möglich zu pinkeln, aber jetzt fiel ihr fast das Handy aus der Hand. Gunnar? Ermordet? Im Tivoli?

Wow.

»Ja, das stimmt. Gunnar lebt hier. Er ist Gymnasialdirektor. Also gewesen, jetzt ist er pensioniert. Und offenbar tot. Aber das weißt du wohl alles …«

Gudmund unterbrach sie. »Also, was ist, kann ich auf dich zählen?«

»Hat sich nicht angehört wie eine Bitte.«

»Richtig. Das sollte es auch nicht sein.«

Sie schwiegen. Sören Gudmund war offensichtlich kein Mann der vielen Worte, dachte Helle. So ein Arsch. Hoffentlich läuft der mir nicht über den Weg.

»Ich komme im Lauf des Tages selbst nach Skagen. Aber ich halte es für besser, wenn jemand aus dem Ort mit der Familie spricht.«

Helle fühlte sich schlagartig müde. Sehr müde. Sie spürte, dass sie höchstens ein, zwei Stunden Schlaf gehabt hatte, und sehnte sich danach, sich wieder zu Bengt ins warme Bett zu kuscheln.

»Klar.« Sie riss sich zusammen und bemühte sich, so beflissen wie möglich zu klingen. »Ich fahr gleich nach dem Frühstück rüber.«

»Wenn ich glauben würde, dass die Sache so viel Zeit hätte, würde ich selbst hinfahren.«

Ein Wunder, dass ihre Hand nicht am Handy festfror, bei dem eisigen Hauch, mit dem Gudmunds Stimme durch den Hörer fuhr.

»Also, es ist halb fünf Uhr morgens«, setzte Helle sich zur Wehr. »Ich glaube, es gibt Uhrzeiten, zu denen man solche miesen Nachrichten vielleicht besser verträgt.«

»So etwas verträgt man nie gut«, gab Gudmund zurück, und Helle seufzte. Leider hatte er recht.

Der Leiter der Mordkommission fuhr fort: »Kann ich mich darauf verlassen, dass du dich unverzüglich auf den Weg machst? Das Protokoll der ersten Befragung mailst du mir bitte, dann kann ich es unterwegs checken.«

Helle klappte den Mund auf, aber so schnell fiel ihr keine Entgegnung ein, und noch bevor sie den Mund wieder geschlossen hatte, hatte Sören Gudmund aufgelegt.

Helle pfefferte ihr Handy ins Waschbecken, blieb noch kurz auf der Toilette sitzen und schloss die Augen. Es war Sonntag, sie hatten am gestrigen Abend Freunde zum Essen zu Besuch gehabt und entsprechend viel getrunken. Gegen zwei waren sie ins Bett gegangen, Bengt hatte kaum »Gute Nacht« murmeln können, da hatte sie schon sein Schnarchen gehört. Helle selbst hatte wachgelegen. Wie beinahe jede Nacht. Wachgelegen und geschwitzt. Sich von der einen Seite auf die andere gewälzt, ihre Bettdecke wieder und wieder umgedreht, sodass sie die kühle Seite auf ihrer Haut gespürt hatte. Das Karussell in ihrem Kopf hatte sich gedreht, sie hatte an alles und nichts gedacht. Und langsam gespürt, wie die Kopfschmerzen kamen, die seit einiger Zeit ihr ständiger Begleiter waren. Irgendwann zwischen drei und halb vier musste sie weggedämmert sein.

Und jetzt das.

Gunnar Larsen, was für ein verdammter Scheiß.

Sie kannte Gunnar, er war der Rektor des Gymnasiums in Fredrikshavn gewesen, das ihre Kinder besuchten. Besucht hatten, im Fall von Sina. Leif quälte sich immer noch, und es war nicht ausgemacht, dass er es schaffte. Gunnar Larsen war – ja, was eigentlich? Weder beliebt noch gefürchtet. Er hatte das Gymnasium geleitet, ohne dass man hätte sagen können, wie er das getan hatte, was sein Stil und sein Anspruch gewesen war. Auf alle Fälle ohne Charisma. Bestimmt zwanzig Jahre lang war er die graue Eminenz gewesen. Ein unauffälliger Mann mit Brille. Alles an ihm war durchschnittlich. Größe, Gesicht, Augenfarbe, Klamotten. Selbst sie, die erfahrene Polizistin, hätte ihn kaum beschreiben können. Gunnar hatte keinerlei besondere Merkmale. Wie konnte es sein, dass jemand wie er eines so ausgefallenen Todes starb? Wieso sollte man Gunnar ermorden, ausgerechnet in einem Vergnügungspark? Hass war der Motor von Mord, oder Rache. Aber Helle konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass der pensionierte Rektor jemals etwas getan haben sollte, das derartige Gefühle hervorrief.

Sie spülte, stand auf und wusch sich die Hände. Den Blick in den Spiegel vermied sie und entschied sich für eine heiße Dusche. Danach wäre sie vielleicht halbwegs am Leben und in der Lage, zu Matilde Larsen, der Witwe, zu fahren und sie mit dieser Hiobsbotschaft aus dem Bett zu werfen.

Der heiße Massagestrahl der Dusche auf Schulter und Nacken war wie eine Erinnerung an guten Sex. Helle hätte ewig so stehen bleiben können, eingehüllt in den heißen Dampf, der sich in der Dusche bildete. Aber es half nichts, sie musste gleich da hinaus, ins Leben, in ihr Leben als Hauptkommissarin, und eine Todesbotschaft überbringen.

Tapfer stellte sie die Dusche von Massage auf Regen, von heiß auf kalt. Sie unterdrückte einen Schrei, als die eisigen Tropfen auf sie niederprasselten, schließlich sollte wenigstens Bengt seinen Schlaf bekommen. Dann drehte sie das Wasser ab, schüttelte sich wie ein Hund und rubbelte sich mit dem Frotteehandtuch trocken. Sie wischte einmal über den Spiegel und sah sich selbst entgegen. Nasse halblange Haare, die wirr in alle Richtung abstanden. Müde Augen, die zwischen noch immer geschwollenen Lidern hervorblinzelten. Tiefe Falten um die Mundwinkel und zwischen den Brauen, aber immerhin war die Haut durch die kalte Dusche gut durchblutet und strahlte einen Hauch von Leben aus. Definitiv fünfzig und keine Sekunde jünger.

Wenn sie jetzt noch einen Espresso bekäme, würde sie sich vielleicht unter Menschen wagen können.

Sie schlich sich leise zurück ins Schlafzimmer, aber das Ehebett war leer. Stattdessen stieg ihr ein warmwürziger Duft aus der Küche in die Nase. Bengt, dachte sie gerührt, mein Guter.

Am liebsten hätte sie sich gemütliche Schlupfhosen und ein kuschliges Sweatshirt übergeworfen, aber die Mission, die ihr bevorstand, verlangte eine andere Kleiderordnung. Das hellblaue Hemd, schwarze Hose, dazu ein dicker blauer Polizeipullover. Helle betrachtete sich im Spiegel. Furchtbar. Die Hose spannte an Bauch und Oberschenkeln, der grobgestrickte Pullover mit dem engen Halsausschnitt ließ ihre Brüste geradezu monströs wirken. Nein, die Dienstuniform war alles andere als kleidsam. Aber es ging auch nicht darum, einen Schönheitswettbewerb zu gewinnen.

Sie strich sich die halbnassen Haare hinters Ohr, legte ein bisschen Rouge, Wimperntusche und Lipgloss auf und überlegte sich im Stillen, was sie Matilde sagen sollte. In so einem Fall war jedes Wort grundfalsch. Ihr Job brachte es mit sich, dass sie Hinterbliebene vom Tod eines Angehörigen unterrichten musste. Aber zum Glück war das in den dreißig zurückliegenden Dienstjahren nicht allzu häufig vorgekommen. In ihrem Distrikt gab es nicht oft Tote. Verkehrsunfälle, Herzinfarkte, Badeunfälle. Vielleicht ein Einbruch. Vor ein paar Jahren hatte es nach dem Frühlingsfest eine Messerstecherei gegeben, einer der jungen Burschen hatte es nicht überlebt.

Die schrecklichste Todesnachricht, die sie jemals hatte überbringen müssen, war die des ermordeten Mädchens gewesen. Wenn die Bilder der Kleinen und ihrer Eltern vor ihrem geistigen Auge erschienen, trieb es Helle unweigerlich Tränen in die Augen. Noch so viele Jahre später.

Gottlob war sie damals nicht allein gewesen. Der Fall hatte sich in ihren Anfangsjahren zugetragen, als sie noch in Fredrikshavn gewesen war. Ingvar, der Chef der Polizei, war mit ihr zu den Eltern gefahren. Der gute alte Ingvar. Er hatte die Mutter wortlos in den Arm genommen. Dieser Zwei-Zentner-Bär.

Nun, das fiel hier aus. Sie kannten sich nicht besonders gut, Helle und die Frau des pensionierten Rektors. Vom Sehen hier und da. Ihr Umgang war steif und förmlich, eine Umarmung wäre einfach unangemessen.

In der Küche schob Bengt ihr ein großes Glas warmen Chai-Tee hin, bevor er sich wieder an den Herd stellte. In der gusseisernen Pfanne brutzelte ein dottergelber Pfannkuchen, den Bengt sogleich routiniert wendete, kurz stocken und dann auf den Teller gleiten ließ. Er gab etwas von der Beurre au caramel salé darauf, die er selbst gemacht hatte, rollte den Pfannkuchen zusammen und stellte ihn vor Helle auf den hölzernen Tresen. Dann setzte er sich ihr gegenüber.

Helle streckte eine Hand aus und fuhr ihrem Mann zärtlich über den dichten Wikingerbart. »Geh wieder ins Bett.«

Er nickte, nahm ihre Hand und küsste sie. »Einer muss es ja warmhalten.«

Helle biss voller Verlangen in den köstlichen Pfannkuchen und murmelte mit vollem Mund: »Ich weiß nicht, ob ich so schnell zurückkomme.«

Ihr Mann zog nur die Augenbrauen hoch und kratzte sich am Kopf. In den vielen Jahren ihrer Ehe hatte er gelernt, dass es nicht gut war, sie zu fragen, was passiert sei. Vieles durfte Helle nicht erzählen, und er vermied es, sie in einen Gewissenskonflikt zu bringen. Entweder erzählte sie aus freien Stücken, oder er begnügte sich mit ihrem Schweigen. Ohnehin war Bengt Jespers nicht der neugierige Typ. Klatsch und Tratsch interessierten ihn nicht, und oft wunderte sich Helle, wie es jemand schaffte, einen Job als Sozialpädagoge so gut zu machen wie Bengt, obwohl er an seiner Umwelt nicht das geringste Interesse zu haben schien.

Die warme Karamellbutter tropfte aus dem Pfannkuchen, und Helle wischte sie mit dem Finger vom Teller. Sie war verrückt danach, und gerade, wenn sie verkatert war oder übermüdet oder beides, gierte sie wie ein Junkie nach dem Zuckerzeug. Sie nahm einen Schluck von dem Chai, dessen Wärme sich in ihrem ganzen Körper ausbreitete, und sah über den Rand des Glases, dass Bengt die Augen geschlossen hatte und im Sitzen wieder in Schlaf gefallen war. Sie lächelte. »Bengt.«

Er öffnete ein Auge und nickte. Dann stand er auf, ging um den Tresen herum und legte seine kräftigen Arme um sie. Helle küsste ihren Mann aufs Ohr und gab ihm einen Klaps auf die Boxershorts. Gehorsam trottete der todmüde Grizzly zurück ins Schlafzimmer.

Helle gönnte sich noch eine zweiminütige Verschnaufpause. Sie umklammerte das Teeglas mit beiden Händen und blickte durch die Panoramascheiben auf die Silhouette der Dünen. Das Meer konnte sie nicht sehen, dafür war es noch zu dunkel, aber die hellen Sandhügel direkt am Haus mit den Schneeresten darauf schimmerten blass.

Mit diesem Haus am Strand hatten sie sich einen Traum erfüllt. Ursprünglich hatte hier der Fischerschuppen ihres Großvaters gestanden, und es hatte einige Jahre, viele Schreiben an die Behörde und noch mehr Nerven gekostet, um eine Baugenehmigung an der Stelle zu bekommen. Aber sie hatten es geschafft – ganz ohne Bestechung –, die alte Hütte abgerissen und das Holzhaus gebaut. Bengt hatte fast alles selbst gemacht, zusammen mit Nikolas, der das Haus entworfen hatte. Es war Helles Seelenort, und je länger sie hier wohnte, desto weniger wollte sie das Haus verlassen. Jeden Morgen zögerte sie ihren Aufbruch zur Arbeit ein paar Minuten hinaus, um noch ein bisschen Behaglichkeit und Ruhe zu tanken. Wenn sie abends nach Hause kam, fielen alle Sorgen von ihr ab, kaum trat sie über die Schwelle des Hauses.

Der Blick über die Dünen zum Meer und dem weiten Himmel darüber, der Schwedenofen in der Ecke, in dem außer in den Sommermonaten immer ein Feuer prasselte, der dicke weiße Wollteppich, in dem man seine Zehen vergraben konnte, und die gemütlichen Sofas mit Kissen und Wolldecken waren Helles Paradies auf Erden.

Aber leider warteten dort draußen alles andere als paradiesische Zustände. Jemand hatte Gunnar Larsen getötet. Gewaltsam zu Tode gebracht, wie Gudmund sich ausgedrückt hatte. Weitere Details hatte er für sich behalten. Es wäre hilfreich für Helle gewesen, mehr zu wissen, aber offensichtlich wollte der Leiter der Kopenhagener Mordkommission sie nicht an seinem Herrschaftswissen beteiligen. Trotz dieser spärlichen Informationen musste Helle das Gespräch mit der Witwe führen.

Sie gab sich einen Ruck, stellte den Becher mit dem Chai ab und verließ das Haus.

Gunnar Larsen und seine Frau wohnten am anderen Ende des Ortes in einer kleinen Seitenstraße. Helle Holzhäuser mit rotem Dach, die eines wie das andere aussahen. Typische dänische Sommerhäuschen, wie sie die vielen Touristen, die im Sommer nach Skagen strömten, liebten.

Aber jetzt war es Winter, stockfinster und acht Grad unter null. Die Straße lag wie ausgestorben da, in keinem der Häuser brannte Licht. Helle stieg aus dem warmen Polizeiauto und suchte die Hausnummer der Larsens. Es war das letzte Haus in der Sackgasse, im Vorgarten stand ein Überbleibsel von Weihnachten, ein kleiner Baum mit Lichterkette. Ansonsten war das Häuschen schmucklos, nirgends ein Hinweis auf seine Bewohner. Kein Kranz hing an der Tür, kein selbstgetöpfertes Namensschild, keine Fußmatte mit einem humorvollen Spruch. Das Haus war wie Gunnar Larsen selbst: durch und durch nüchtern.

Helle holte tief Luft und drückte auf den Klingelknopf. Im Inneren des Hauses breitete sich ein schriller Ton aus, und kurz darauf ging das Licht an. Durch das kleine Fenster neben der Eingangstür sah Helle, dass jemand die Treppe herunterkam, aber dieser Jemand zögerte, bevor er – oder besser sie – die Tür öffnete. Kein Wunder, es war kurz nach fünf am Morgen.

»Wer ist da?« Eine Frauenstimme klang gedämpft durch die Tür.

»Polizei Skagen, Helle Jespers.«

Das blasse Gesicht Matilde Larsens erschien in der nun halb geöffneten Tür. Der Blick, mit dem sie Helle bedachte, sagte deutlich aus, dass Matilde wusste, dass etwas geschehen war. Kein Erschrecken, keine Verwunderung lag darin, eher Vorahnung.

»Entschuldige, wenn ich so früh störe. Darf ich reinkommen?«

Matilde nickte schwach und raffte instinktiv den Ausschnitt ihres Flanellnachthemds mit einer Hand zusammen. Wortlos ließ sie die Eingangstür los, drehte sich um und ging vor Helle ins Wohnzimmer. Dort machte sie Licht und ließ sich schwer in einen Ohrensessel fallen.

Helle nahm auf dem Sofa gegenüber Platz.

»Gunnar?«, fragte die Frau und wich dann rasch Helles Blick aus. Ihre Augen wanderten zum Fenster, und es schien, als wartete sie gar nicht auf eine Antwort.

Helle nickte. Sie versuchte abzuschätzen, wie die Frau, die ihr gegenübersaß, die Nachricht vom Tod ihres Mannes aufnehmen würde. Matilde schien nicht im Mindesten überrascht, dass mitten in der Nacht die Polizei an ihrer Tür klingelte.

»Ich habe einen Anruf aus Kopenhagen bekommen. Es tut mir leid, Matilde. Aber Gunnar ist ums Leben gekommen.«

Die Frau schwieg. Sie nickte unmerklich und starrte weiter in die Dunkelheit hinter dem Fenster.

Helle wartete ab. Sie beobachtete Matilde genau, nahm jede Regung in dem blassen Gesicht wahr. Aber sie wurde nicht schlau daraus. Die Witwe von Gunnar Larsen musste um die sechzig sein, aber sie hatte ein altersloses Jungmädchengesicht. Zarte Haut mit feinen Fältchen um Mund und Augen, blasse Sommersprossen, dünnes lockiges Blondhaar, in das sich silberne Strähnen mischten. Ihre Augen waren wasserblau, aber mit den Jahren ausgeblichen und verschwommen. Matilde hatte nichts Verhärmtes an sich, keinen frustrierten Zug um den Mund, aber sie wirkte auch nicht, als sei sie ein glücklicher Mensch.

Jetzt wandte sie ihr Gesicht wieder zu Helle, in ihren Augen standen Tränen. Sie öffnete den Mund, als wolle sie etwas sagen, aber sie brachte keinen Ton heraus.

»Gunnar wurde heute Nacht im Tivoli gefunden«, sagte Helle so behutsam wie möglich. »Leider weiß ich nichts über die genauen Umstände seines Todes, aber …«

Matilde Larsens Augen wurden plötzlich ganz groß, sie runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. Erst langsam und ungläubig, dann immer heftiger. »Im Tivoli? Das kann nicht sein! Das kann nicht Gunnar … was sollte er da tun?«

Helle stand auf und kniete sich neben den Stuhl der anderen Frau, nahm behutsam deren Hand.

»Ich weiß, das ist jetzt sehr schwer für dich. Aber im Laufe des Tages kann ich dir sicher mehr sagen.«

Matilde entzog ihr die Hand. Sie atmete schwer. So ungewöhnlich gelassen und fast schon desinteressiert sie gewesen war, als Helle bei ihr auftauchte, so heftig reagierte sie nun. Rasch erhob sie sich aus dem Stuhl und lief im Wohnzimmer hin und her. Sie schüttelte immer noch den Kopf und schien darüber nachzudenken, was sie soeben erfahren hatte.

Helle wunderte sich, dass Matilde keine Fragen stellte. Da sie selbst keinerlei Details kannte, wollte sie auch nicht näher darauf eingehen, also fragte sie Matilde, ob sie ihr einen Tee machen könne. Und ob sie jemanden benachrichtigen solle, der sich kümmern könnte. Da die Frau nicht darauf reagierte, blieb Helle einfach sitzen. Die Witwe stand unter Schock, und sie wollte sie nicht alleinlassen. Also reden.

»Matilde, kannst du mir sagen, wann du Gunnar das letzte Mal gesehen hast?« Helle zog ihren Notizblock und einen Stift hervor.

Matilde Larsen blieb abrupt stehen und dachte nach. Helle war erleichtert, dass sie noch zu ihr durchdringen konnte.

»Ich weiß nicht, Freitagmittag?« Matilde wirkte verwirrt. Hilfesuchend sah sie zu Helle. »Ich habe ihn zum Bahnhof gefahren.«

»Okay. Warum zum Bahnhof?«

»Einmal im Jahr …« Matilde stockte, verbarg ihr Gesicht in den Händen.

Helle wartete ab und legte eine Hand behutsam auf das Knie der Älteren. Schließlich hob Matilde Larsen wieder den Kopf und fuhr fort.

»Einmal im Jahr trifft er sich mit ehemaligen Kollegen aus ganz Dänemark. In Kopenhagen.«

Helle nickte und machte sich Notizen. »Um wie viel Uhr ging sein Zug, kannst du dich erinnern?«

Matilde blickte verloren zu Boden. Sie ließ die Hand, mit der sie den Ausschnitt des Nachthemds festgehalten hatte, sinken. »Mir wird schlecht«, flüsterte sie.

Helle war mit einem Satz bei ihr und fasste die Frau um die Schultern. Sie führte sie hinaus in den Flur, und Matilde steuerte mit ihrer Hilfe die Gästetoilette an. Dort sank sie auf die Knie, umklammerte die Kloschüssel und begann zu würgen. Helle kniete sich hinter sie und streichelte ihr den Rücken. Sie würde Matilde Larsen nicht alleinelassen können, die jetzt laut in die Kloschüssel schluchzte und am ganzen mageren Körper zitterte.

Helle zog ihr Handy aus der Hosentasche und überlegte, welche Kollegin sie hierherbestellen sollte. Amira, die junge Polizeianwärterin aus Afghanistan oder doch lieber Marianne, die Mütterliche. Sie entschied sich für Letztere. Ihre Sekretärin Marianne war knapp über sechzig und litt laut eigenem Bekunden an seniler Bettflucht. Es wäre also weniger schlimm, bei ihr um diese Zeit anzuklingeln als bei einer jungen Frau.

Die Schluchzer wurden jetzt weniger, auch das Zittern, und Matilde Larsen ließ den Kopf gänzlich in die Schüssel sinken. Sie murmelte jetzt leise vor sich hin, aber Helle konnte nicht verstehen, was sie sagte. Sie hatte sich gerade entschlossen, Matilde wieder aufzuhelfen und sie im Wohnzimmer auf das Sofa zu betten, als die verzweifelte Frau den Kopf hob und laut und vernehmlich sagte: »Ich war es. Ich bin schuld. Es ist alles nur wegen mir.«

Eine gute Stunde später ließ Helle sich erschöpft auf den Stuhl in ihrem Büro sinken. Trotz des dicken Pullovers und der maximal aufgedrehten Heizung fror sie erbärmlich. Übermüdung. Ihre Lider waren schwer, der Kopf fühlte sich an, als würde er gleich platzen – was durch die stickige Heizungsluft in ihrem kleinen Kabuff nicht gerade besser wurde –, und sie hätte am liebsten die Stirn auf die Schreibtischplatte sinken lassen und wäre eingeschlafen.

Stattdessen nippte sie an dem Kaffee, den ihr Kollege Jan-Cristofer ihr gerade in die Hand gedrückt hatte, und schaltete den Computer an.

Sie musste ein Protokoll des Gesprächs mit Matilde Larsen für Gudmund schreiben. Helle versuchte, darüber nachzudenken, ob und wenn ja wie sie das Quasi-Geständnis der Witwe im Protokoll erwähnen sollte. Wenn sie es unter den Tisch fallen ließ, wäre das höchst riskant. Am Ende erwähnte Matilde einem anderen Polizisten gegenüber, vielleicht sogar Sören Gudmund selbst, dass sie doch schon ein Geständnis abgelegt hatte.

Auf der anderen Seite war Helle sich völlig im Klaren darüber, dass das, was Matilde unter Schock von sich gegeben hatte, nicht als »echtes« Geständnis zu werten war. Denn als Helle es im Zuhause der Larsens endlich geschafft hatte, die weinende Witwe aufs Sofa zu betten, ihr einen Tee zu kochen und Marianne aus dem Bett zu klingeln, hatte sie noch einmal nachgefragt, was mit der Selbstbezichtigung gemeint gewesen war. Die in Tränen aufgelöste Matilde hatte eingestanden, dass sie und Gunnar schon lange getrennter Wege gingen, und sie hatte angenommen, dass Gunnar sich deshalb vielleicht etwas angetan hatte. Pflichtschuldig hatte Helle sich das Eingeständnis angehört, sich Notizen gemacht, aber die langjährige Erfahrung als Polizistin sagte ihr, dass Menschen unter Schock erstens ziemlich viele merkwürdige Dinge äußern und es zweitens ihres Wissens nach eher selten vorkam, dass sich jemand das Leben nahm, weil er seit vielen Jahren eine unerfüllte Ehe führte. Sie würde Matilde Larsen noch einmal vernehmen, wenn diese in besserer Verfassung war.

Jetzt saß Helle in ihrem Büro und musste diplomatisch begründen, warum sie Matilde Larsen nicht gleich mit auf die Polizeiwache zur Vernehmung genommen hatte. Sie nippte am Kaffee, und während der PC langsam hochfuhr, entschied sich Helle für die Formulierung, dass die Witwe des Ermordeten nicht in geistig klarer Verfassung war und unter Schock stehend sich selbst bezichtigte, am Tod ihres Mannes schuld zu sein – dabei war sie jedoch von Selbstmord ausgegangen.

Doch Helle kam gar nicht dazu, ihr Protokoll zu Papier zu bringen. Sören Gudmund war ihr zuvorgekommen und hatte ihr seinerseits bereits Unterlagen geschickt, nämlich nähere Details über den Fundort des Toten, die mutmaßliche Todeszeit und vor allem: die Todesursache.

Der kandierte Apfel, der tief in Mund und Rachen des Opfers steckte, war nicht ursächlich schuld am Tod von Larsen gewesen. Er war an einem Herzstillstand gestorben, der aller Wahrscheinlichkeit nach deshalb eingetreten war, weil der Täter Gunnar bei lebendigem Leib und vollem Bewusstsein die Augäpfel aus den Höhlen geschält hatte.

Helle spuckte augenblicklich den bitteren Kaffee in den Papierkorb.

Helle und der Tote im Tivoli

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