Читать книгу Eine (ge)rechte Sache - Judith Frei - Страница 9

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Hanna und Natalie trafen sich am darauf folgenden Nachmittag im Cafe. Natalie hatte es der Anwältin noch am Telefon deutlich zu verstehen gegeben. Keinesfalls sollte sie sie wieder bei ihr zu Hause besuchen.

Hanna respektierte ihren Wunsch, bestand aber im Gegenzug auf mehr Offenheit.

Mit gelangweilter Miene saß das Mädchen ihr gegenüber und rührte in ihrer Latte Macchiato.

Hanna hatte einen grünen Tee bestellt, den sie zwei bis drei Minuten ziehen ließ, bevor sie dann sorgsam den Beutel ausdrückte.

Das Cafe war zu dieser Zeit nicht sehr gut besucht, nur wenige Tische waren besetzt. Die beiden Frauen wählten einen in der hintersten Ecke und waren also weitgehend ungestört. Fasziniert starrte Hanna auf das kleine weiße Häkeldeckchen, das den runden Bistrotisch knapp bedeckte.

Wie aus einer anderen Zeit … scheint alles irgendwo stehen geblieben …

»Geht es Deiner Mutter wieder besser?«, fragte sie dann, nur um überhaupt das Gespräch zu beginnen.

»Nein, ihr geht’s nie wirklich besser, nur manchmal vielleicht weniger schlecht«, murmelte Natalie tonlos.

»Und was ist mit ihrem Freund? Wieso bezeichnest du ihn als Arschloch?«

»Hey, was geht dich das eigentlich alles an?«, entfuhr es Natalie. Dann starrte sie wieder vor sich auf den Tisch, mit ihrem mürrischen Gesicht, welches Hanna an sich selbst erinnerte und rührte weiter gelangweilt im Latte Macchiato Glas.

Spinnt die jetzt…ist doch wohl das Letzte … wieso gebe ich mich hier überhaupt mit ihr ab … hab Besseres zu tun, als mich von der zum Narren halten zu lassen …

Am liebsten wäre Hanna sofort aufgestanden und hätte das Mädchen hier sitzen gelassen.

Aber irgendetwas in Natalies mürrischen Blick hielt sie zurück.

Sie bemühte sich um Fassung.

»Ich sag dir jetzt mal was. Du bist hier diejenige, die was von mir will. Du hast dich in Schwierigkeiten gebracht und willst jetzt von mir, dass ich dich daraus hole. Aber soll ich dir was sagen, ich habe überhaupt keine Lust dazu. Wenn ich es mir also anders überlegen und deine Verteidigung tatsächlich übernehmen sollte, dann musst du schon mitziehen. Entweder du zeigst dich jetzt kooperativ und beantwortest höflich meine Fragen oder ich verlasse auf der Stelle das Cafe und lehne jeden weiteren Kontakt mit dir ab. Ist das klar?«

Natalie war inzwischen hochrot angelaufen und schaute Hanna verdutzt an.

Deren Worte hatten sie offenbar getroffen, denn sie willigte prompt ein, die Fragen zu beantworten.

»Also, wo und wie hast du deine Freunde kennengelernt?«

Sie verdrehte kurz die Augen, schilderte dann aber den Beginn ihrer Begegnung.

So genau war dieser Beginn indes gar nicht mehr festzumachen. Sie kannten sich bereits, seit sie Kinder waren. Alle vier stammten aus dem gleichen Viertel. Erst spielten sie im gleichen Sandkasten. Später, als Jugendliche hingen sie an den gleichen Orten rum.

Die Sommerabende verbrachten sie gemeinsam auf dem Dach des Müllhäuschens, ausgestattet mit Kästen von Cola, Bier und Red Bull.

Im Winter hockten sie dann miteinander im Fahrradkeller auf dem kalten Steinboden.

Vielmehr hatte das Viertel ihnen nicht bieten können. Mehr ließ das Ambiente der grauen Wohnblöcke nicht zu.

Manne, der älteste von ihnen, hatte schon damals das Sagen. Er wusste, warum sie einen schlechten Start hatten, warum sie vermutlich niemals einen Job bekommen würden und wer ihnen helfen könnte, aus ihrer Lage rauszukommen.

Ronny und Tom hingen an seinen Lippen, wann immer Manne den Mund aufmachte.

Natalie, die jüngste im Quartett verliebte sich in ihn und erlebte einige Monate lang ihre glücklichsten Momente in seinen Armen.

Sie trafen sich meistens bei ihm zuhause.

Viele Stunden verbrachten sie miteinander in seinem Zimmer. Sie redeten und schliefen miteinander.

Manne war für Natalie der erste Mann. Er war ihr Held, mit seinen Begründungen für ihre schlechte Lage und den ständigen Beteuerungen, eines Tages etwas dagegen zu unternehmen. Und so träumte Natalie bereits von einer gemeinsamen Zukunft, mit Job, Haus und Kindern.

»Wir waren alle vier so dicke miteinander und wir hielten immer zusammen wie Pech und Schwefel», schwärmte sie noch jetzt mit glänzenden Augen.

»Und Manne? Bist du noch mit ihm zusammen?«

Natalies Gesicht verdunkelte sich.

»Naja, er hatte dann immer viel zu tun, auf Versammlungen gehen und so, eben für die Sache kämpfen. Da konnte er sich nicht nur an mich binden. Aber er liebt mich, da bin ich sicher«, meinte sie immer leiser werdend.

»Für welche Sache genau hat er gekämpft?«

»Na, dass die Ausländer verschwinden und so.«

»Wer redet euch das ein? Dass die Ausländer schuld sind an euren Lebensumständen und wer weiß was sonst noch?«

»Wieso einreden …, das stimmt doch …, das weiß doch jeder«, meinte Natalie verlegen auf ihrem Stuhl hin und her rutschend.

»Ok, kommen wir auf Jerome und Noah zu sprechen. Was haben die beiden euch getan? Jerome ist 16, Noah 14 Jahre, also beide noch jünger als ihr. Was genau also haben sie deiner Meinung nach mit eurer Lage zu tun?« Schweigend kaute sie auf ihrer Unterlippe herum. »Wirst du mir nun helfen oder nicht?«, fragte sie schließlich ungeduldig.

»Wenn ich dir helfen soll, muss ich es zumindest in Ansätzen verstehen können.«

»Aber wieso kannst du es denn nicht verstehen? Du warst doch auch mal eine von uns«, sagte Natalie mit einem zaghaften Lächeln.

Hanna spürte wieder diese unangenehme Hitze in sich aufsteigen.

Fast hatte sie das Gefühl, jeder im Umkreis könnte ihre glühenden Wangen sehen.

»Wie kommst du dazu, so etwas zu behaupten? Ich war ganz sicher niemals eine von euch«, entfuhr es ihr.

Natalie blickte mit gerunzelter Stirn vor sich auf den Tisch.

Zwischen den beiden entstand ein angespanntes Schweigen.

Plötzlich hielt Hanna es nicht mehr aus.

Eine Welle von Übelkeit überkam sie mit einer Heftigkeit, dass sie nur noch raus wollte. Raus aus diesem Cafe, das ihr mit seinem Wiener-Kaffeehaus-Flair mit einem Mal muffig und beklemmend erschien und raus aus dieser Situation, die sich vor ihrem inneren Auge wie ein schwarzer Abgrund darstellte.

»Entschuldige mich bitte«, sagte sie kurz, legte dann das abgezählte Geld für die Rechnung auf den Tisch und verließ rasch das Lokal.

Für den Moment konnte Hanna nicht anders.

Dieser eine Satz von Natalie, dieses »du warst doch auch mal eine von uns« berührte sie in einer Weise, dass ihr nur noch die Flucht als passender Ausweg schien. Es war, als wäre die große, dunkle Welle ein bedrohliches Stück näher gekommen.

Draußen atmete Hanna erst einmal tief durch.

Die Tage wurden bereits kürzer, aber es war immer noch angenehm warm. Sie nahm den Weg in den angrenzenden Park und setzte sich auf eine Bank.

Direkt vor ihr war ein kleiner See, auf dem einige Enten schwammen. Das Laub an den Bäumen färbte sich schon leicht und sie genoss einen Moment lang die ruhige Vorabendstimmung.

Eine alte Frau kam mit ihrem Rollator vorbei und Hanna dachte unwillkürlich an ihre Mutter.

Sie dachte daran, dass sie bald Geburtstag gehabt hätte. Sie wäre dann mit Lennart nach Hamburg gefahren. Sie hätten ihre Mutter schlafen lassen und erst zum Frühstück geweckt.

Sie hätte dann wie ein Kind strahlend vor Freude vor ihrem Geburtstagstisch gestanden. Hanna hätte ihr ein Ständchen auf der Geige gespielt. Später hätte ihre Mutter die unglaublich vielen Telefonate angenommen und dann hätten alle zusammen einen Ausflug ins Grüne unternommen. Wie sehr sie sich über die einfachsten Dinge freuen konnte.

Dann kam Hanna Ostern in den Sinn. Sie musste unwillkürlich lächeln.

Wir waren bereits lange erwachsen … trotzdem hatte sie immer darauf bestanden, dass sie am Vorabend in der Küche die Eier färbte und eine bunte Wiese aus Götterspeise zubereitete … niemand durfte vorher rein und das sehen … am Nachmittag haben wir dann alle im Garten unsere Osternester gesucht …

Wie gern erinnerte Hanna sich auch an die Abende zuhause, wenn die ganze Familie zusammen Ohnsorg-Theater angeschaut hat. Da kam feierlich die gute Trumpf-Schokolade auf den Tisch, die später, als Ragnhild und Hanna älter waren, gegen Mon Cherie eingetauscht wurde.

Wie haben wir dann alle über Heidi Kabel und Henry Vahl gelacht … wie fröhlich wir miteinander sein konnten … wärs doch nur immer so gewesen …

Seit dem Tod ihrer Mutter, waren es vor allem die schönen Seiten des Familienlebens, an die Hanna oft denken musste.

Vor allem denke ich an die schöne Seite von Mamas Seelenhälfte zurück … die am Ende allein übrig geblieben war … als hätte es die dunkle Seite nie gegebe … ist das wirklich so … in seinen letzten Tagen, Wochen wird der Mensch so sanft … freundlich … voller Demut …

Drei Wochen waren inzwischen vergangen, seit sie fort gegangen war. Wieder überkam Hanna der Schmerz des Verlustes.

Die Trauer ist doch ein hinterhältiger Feind … sie überfällt einen von einem Moment auf den anderen … an irgendeiner Ecke, hinter irgendeinem Blick, einem Geräusch, hinter jedem Geruch kann sie sich verbergen …

Hanna wollte nur noch, dass es aufhörte weh zu tun.

Das Klingeln ihres Handys riss sie abrupt aus ihren Gedanken. Es war Lennart. Wo sie bleibe, wollte er wissen. Machte er sich etwa Sorgen? Hanna kannte das kaum noch von ihm. Wie oft hatte sie sie sich schon erhofft, diese Sorge, diese Bitte bald nach Hause zu kommen, dieses leise Versprechen, sie in den Arm zu nehmen und nach den Ereignissen ihres Tages zu fragen. All das hatte sich Hanna in den vergangenen Monaten oder gar Jahren immer wieder gewünscht, während es immer seltener kam.

Während sie darauf wartete, brütete Lennart meist ohne das Gespräch zu suchen in seinem Zimmer am Laptop über die Fälle des kommenden Tages. Manchmal packte er auch seinen Gitarrenkoffer, weil er einen Gig in irgendeiner Kneipe hatte, oder er ging zum Sport ins Fitnesscenter um die Ecke.

Kaum noch schien er sich dafür zu interessieren, wo Hanna blieb oder wann sie kam.

Und sie nahm es hin, ohne Gründe von ihm zu fordern. Versuchte sie jedoch, sich mögliche Gründe vorzustellen, war es ähnlich wie bei ihrer Begegnung mit Natalie. Da fühlte sie die die gleiche dunkle, große Welle.

Also schob sie ihre Gedanken beiseite und redete sich ein, dass es die Arbeit sei, die sie daran hinderte, gegen ihre zunehmend größer werdende Distanz anzugehen.

Irgendwann würde sie es tun, irgendwann würde sie zu ihm gehen und ihm alles sagen, was sie fühlte, dessen war sich Hanna absolut sicher.

Und jetzt fragte er plötzlich, wann sie käme.

Lennart

Hi Nina, schön dich zu sehen. Es tut so gut, mit dirww zu reden.

Was magst du trinken? Ich hoffe nur, dass ich dich nicht langweile. Aber du bist eine Frau und irgendwie glaube ich, du kannst mir allein schon aus der Frauenperspektive weiter helfen. Und vielleicht kann ich mich ja mal bei dir revanchieren. Dann sitz ich vielleicht neben dir und du erzählst mir von deinen Problemen.

Ich weiß nicht, wann es angefangen hat.

Wann ich das Gefühl zum ersten Mal hatte. Dieses Gefühl, dass sie mir etwas verschweigt.

Ein trauriges, ein einsames Gefühl.

Dabei hatte ich doch immer gedacht, dass es gut zwischen uns läuft. Und dass wir uns vertrauen. Ich vertraute ihr jedenfalls. Naja, sie hatte es irgendwie schwer, damals als wir uns kennenlernten. Ihre Mutter war sehr streng. Anfangs durften wir uns nur heimlich treffen. Ihre Mutter war der Meinung, Hanna sollte erst die Ausbildung fertig machen. Ich fand das komisch und nervig, eben altmodisch. Vor allem kannte ich so etwas von zu Hause nun gar nicht.

Bei uns war Freiheit angesagt, auf der ganzen Linie.

Aber später war doch alles ok. Wir hatten eine tolle Zeit, Hanna und ich. Naja, dass wir keine Kinder haben konnten, war schon schwer für mich. Ich mag Kinder einfach, weißt du…und bei Hanna ging das nicht. Naja, irgendwie hat sie sicher auch darunter gelitten.

Trotzdem hatten wir eine tolle Zeit. Wir haben so vieles zusammen gemacht und auch durch gemacht. Kennst du diesen alten Schlager? Von Katja Ebstein? Wo sie singt, dieser Mann ist ein Mann und er ist mein Mann.

Und wir haben geweint und wir haben gelacht und so weiter und so weiter. Alter Hit aus den 70ern. Dieser Schlager hat mich immer an uns erinnert. Natürlich war ich nicht so toll, wie der Typ im Lied. Brauchst gar nicht so zu grinsen. Aber dieses Ding, dass wir so vieles miteinander teilten, eben gemeinsam weinten und lachten und uns allen Widrigkeiten des Lebens entgegenstellten. Genauso war es immer bei Hanna und mir.

Bis dann dieses Gefühl auftauchte.

Nein, plötzlich war es nicht.

Man wacht ja nicht eines Morgens auf und hat ein Gefühl.

Es kommt vielmehr wie ein schleichender Dämon. Man fühlt, spürt, vermutet, hinterfragt. Aber nie weiß man. Zum Verrückt werden ist das. Und lange bevor am Ende sich alle Gefühle in Misstrauen dem anderen gegenüber verwandeln, beginnt man seinen eigenen Wahrnehmungen zu misstrauen.

Das ist wohl die schlimmste Zeit.

Die habe ich schon hinter mir. Es fällt mir schwer, das zu sagen, aber nicht meinen Wahrnehmungen, sondern Hanna misstraue ich. Ich weiß es. Irgendetwas aus ihrem Leben verschweigt sie mir. Und das zu wissen tut sehr weh. Stell dir das vor, meine Partnerin hat ein Geheimnis und ich habe keine Idee, wie ich sie dazu bringen könnte, mit mir zu reden. Also machen wir irgendwie weiter, Hanna und ich. Nur weniger miteinander, als nebeneinander. Ich mache jetzt meistens mein eigenes Ding. Meine Musik und so. Arbeit haben wir natürlich alle beide jede Menge.

Und jetzt habe ich dich kennengelernt. Du bist so offen. Das gefällt mir so an dir. In diesem Punkt sind wir uns wohl ziemlich ähnlich.

Bist jedenfalls für mich eine richtig gute Freundin geworden.

Als du zum ersten Mal bei meinem Konzert aufgetaucht bist, habe ich sofort diese Wellenlänge zwischen uns gespürt. Allerdings wird mir durch dich wieder klar, was ich mal mit Hanna hatte, welche Gespräche wir führten, was wir alles miteinander unternommen haben.

Wie schön es immer mit ihr im Bett war. Ist inzwischen leider selten geworden. Sorry, ist mir so raus gerutscht. Darüber sollte ich nun wirklich nicht sprechen.

Ich weiß, du bist da ganz anders, du hast mit solchen Offenbarungen kein Problem. Trägst dein Herz auf der Zunge. Aber selbst bei der größten Offenheit habe ich mich noch nicht daran gewöhnt über Intimitäten mit Hanna zu sprechen. Ist aber eigentlich gar nicht so schwer. Vielleicht gewöhne ich mich ja doch noch daran.

Warum Hanna und ich nie geheiratet haben?

Schwierige Frage … naja, ich sag’s mal so … es lag an mir. Ich wollte mich nicht endgültig einfangen lassen. Ich denke, Liebe sollte nicht in ein amtliches Korsett gepresst werden. Besser ist doch, man bleibt in absoluter Freiheit miteinander verbunden.

Du hältst das für snobistischen Blödsinn? Hey, du willst doch selbst nicht heiraten. Ok, aus anderen Gründen, ich weiß.

Jetzt muss ich aber gehen. Hanna kommt gleich nach Hause. Ich werde etwas kochen.

Hanna

Der Wecker klingelt. Ich wache auf.

Es ist Montag. Heute ist herrliches Wetter.

Ich sehe vom Bett aus, dass die Sonne bereits ihre hellen Strahlen durch das Fenster schickt. Ich freue mich aber nicht darüber, ich bin vielmehr unglücklich.

Denn dieses ist wieder ein Tag, an dem ich mich fürchte, in die Schule zu gehen.

Schon das Betreten des Schulgeländes wird für mich zum Spießrutenlauf werden.

Ich werde das braun-weiß gemusterte Perlon-Kleid aus den 60ern tragen müssen, dazu weiße Söckchen und rote, spitze Halbschuhe. Es sind die Sachen, die schon die Tochter einer Freundin von Mama getragen hat.

Für Mama sind das Kleid und die Schuhe immer noch in Ordnung.

»Die Sachen sind noch tadellos«, sagt sie, wenn ich sie nicht anziehen will. Ich weiß, dass Mama und Papa das Haus abbezahlen und daher nicht viel Geld haben.

Da habe ich eben das Pech, dass die Sachen dieser Tochter mir jetzt in den 70ern passen.

Alle tragen Jeans, Boots und T-Shirts. Ich trage ein braun-weißes Perlonkleid mit Rüschenborte, weiße Söckchen und rote Halbschuhe.

»Du musst gegen den Strom schwimmen«, sagt Mama außerdem immer. Seit ich in das Jugendalter gekommen bin, höre ich diese Worte.

Ahnt Mama, wie sehr dieses Motto für mich tagtäglich zur Last wird?

Und warum sagt sie es nur mir und niemals Ragnhild?

Warum muss die denn nicht gegen den Strom schwimmen?

Ragnhild scheint gern in die Schule zu gehen. Sie hat Poster von Barry Ryan und den Lords in ihrem Zimmer hängen, sie geht zum Reiten und in die Tanzstunde.

Ich aber schwimme gegen den Strom, widersetze mich dem Zeitgeist, nicht weil ich es will, sondern weil ich es muss. Dabei finde ich es so ungerecht gegenüber Ragnhild.

Kommt es außerdem nicht auch darauf an, auf welche Weise man sich dem Zeitgeist widersetzt? Ich fühle, dass es nicht meine Weise ist.

Wie gern würde ich meine langen Haare offen über die Schulter fallen lassen, auch mal eine Blue Jeans mit Boots tragen und vielleicht ein modernes T-Shirt dazu.

Aber für Mama kommen lange offene Haare und diese Ami-Hosen, wie sie immer sagt, nicht in Frage.

Und mir bleibt nichts anderes übrig, als es so hinzunehmen.

Denn jedes Aufbegehren hat einen heftigen Streit zur Folge.

Dann schreit und beschimpft mich Mama und sagt kränkende Sachen wegen meiner Schulleistungen.

Und am Ende gehe ich schließlich doch zur Schule, mit hängenden Schultern, gesenktem Blick und dem braun-weißen Perlon-Kleid.

Kaum habe ich das Fahrrad angekettet und mich mit meiner Aktentasche auf den Schulhof begeben, sehe ich die belustigten Blicke der anderen Schüler.

Ich bin es längst gewohnt, daran gewöhnen werde ich mich nie.

Ich betrete das Klassenzimmer und schon werde ich begrüßt, wie ich jeden Morgen begrüßt werde.

»Hey, da ist ja unser hässliches Entlein. Sie sieht ja heute wieder besonders schick aus«, grölt es mir von einigen Jungen entgegen.

Die anderen, auch die Mädchen, grinsen beifällig.

In Schutz nimmt mich niemand.

Ich sage nichts und setze mich auf meinen Platz in der letzten Reihe. Ich werde meinen Kopf kaum noch heben, auf die Tischplatte starren und mir wünschen unsichtbar zu sein.

Dabei habe ich gestern noch so gelacht. Gestern noch, da war alles schön. Da war ich im Lager mit all den anderen. Da hab ich vor dem Zelt Gitarre gespielt, wir haben gesungen, abends ein Lagerfeuer gemacht und ich hab Volkstänze gelernt.

Gestern war ich noch so glücklich, denn gestern war ich die fröhliche, die beliebte Hanna. Da musste ich nicht gegen den Strom schwimmen, da wurde ich nicht gehänselt, da war ich nicht das hässliche Entlein.

Während vorne der Unterricht abläuft, sitze ich hinten an meinem Tisch und bekomme nichts von dem mit, was der Lehrer erzählt.

Meine Gedanken sind woanders.

Ich zähle die Wochen, wann die Zeit, die mir so grau erscheint, endlich vorbei ist und ich wieder ins Lager fahren darf. Aber bis dahin heißt es durchhalten, mich beschimpfen und demütigen lassen und gegen den Strom schwimmen.

Eine (ge)rechte Sache

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