Читать книгу Eine (ge)rechte Sache - Judith Frei - Страница 6
ОглавлениеHanna
In der ersten Nacht schlafe ich kaum. Ich friere, weil ich nur eine Wolldecke zum Zudecken habe. Ich liege auf meiner neuen Luftmatratze, atme den Geruch von Gummi und zittere vor Kälte. Erst gestern habe ich mit Papa die blau-rote Matratze gekauft. Extra für dieses Wochenende.
Eigentlich hatte ich mich darauf gefreut. Aber jetzt weiß ich nicht mehr, ob ich mich noch freuen soll.
Alles ist so fremd.
Der Raum, die Regale mit den Büchern, das Bild an der Wand, der Geruch, der von unten hoch steigt.
Die Bücher, Goethe, Schiller, bekannte Namen, aber auch viele, die ich nicht kenne.
»War es Hitlers Krieg?« Der Titel fällt mir auf, er ist in großen Druckbuchstaben geschrieben. Ich kenne das Buch von zuhause. Mama hat das gleiche in der Glasvitrine im Wohnzimmer stehen.
Das Bild an der Wand rechts neben mir in dem dicken Rahmen. Nymphen und Feen, die an einem Bach im Wald spielen. Ich habe schon mal so ein Bild gesehen, in Thüringen, bei Oma. Wenn wir da früher im Urlaub waren, schlief ich immer in einer kleinen Kammer, außerhalb der Wohnung. Omas Wohnung war sehr klein, da war kein Platz für uns alle, für Mama, Papa, Ragnhild und mich. Da schlief ich eben in der kleinen Kammer im Treppenhaus. Es hat mir nichts ausgemacht. Wenn ich morgens früh aufgewacht war und mich langweilte, konnte ich nicht anders, als dieses Bild mit den am Bach spielenden Nymphen anzuschauen. Ich stellte mir vor, ich wäre mitten drin in diesem Wald, an diesem Bach, ich würde mit den Nymphen spielen und alles würde sich ganz leicht anfühlen.
Ein bisschen so stellte ich mir vor, würde es im Himmel sein.
Ich atme weiter den Gummi-Geruch meiner neuen Luftmatratze ein. Dabei bemerke ich noch einen anderen Geruch. Irgendwie muffig. Ich denke an den roten Teppich mit den weiß-beigen Ornamenten. Vorhin beim Aufblasen der Matratze war er mir aufgefallen. Riecht der vielleicht so muffig?
Auch die anderen Mädchen, die hier mit mir in diesem Raum schlafen, sind fremd.
Ich finde sie seltsam. Vor allem die mit den dunklen Zöpfen. Streng geflochten. Ute heißt sie. Die scheint hier was zu sagen zu haben. Sie ist ja auch die Tochter von dem, der hier was zu sagen hat. Die mit den blonden Locken, die finde ich nett.
Die scheint genau wie ich zum ersten Mal hier zu sein.
Während ich in die Dunkelheit starre, lausche ich dem ruhigen Atem der anderen. Ich friere und warte, dass diese Nacht endlich vorbei ist.
Meinen warmen Schlafsack habe ich dem anderen Mädchen gegeben. Dem Mädchen mit den blonden Locken. Mama wird mich morgen fragen, warum ich das getan habe und ich werde ihr sagen, es tat mir leid, dass das Mädchen keinen Schlafsack dabei hatte.
Ich weiß nicht, wie Mama reagieren wird.
Ich weiß eigentlich nie, wie Mama reagieren wird. Sie ist so unberechenbar. Mir erscheint sie wie ein Mensch, der eine zweigeteilte Seele in sich trägt.
Lachen, laut und herzhaft, zuhören, voller Herzenswärme und Verständnis, lange Gespräche bis in die Nacht, helfen, zupacken, Courage zeigen, alles das ist Mama.
Schlechte Stimmungen, hässliche Worte, Wutausbrüche, demütigen, beleidigen, provozieren, das ist der andere Teil in ihr.
Wird Mama mich also morgen für meine Hilfsbereitschaft loben oder als dumm und naiv beschimpfen? Ich weiß es nicht. Es kommt ganz darauf an, welcher Teil ihrer Seele mich morgen hier wieder abholen wird.
Oft bin ich traurig deswegen. Wegen Mamas zweigeteilten Seele. Ich glaube, wir sind dann alle traurig. Papa, Ragnhild, ich und ich glaube auch Mama. Dann träume ich davon, dass sie immer so fröhlich ist, wie sie es in ihrer einen Seelenhälfte sein kann. Ich träume, dass es überhaupt nur die eine Seelenhälfte in ihr gibt.
Irgendwie ist diese Nacht wie ein Versprechen. Jedenfalls ist sie der Beginn meiner Jugend. Ich werde Erlebnisse haben, die ich niemals hatte oder je hinterher haben würde. Gedanken und Gefühle, die ich mir noch nicht vorstellen kann. Aufregende, schöne Momente, bedrückende Ereignisse, Jahre der Zusammengehörigkeit mit Freunden und Kameraden, eine Zeit der Anerkennung und der inneren Stärke.
Bis eines Tages die Zweifel kommen.
Immer tiefer bohren sie sich in meine Seele. Schließlich gestatten sie mir nicht mehr wegzuschauen, schön zu reden was ich als hässlich empfinde, weiter zu machen, wo ich längst aufhören sollte.
Irgendwann sehe ich, was ich schon früher hätte sehen können, aber nicht sehen wollte.
Ich habe lange gebraucht. Immerhin ist es nicht zu spät.
Anders als bei Mama, die für immer an ihren Gedanken festhielt.
Die das Hinsehen bis zu ihrem Tod nicht ertrug.