Читать книгу Eine (ge)rechte Sache - Judith Frei - Страница 8

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Am nächsten Morgen wachte Hanna schon lange vor dem Klingeln des Weckers auf. Der bevorstehende Tag lastete bereits die ganze Nacht auf ihr.

Noch ein bisschen benommen tastete sie den Platz neben sich ab und stellte fest, dass er leer war. Lennart war offenbar schon früh ins Gericht gefahren.

Mit einem leisen Gefühl der Enttäuschung stand sie auf. Es kam nicht mehr so oft vor, dass sie gemeinsam in einem Zimmer schliefen.

Da hätte sie gern mit ihm gefrühstückt.

Bevor Hanna ins Bad ging, öffnete sie ihren Kleiderschrank. Sie suchte die Stapel von T-Shirts durch und zog schließlich ein schwarzes Shirt mit Carmen-Ausschnitt und auffälligem roten Mohnblumenaufdruck hervor. Ein geliebtes Erinnerungsstück. Sie hatte es sich extra während ihres letzten Urlaubs in Griechenland in einem Geschäft bedrucken lassen, weil sie Mohnblumen so gern hatte. Dazu warf sie sich ihre Lieblingsjeans, die entsprechend ausgewaschen war, über den Arm. Sie drehte das Wasser in der Dusche auf, damit es sich erwärmte.

Die Zwischenzeit nutzte Hanna, um sich eingehend im Spiegel zu betrachten.

Akribisch suchte sie nach jedem Fältchen in ihrem Gesicht, das vielleicht über Nacht gekommen war, um dann beinah erstaunt festzustellen, dass sich rein gar nichts verändert hatte.

Hannas Gesicht war immer noch verhältnismäßig glatt, der kleine Pigmentfleck auf der linken Wange leuchtete ebenfalls immer noch weiß und der digitale Wert auf der Waage fiel wie schon seit Jahren immer noch höher als erhofft aus.

Nachdem sie sich geduscht und angezogen hatte, bürstete sie ausgiebig ihre Haare.

Wie oft wurde Hanna schon um ihre dunkelblonde dichte Haarpracht beneidet, die ihr Gesicht wie eine Mähne umrahmte. Meistens bändigte sie sie jedoch mit einer roten Spange.

Hanna ging die Treppe hinunter und setzte sich in die Küche an die Theke. Sie wollte zumindest noch einen Kaffee trinken, bevor sie losfuhr.

Außerdem hörte sie jeden Morgen, bevor sie irgendetwas anderes tat, zuerst die Nachrichten. Sie schaltete das kleine Küchenradio ein und musste feststellen, dass sie sie knapp verpasst hatte. Sie schüttelte kurz den Kopf über ihre Trödelei. Aber Musik war ihr für den Start in den Tag mindestens ebenso recht und so wiegte sie ihren Kopf im Rhythmus von Haddaways »What is love«.

›Baby don’t hurt me, don’t hurt me, no more‹, sang sie leise vor sich hin.

Lange konnte Lennart nicht weg sein, der Kaffee in der Thermoskanne war noch heiß.Gedankenverloren sah Hanna durch das Küchenfenster in den Garten. Diesen Blick liebte sie.

Von hier aus sah sie über den Rasen und die Hecke hinweg auf das Getreidefeld des benachbarten Bauern. Im Sommer, wenn die Ähren in voller Reife standen, mischte sich in das Gold des Getreides das tiefe Rot von Mohnblumen.

Wie oft hatten Lennart und sie geplant, in die Stadt zu ziehen. Das waren die Momente, in denen beide weg von hier wollten, »raus aus der provinziellen Gartenzwerg-Atmosphäre« wie Lennart ihr Vorstadtleben gern nannte.

Hanna amüsierte dieser Einwand und sie zog ihn damit auf, dass er selbst doch vom Lande komme.

Eben deshalb, entgegnete Lennart dann, er wisse immerhin, wovon er rede. Anders als Hanna, die als Hamburgerin bis zu ihrem Umzug in diese Wohnung nur das Großstadtleben kannte.

Saßen Hanna und Lennart jedoch miteinander auf den Hockern an ihrer Küchentheke und genossen diesen Blick, dann waren das die Momente, die sie zum Bleiben brachten.

Inzwischen sangen 4 non blondes »What’s up«.

Hanna blieb noch eine Weile sitzen, um es bis zum Ende anzuhören. Gefiel ihr ein Lied, dann hörte sie es grundsätzlich bis zum Ende an, sei es im Auto, zu Hause oder in einem Lokal. Selbst wenn es bedeutete, einen Termin zu spät zu erreichen.

Um 10 Uhr hatte sie den ersten Mandantentermin. Aber eigentlich diente der ganze Tag nur einem einzigen Zweck, nämlich auf den letzten Mandantentermin zu warten.

Der letzte Termin hieß Natalie Schabbatz, die die Anwältin zuhause besuchen wollte.

Seit Natalie gestern in Hannas Kanzlei aufgetaucht war, hatte sie eine Flut von Gedanken, Bildern und Erinnerungen überrollt, die sie zutiefst aufwühlten.

Es waren Bilder von Menschen, die Hanna vor langer Zeit gekannt, gemocht und später verloren hatte.

Erinnerungen an kalte Nächte … wärmende Lagerfeuer … Geländespiele… schwarze Jacken … Stahlkappenstiefel … blaue Röcke, weiße Blusen … still gestanden…rührt euch … die Augen links … vorwärts Marsch … rot-weiße Fahnen mit schwarzen Odal-Runen … Kampflieder zur Gitarrenbegleitung gesungen …

Es war, als kehrte ein Teil ihrer Jugend zurück, ganz so, als wollte er sich langsam wieder in ihrem Leben ausbreiten.

Und da war sie wieder, diese große dunkle Welle.

Genau wie gestern schon … auf dem Nachhauseweg.

Als Hanna gegen 17 Uhr in die Straße einbog, wo die Adresse von Natalie lag, begann es gerade leicht zu nieseln.

Was für eine Tristesse, dachte sie angesichts der grauen Wohnblöcke, deren Putz bereits abblätterte, was sie auch im Nieselregen noch verschwommen wahrnahm. Nie zuvor war Hanna in diesem Viertel, nichts hatte sie bisher je hier zu tun.

Sie hatte einige Mühe, gleichzeitig den schweren Aktenkoffer, ihre Handtasche und zudem noch den Regenschirm zu halten. In gebeugter Haltung, um der kalten Nässe zu entgehen, das Gesicht zu einer Fratze zusammen gezogen, erkämpfte sie sich den Weg zur richtigen Hausnummer.

Vor dem Haus Nr.23 stehend, suchte sie auf den verblassten Klingelschildern den Namen Schabbatz.

Kaum hatte sie den Klingelknopf gedrückt, war kräftiges Hundegebell zu hören. Das Summen des Türöffners erklang und Hanna drückte die schwere Haustür auf.

Sie fühlte eine Mischung aus Beklommenheit und Neugier, als sie die vier Treppen in den zweiten Stock hinaufstieg.

Aus den Türen im Treppenhaus kroch der Geruch von gekochtem Essen.

Hanna spürte Armut und Hoffnungslosigkeit.

Als sie endlich Natalies Wohnung erreicht hatte, erwartete sie ein großer, kräftiger Mann in weißem Unterhemd, schwarzer Jogginghose und einem bis zum Rücken reichenden ergrauten dünnen Pferdeschwanz. An seinem mit Drachen und Schlangen tätowierten Arm hielt er ein dickes Lederhalsband, an welchem wiederum eine bedrohlich knurrende Kampfhund-Mischung hing.

»Sperren Sie bitte den Hund weg«, sagte Hanna kurz.

»Wer sagt das?«, murmelte der Pferdeschwanz-Typ undeutlich.

»Ich … mein Name ist Friedberg … ihre Tochter, ich nehme doch an, dass es ihre Tochter ist, hat mich gebeten, ihre Verteidigung zu übernehmen.«

»Nein, ist sie nicht.«

»Kann ich vielleicht trotzdem reinkommen?«

Der Pferdeschwanz und sein Kampfhund traten zur Seite und ließen die Anwältin vorbei in die Wohnung.

»Gerade aus, da wo die Musik dröhnt«, erklärte er mit einem Grinsen im Gesicht.

Aus dem Zimmer am Ende des Flures wummerten Hanna dumpfe Rhythmen entgegen. Aggressiv-kreischende Stimmen erfüllten die gesamte Wohnung. Hanna erhaschte einige Wortfetzen, die meisten undeutlich.

»Im Sturm voraus« und »Vorwärts Germanen« meinte sie zu hören.

Zunächst klopfte sie zaghaft, dann pochte sie kräftig gegen die Tür. Die Musik verstummte ruckartig.

»Was willst du?«, rief es von drinnen.

Die Anwältin gab sich zu erkennen und Natalie öffnete die Tür.

Als Hanna in ihrem Zimmer stand, blickte sie sich zunächst einige Sekunden lang um.

Die Stimmen kreischten und wummerten immer noch in ihrem Kopf, obwohl die Musik bereits abgestellt war.

Sie stand in einem kleinen, schmal geschnittenen Zimmer.

Außer einem Kleiderschrank, dessen Tür halboffen stand, einem Schreibtisch, der mit Red Bull Dosen und Chips-Tüten übersät war und einem Regal, auf dem sich jede Menge DVD’s stapelten, gab es nur noch das Bett, auf dem Natalie saß.

An der Wand über ihrem Bett hatte sie mit Reißzwecken eine schwarzweiß-rote Flagge befestigt.

Von der gegenüberliegenden Wand starrte ein martialisch ausgestattetes Phantasiewesen auf jeden Besucher herab, halb Mensch halb Drache, das Maul mit riesigen Zähnen weit aufgerissen.

In der einen Pranke hielt es ein Schwert in die Höhe, in der anderen schwang es eine Peitsche.

»Wer ist der Mann, der mich rein gelassen hat?«, fragte Hanna.

»Roland, der Freund von meiner Mutter … ist’n Arschloch … aber immerhin hat sie sich keinen Kanaken angelacht … naja, wenigstens ist er deutsch …« sagte Natalie in gleichgültigem Tonfall.

Naja, wenigstens das, dachte Hanna voller Ironie und schämte sich im nächsten Moment dafür.

Sie blickte sich nach einer passenden Sitzgelegenheit um, fand jedoch keine und setzte sich kurz entschlossen neben Natalie auf die Bettkante.

»Und wo ist deine Mutter?«

»Sie schläft…sie ist krank«, antwortete Natalie nach kurzem Zögern.

Etwas an ihrem Tonfall und ihrem Blick, der jeden Augenkontakt mit Hanna vermied, ließ sie aufhorchen.

Sie spürte sofort, Natalies Mutter lag sicher nicht mit Grippe im Bett. Hanna vermutete, es steckte eine schwerwiegendere Erkrankung dahinter.

Betroffen sah sie Natalie an.

Wie sie da auf dem Bett mit dem Rücken an die Wand gelehnt, die Beine fest angezogen, kauerte, wirkte sie beinah zerbrechlich.

Was ihrer Mutter fehle, fragte Hanna sie vorsichtig.

»Weiß nicht, sie liegt halt oft im Bett … hat irgendwie immer Kopfschmerzen … ist ja auch ein Scheißleben für sie«, sagte sie kurz.

Seit Natalies Vater die Familie vor fünf Jahren nach zahllosen Wort,- und Gewalteskapaden verlassen hatte, war ihre Mutter in tiefe Verzweiflung gestürzt.

Nicht, dass sie der Ehe mit ihrem Mann je nachgetrauert hätte. Aber die Trennung hatte die kleine Familie in extreme Geldsorgen gestürzt.

Natalies Vater hatte immerhin zeitweise einen Job, während Mutter und Tochter nun vollständig von der Stütze lebten. Also versuchte sie ihre Lage erträglicher zu gestalten, mit Hilfe von Alkohol und ihrer neuen Liebe.

»Findet deine Mutter denn keine Arbeit?«

»Nee, guck dich doch um, überall machen sich die Kanaken breit und nehmen uns die Jobs weg« entgegnete Natalie.

»Ach ja, und da haben sich du und deine Freunde gedacht, ihr zeigt es denen mal richtig und schlagt kurzerhand ein paar von denen krankenhausreif …« entfuhr es Hanna.

Schon im nächsten Moment bereute sie ihre voreilige Bemerkung.

»Jupp«, erwiderte Natalie indes.

Hanna stutze kurz und fragte, was genau denn nun Natalie eigentlich von ihr erwartete.

»Dass du mich verteidigst … ich dachte, du müsstest unsere Gedanken doch verstehen.«

Hanna fühlte, wie vom Hals ab eine Hitzewelle an ihrem Gesicht emporkroch.

Was soll das denn jetzt … wieso … was sollte ich da verstehen … Frechheit …

Nervös löste sie die Spange aus ihrem Haar und drehte sich ihren Zopf neu auf. Nachdem sie ihre Frisur wieder mit der Spange befestigt hatte, erhob sie sich von der Bettkante und ging mit raschem Schritt zur Tür. Bevor sie die Klinke drückte, drehte sie sich noch einmal zu Natalie um.

»Nein, das tue ich nicht. Ich verstehe eure Gedanken ganz und gar nicht. Aber ich werde es mir überlegen, das mit der Verteidigung«, sagte sie schließlich im Hinausgehen.

Nachdem Hanna das Zimmer verlassen hatte, verharrte Natalie noch einige Zeit regungslos auf ihrem Bett. In ihren Augen sammelten sich Tränen, die sie sich mit einer kurzen Geste aus dem Gesicht wischte, sobald sie die Wange herunterliefen. Ihr Atem ging schnell und aufgeregt. Schließlich, als hätte sie eine spontane Entscheidung getroffen, schwang sie sich aus dem Bett, trat an ihren CD-Player heran und schaltete die Musik wieder ein.

Die Stimmen schrien weiter, begleitet von dumpfen Bässen ihre hasserfüllten Texte heraus. Nur schienen sie jetzt noch etwas lauter als vorher.

Natalie trat an ihren Schreibtisch, öffnete eine Schublade und entnahm Schreibblock und Stift.

Nach dieser Begegnung brauchte sie nur noch Mannes Nähe. Und wenn sie ihn schon nicht fühlen, sehen oder sprechen konnte, dann wollte sie ihm wenigstens schreiben.

»Lieber Manne,

hey, alles klar bei dir? Ich glaub, du bist schon heftig lange im Knast. So eine Scheiße, dass sie dich nicht mehr raus gelassen haben. Die Wichser, konnte doch echt keiner wissen. Und gerade jetzt, wo ich so unbedingt mit dir labern will. Ist echt wichtig. Alles fuckt mich total ab. Ich könnte richtig ausrasten. Hab mich schon zweimal mit der einen Anwältin getroffen. Weißt schon, die von der wir dachten, dass sie mich aus dieser ganzen Scheiße rausholen kann. Ich glaube aber, die hat eh kein Plan. Sie fragt mich so behinderte Sachen. Warum wir die Nigger weg geklatscht haben, was die von uns wollten, dies das. Kennst ja die scheiß Fragen und so. Die Alte hat überhaupt kein Plan, was in unserm Kopf abgeht.

Wieso eigentlich nicht? Check ich nicht.

Aber egal, ich scheiß drauf. Geht doch ums Ganze und nicht um den einzelnen. Das ist doch richtig oder, du glaubst doch auch noch daran, oder? Manne, wenn ich von dir doch nur eine Antwort kriegen würde.

Mir geht’s beschissen, ich hab Angst vor der Scheißverhandlung und so. Was dann alles auf uns zukommt und so. Hier zuhause fuckt mich auch alles ab. Roland, der Bastard. Denkt auch wer er ist. Ich dachte schon, er wollte mir eine geben. Hat er aber nicht. Alter, er hat so Glück, dass ich gegen diesen Wichser nichts machen kann. Aber du glaubst nicht, wie dieser Hurensohn geschrien hat. Ob wir eigentlich noch ganz dicht sind und so. Haben bestimmt alle gedacht, wir habn nen Schaden. Mama hat wie immer die Fresse gehalten. Hat sich zu gesoffen und ist die nächsten drei Tage nicht aus ihrem Schlafzimmer raus gekommen. Manne, glaub mir, ich vermiss dich richtig hart!

Kuss, deine Natalie«

Hanna

»Die Augen gerade aus… rührt euch«, schreit Gunnar mit seiner polternden Stimme.

Die Reihe der Jugendlichen stellt einen Fuß nach vorn, alle scheinen sich jetzt etwas bequemer einzurichten.

Ich schaue auf die Füße der anderen und versuche es ihnen gleich zu tun, indem ich ebenfalls schnell einen Fuß nach vorn schiebe.

Ich merke, dass es der falsche ist und wechsele auf den anderen Fuß.

Verstehen tue ich im Moment eigentlich immer noch nichts. Obwohl ich ja schon einmal hier war.

Da war es genauso, da habe ich mir genau die gleichen Fragen gestellt.

Warum stehen wir auf diesem Hof, vor der Fahne, warum spricht Gunnar so streng mit uns, warum müssen wir immer militärische Kommandos befolgen?

Dabei habe ich mich so gefreut, wieder einmal für ein Wochenende von zu Hause raus zu kommen, einige Tage ohne Angst vor Streit, Langeweile und drohendem Ärger verbringen zu können.

Meine Schwester Ragnhild verachtet mich dafür, das weiß ich nur zu gut.

»Geh nicht dahin, die wollen, das alles so wie früher ist«, hat sie mir noch vor einigen Tagen gesagt.

Aber jetzt bin ich hier. Zum zweiten Mal, nein eigentlich zum dritten Mal, wenn ich das eine Mal in diesem muffigen Haus mitzähle.

Mama hat mich vor einigen Monaten gefragt, ob ich in eine Jugendgruppe gehen will.

Wir würden in Zeltlager fahren und tanzen und singen. Und sie hat mir einen Artikel aus einem Heft gezeigt. Darin wurden die Bilder von Jugendlichen gezeigt. Die einen haben lange Haare, sie trinken, rauchen, nehmen Drogen, haben keine Ziele und verbringen ihre Freizeit desillusioniert, mit freudlosem Gesichtsausduck in irgendwelchen Diskotheken. So jedenfalls stand es in dem Artikel. Die anderen dagegen würden mit offenen, fröhlich lachenden Gesichtern in eine hoffnungsvolle Zukunft blicken.

Wenn ich lieber zu denen gehören möchte, könnte ich solche wunderbaren jungen Menschen in dieser Gruppe finden, hat Mama gesagt. Da habe ich eben »ja« gesagt. Mir gefiel der Gedanke, andere Jugendliche kennenzulernen, nettere vielleicht als in der Schule.

Ich weiß auch nicht, was Ragnhild mit «früher» meint.

Ich weiß nicht, wie es früher war. Aber ich traue mich nicht, Ragnhild danach zu fragen. Ich habe Angst, dass meine Schwester mich für dumm hält und auslacht.

Und ich spüre, dass es hier um etwas Großes, um etwas Wichtiges geht, von dem ich keine Ahnung habe.

Also frage ich lieber nicht.

»Gregor, vortreten«, sagt Gunnar jetzt.

Der Junge ist etwas älter als ich, er trägt Parker und Jeans.

Er tritt verlegen grinsend vor.

»Du gehörst jetzt zur heimattreuen Sturmjugend. Du bist einer von uns. Und wir sind keine Langhaaraffen», sagt Gunnar zu ihm.

Gregor trägt seine blonden Haare ein wenig länger als die übrigen Jungen in der Gruppe.

Mir gefällt er, sein Haarschnitt ist nicht so streng gescheitelt wie bei den anderen. Aber jetzt sollen die schönen Locken abgeschnitten werden.

Alle Kameraden stehen unter der eben hochgezogenen Fahne. Wir warten gespannt, wie Gregor sich wohl entscheiden wird.

Gregor hat die Wahl – Haare schneiden oder nach Hause fahren. Fast unbeweglich steht er da, den Blick gesenkt.

In der nächsten Sekunde scharrt er mit der Stiefelspitze im Sand. Er scheint irgendwelche Kreise zu ziehen.

Seinen Blick hält er weiterhin gesenkt.

Wir anderen wagen kaum zu atmen, niemand sagt etwas, die Spannung ist zum Greifen.

Auch ich kann nur noch wie elektrisiert auf diesen Jungen starren und warten, wie er sich wohl entscheiden wird.

Gregor entscheidet sich fürs Haare schneiden.

Vermutlich würden es seine Eltern so wollen.

Also verschwindet er mit Gunnar in dem Bauernhaus, um eine halbe Stunde später wieder zu erscheinen – mit kurz geschnittenen Haaren, exakt über den Ohren gestutzt und ohne hinten noch den Kragen zu berühren.

Ich stelle mir vor, was seine Schulfreunde am nächsten Tag sagen werden, wenn er so in die Schule kommt.

Ob es ihm möglicherweise schon jetzt davor graut? Ob sie lachen, ihn verhöhnen oder gar beleidigen werden?

Ich kenne das so gut.

Ich weiß, wie es ist, anders als alle auszusehen.

Eine (ge)rechte Sache

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