Читать книгу Eine (ge)rechte Sache - Judith Frei - Страница 7

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Leise prasselte der Regen gegen das Fenster. Das Rauschen der Baumwipfel zeugte von leichtem Wind. Hanna lauschte dem Spiel der Natur, während sie in die Dunkelheit starrte. Das Nachthemd klebte an ihrem Körper. Sie schwitzte, nachdem sie sich bereits seit Stunden in ihrem Bett hin und her gewälzt hatte. Es war wieder eine dieser Nächte, in der sie keinen Schlaf finden konnte. Eine Nacht voller Bilder des Grauens und Gedanken schwer wie Blei.

Dabei war es doch nur eine kurze Meldung in der Zeitung gewesen. Einige Zeilen, eine Randnotiz.

»Brutaler Überfall auf zwei Brüder.«

Kurz vor den Osterferien war es. Die beiden Jungen waren auf dem Heimweg von der Schule. Im Bus lauerten sie ihnen auf, beschimpften, beleidigten sie und zwangen sie schließlich zum Aussteigen. Um was es gegangen sei, wurden die Fahrgäste später gefragt. Keiner wusste etwas, man habe nichts mitbekommen, hieß es. Am Ende ließen sie die Beiden auf dem Gehweg liegend zurück. Da lebten sie noch. Einer von ihnen schwebte in Lebensgefahr. Beinah erstickt am eigenen Blut.

Einige Zeilen, eine Randnotiz.

Nicht für Hanna.

Für sie war es die Geschichte zweier jäh und grausam zerstörten Leben. Die Geschichte zweier Menschen mit Gefühlen, Gedanken und Plänen. Sie spürte beinah körperlich, was die Brüder wohl zuletzt, auf dem kalten Pflaster liegend, gedacht und gefühlt hatten. Ob sie wohl am Morgen auf dem Weg zur Schule ahnten, welche schreckliche Wendung dieser Tag nehmen sollte?

Wenn nur diese Nacht endlich vorbei war. Wenn sie doch diese quälenden Bilder aus ihrem Kopf verbannen konnte. Sie versuchte, an etwas Schönes zu denken, an einen Spaziergang mit Lennart im bunten Herbstwald, an ihren Urlaub im vergangenen Jahr in Griechenland. Es gelang ihr nicht. Erst im Morgengrauen, die Vögel begannen schon zu singen, sank Hanna in erschöpften Schlaf.

Hanna liebte das Leben und die Menschen.

Fiel ihr die Liebe zum Leben, obwohl dieses es ihr oft nicht leicht machte, meistens dennoch leicht, wurde ihre Liebe zu den Menschen nicht selten auf die Probe gestellt.

Schließlich musste sie beinah täglich hören oder sehen, was Menschen anderen Geschöpfen anzutun vermochten. Und immer folgten dann diese Nächte. Diese Nächte, in denen ihre inneren Bilder sie wie Dämonen verfolgten und quälten. Dabei musste es sich nicht einmal um eine wahre Geschichte handeln. Da genügte schon ein Film, um vermeintliche Gefühle von Menschen wie ein Schwamm in sich aufzusaugen.

Einzig die Musik war es, die Hanna abzulenken vermochte. Musik hatte sie dann auch für jede Stimmung ihres Lebens. Etwa den Blues von B.B.King, wenn sie in Melancholie versank, den kubanischen Rhythmus von Omara Portuondo, wenn sie in Leichtigkeit schwebte, oder die Lässigkeit von J.J.Cale, die eigentlich immer passte.

Musik. Hanna schien geradezu besessen von immer neuen Rhythmen, Stimmen und Melodien.

Und so oft es ging nahm sie ihre Geige aus dem Kasten, um sich alles von der Seele zu spielen, was ihr das Herz oder Leben erschwerte.

Gerechtigkeit und Musik waren Hannas große Leidenschaften. Schon früh nahmen sie in ihrer Gefühlswelt einen bedeutenden Raum ein.

Allerdings hatte das Schicksal sie mit einer besonderen Gabe ausgestattet. Die Gabe, oder war es nicht doch eher eine Bürde, jedes menschliche Schicksal so ungewöhnlich intensiv in sich aufzunehmen, eben aufzusaugen wie ein Schwamm. Was es auch war, wie oft wünschte sich Hanna endlich frei zu sein. Frei von all den Bildern in ihrem Kopf. Endlich frei von den zermürbenden Gefühlen und Gedanken, denen sie sich immer wieder aufs Neue schutzlos ausgeliefert fühlte.

Kaum jemand ahnte wohl, welche Schwere oftmals auf Hanna lastete. Im Gegenteil, viele schrieben ihr eine fast naive Leichtigkeit zu, nicht zuletzt wegen ihrer unermüdlich gelebten Zuversicht. Nur wer sie wirklich kannte, erspürte bei ihr in seltenen Momenten einen Hauch von Traurigkeit.

Der vergangene Sommer war vom Sterben ihrer Mutter geprägt.

Vom Tag der Feststellung, dass sie an Krebs in fortgeschrittenem Stadium litt, schenkte das Schicksal ihr und der Familie eine Frist von sieben Monaten.

Sieben Monate für letzte Begegnungen, Umarmungen, Blicke und liebevolle Worte.

Tage in einem Schwebezustand zwischen Hoffnung und Angst, Zuversicht und Schmerz. Am Ende blieb nur der Schmerz.

Hanna war beinah erstaunt, wie banal der Tod letztlich in das Leben tritt und wie banal die Umstände sind, unter denen die Angehörigen davon erfahren.

Es konnte jederzeit passieren, bei einer lustigen Gartenparty etwa, während der romantischsten Stelle in einem Film oder bei einem gemeinsamen Essen am Familientisch.

Bei ihr war es an einem sonnigen Vormittag, als sie sich vorbereitete, ihre Mutter im Hospiz zu besuchen.

Hinter Hanna lagen zahlreiche Reisen zwischen München und Hamburg, die körperliche Pflege, das Organisieren von Hilfen, das hilflose Zusehen des gnadenlosen Verfalls ihres Körpers, das angstvolle Abwarten und Abwehren des unerbittlich näher rückenden Endes, der letztlich doch unerwartete, leise Abschied. Der Leidensweg ihrer Mutter lief auch jetzt noch so deutlich vor ihrem inneren Auge ab, als wäre es gestern gewesen.

Nur wenige Tage nachdem Hanna und Ragnhild ihre Mutter beerdigt hatten, tauchte Natalie auf. Sie stand plötzlich in Hannas Kanzleibüro, ohne Termin oder irgendeine vorherige Anmeldung. Ein kräftiges, junges Mädchen, das mit ausdruckloser Miene und ohne einen Gruß mit weit ausholenden, schnellen Schritten direkt durch den Raum auf den großen Schreibtisch zusteuerte.

Hanna hatte kaum Gelegenheit, ihr einen Platz anzubieten, da räkelte sich ihr Gast auch schon nervös vor ihrem Schreibtisch auf dem Stuhl.

Sie schien sehr angespannt zu sein, denn sie kaute unablässig auf ihrer Unterlippe.

Das Mädchen trug eine zerschlissene, schwarze Lederjacke und olivfarbene Hosen. Die Springerstiefel an ihren Füßen waren bereits so ausgetreten, dass sie bei jedem Schritt ein schlurfendes Geräusch verursachten. Ihre kräftigen dunklen Locken waren flüchtig zu einem buschigen Pferdeschwanz zusammengebunden, was ihre mehrfach gepiercten Ohrläppchen hervorhob.

Hanna musterte die junge Frau mit skeptischem Blick. Deren mürrisches Gesicht mit der tiefen Stirnfalte und den zu einem Schmollmund geformten Lippen, erinnerte sie für einen kurzen Augenblick an sich selbst. Aber schon im nächsten Moment überkam sie ein leichter Ärger über den seltsamen Auftritt ihres Gastes.

»Guten Tag, mein Name ist Hanna Friedberg und wie ist Ihr Name?«

»Natalie Schabbatz. Ich brauche eine Verteidigung vor Gericht.«

Gut, das hätten wir dann schon mal geklärt, dachte Hanna ironisch.

»Dann erzählen Sie mal«, sagte sie kurz.

»Meine Freunde und ich, wir haben jemanden zusammen geschlagen. So zwei Typen. Die liegen jetzt im Krankenhaus.«

Drei kurze Sätze, gesprochen mit tonloser Stimme und unbeweglichem Gesicht. Danach verstummte das Mädchen und kaute weiter auf ihrer Unterlippe.

Ratlos beobachtete die Anwältin ihren Gast. Die Weise, in der sie über ihr offenbar begangenes Verbrechen sprach, irritierte Hanna. Das Mädchen schien vollkommen teilnahmslos, während sich vor ihrem eigenen inneren Auge sofort ein Film abspulte. Ein Film, dessen genauen Inhalt sie zwar nicht kannte, den sie aber bereits jetzt als so schrecklich empfand, dass er sie heute Nacht vermutlich wieder schlecht schlafen ließ.

Allerdings regte sich in ihr eine dunkle Ahnung.

In der Zeitung hat es gestanden … letzte Woche war das … über alle Nachrichtensender war es gelaufen … was für eine schlimme Geschichte … Gott sei Dank haben sie überlebt … Jerome und Noah hießen, nein, heißen sie … sitzt jetzt hier etwa eine der Täter…

Die beiden aus Äthiopien stammenden Jungen waren auf dem Heimweg aus der Schule von vier anderen Jugendlichen vorzeitig zum Aussteigen aus dem Bus gezwungen worden. Auf dem Gehweg schlugen und traten sie sie solange, bis sich keiner mehr rührte. Erst ein hinzukommender Passant konnte die Gruppe in die Flucht schlagen und Hilfe rufen.

Die Jungen befanden sich seitdem mit zerschlagenem Gesicht und schweren Kopfverletzungen im Krankenhaus.

Beide lagen noch im Koma, immerhin einer war inzwischen außer Lebensgefahr. Die Zeitungen hatten geschrieben, seine dicke Mähne aus Dreadlocks hätte ihm vermutlich das Leben gerettet. Der andere, jüngere hatte weniger Glück. Ohne die kräftigen Dreads seines Bruders, war sein Kopf den Schlägen und Tritten vollkommen schutzlos ausgeliefert. Die Jugendlichen, drei junge Burschen und ein Mädchen hatten bei der Polizei beharrlich über ihre Motive geschwiegen.

»Nehme ich richtig an, dass es sich hier um Jerome und Noah handelt?«

»Wahrscheinlich, ich weiß nicht wie die heißen«, antwortete Natalie beiläufig.

»Jerome und Noah, sie heißen Jerome und Noah. Warum?«

»Was, warum?«

»Warum habt ihr das getan, warum habt ihr zwei Jungen das angetan, von denen ihr offenbar nicht einmal die Namen kennt?«

»Einfach so, weil sie halt da waren, die haben uns eben genervt. Die nerven eigentlich schon, seit wir die kennen.«

»Ihr kennt sie schon länger? Und womit nerven sie euch?«

»Wie die schon aussehen, die Klamotten und so, der eine mit seinen langen Zöpfen, die gehören nicht hierher, sind eben Schwarze, scheiß Hippies. Nehmen bestimmt Drogen und so.«

Hanna brauchte einige Sekunden, um die Worte auf sich wirken zu lassen. Sie überbrückte das Schweigen, indem sie schnell einige Notizen auf einen Block schrieb.

»Und warum kommen Sie ausgerechnet zu mir? Warum sollte ich Sie verteidigen?«

Das Mädchen warf ihr ein kurzes, ironisches Lächeln zu und antwortete dann knapp:

»Warum wohl? Kannst du dir’s nicht denken?«

Hanna verschlug es die Sprache.

Kannst du dir’s nicht denken?

Als hätte ihr Natalie diese Frage entgegen geschrien, so hallte sie in Hannas Kopf nach. Ob ich es mir nicht denken kann … und, kann ich es mir wirklich nicht denken … oder will ich es mir nicht denken?

Hanna spürte, wie sie sich in der Frage zu verlieren drohte. Also schob sie sie kurz beiseite.

Stattdessen fragte sie sich, woher selbst jetzt noch, nach dem Verbrechen, diese offensichtliche Verachtung gegenüber den Jungen kam. Zwei Jungen, deren Namen sie nicht einmal zu kennen schien.

Und wieso kommt sie hierher … einfach so, unangemeldet … ohne Termin … ohne Benehmen … redet mich plötzlich mit Du an … was wird das hier …

Abgesehen von all dem regte sich in Hanna aber noch etwas anderes.

Tief im Innern wusste sie, warum Natalie Schabbatz ihr das Mandat antrug. Und so genau, wie sie wusste, dass ihr allein der Gedanke an die Verteidigung dieses Falles Widerwillen bereiten würde, so genau ahnte sie bereits jetzt, dass sie es dieses Mal vermutlich nicht ablehnen würde.

Mehrmals schon war Hanna die Verteidigung ähnlicher Fälle angetragen worden. Jedes Mal lief es in der gleichen Weise ab. Ein junger Mensch, aufgrund seiner Kleidung und Äußerungen erkennbar aus der rechten Szene, kam zu ihr, weil er irgendeinen anderen Menschen angegriffen und verletzt hatte.

Auch das Motiv war auf den ersten Blick immer das gleiche.

Der Angegriffene hatte sichtbar eine andere Herkunft oder vertrat eine andere politische Meinung.

Allein damit hatte er die Angreifer genervt oder aus sonst irgendwelchen Gründen gestört.

Auf Hanna setzten die Täter dann ihre Hoffnungen. Ihre Verteidigung und am Ende ihr Plädoyer sollten ihnen ein mildes Urteil verschaffen.

Im Kollegenkreis hatte man sich auch schon entsprechend darüber gewundert. Es handelte sich um eine kleine Kanzleigemeinschaft mit vier Anwälten.

Jeder hatte sein Spezialgebiet.

Niemand von ihnen hatte bisher politisch motivierte Straftäter vertreten.

Immer wieder fragten sie Hanna, warum derartige Mandatsanfragen so häufig auf ihrem Schreibtisch landeten.

Ganz beiläufig antwortete sie dann, dass sie sich ebenso wunderte und selbst keine Erklärung dafür hätte. Vermutlich sei ihr Name irrtümlich in einem Internetverteiler dieser Szene gelandet. Unerhört sei das und ja, sie müsse dem nachgehen.

In Wirklichkeit aber traute sie sich nie zu fragen, wie sie auf ihre Kanzleiadresse gekommen waren.

Vielleicht, weil sie die Antwort immer geahnt hatte.

Bisher wollte Hanna diese Fälle auch nicht annehmen.

Diebstahl, Raub, kleinere Betrugsdelikte, das war ihr Gebiet. Sonderlich lukrativ war das nicht, aber es gefiel ihr und sie hatte ihr Auskommen.

Als Anwältin setzte sie sich durchaus gern ein für die Menschen, die diese Taten begangen.

Meist waren sie irgendwo auf ihrem Lebensweg ins Straucheln geraten und dann vom Weg abgekommen.

Hanna fand, dass könnte jedem Menschen passieren. Jeder hat seine ganz eigene Schwachstelle, kann irgendwann an einen kritischen Punkt kommen und dann wäre es gut, wenn ihm jemand hilft da raus zu kommen.

Straftaten, wie sie jetzt dieses Mädchen und ihre Freunde begangen hatten, lehnte sie immer wegen Mangel an Kapazitäten ab. Jedenfalls begründete sie damit ihre Ablehnung den Mandanten gegenüber.

In Wirklichkeit wollte Hanna keinen Ärger haben. Nicht mit irgendwelchen Gruppierungen, nicht mit ihren Kollegen und nicht mit sich selbst.

Und auch nicht mit ihrer Mutter.

Allein der Gedanke daran, ließ Hanna für einen Moment zusammen zucken.

Aber dieses Mal war es anders.

Zum ersten Mal ließ Hanna eine ernsthafte Überlegung zu, ob sie den Fall annehmen würde oder nicht. Sie fragte sich, ob ihr wohl erst der Tod ihrer Mutter eine solche Überlegung gestattete.

»Ich kann Dir jetzt noch keine Zusage geben. Es kommt ganz auf dich an. Wir sollten uns morgen treffen. Ich brauche eine erste ausführliche Stellungnahme. Davon werde ich abhängig machen, ob ich dich vertrete. Du bist minderjährig, ich müsste also auch mit deinen Eltern reden. Ist es ok, wenn ich so gegen 17 Uhr zu dir komme?« sagte Hanna.

Mit ihrem mürrischen Gesicht, die Arme verschränkt, schaute Natalie sie von unten herauf an:

»Was soll das? Wieso bei mir zuhause? Meine Alten gehen dich nichts an.«

»So oder ich lehne sofort ab«, erwiderte Hanna kühl.

Als sie an diesem Abend in ihrem kleinen Jeep nach Hause fuhr, verfiel Hanna ins Grübeln. Sie fuhr mit offenem Verdeck und atmete den lauen Abendwind ein, während sie den Wagen durch die Stadt lenkte.

Ob Lennart wohl schon zu Hause war?

Wenn ja, dann würde er vermutlich was kochen. Er kochte gut, jedenfalls besser als sie selbst.

Soll ich ihm von meiner heutigen Begegnung mit Natalie Schabbatz erzählen?…ich weiß nicht… wahrscheinlich würde er meine Gedanken und Bedenken verstehen … ich denke doch …

Früher war’s jedenfalls so … wir konnten immer reden … egal was los war … er hielt eigentlich immer zu mir … ich wusste, selbst wenn kein einziger Mensch in meinem Universum zu mir hielte, er würde trotzdem an meiner Seite sein …

Wenn Hanna Streit mit ihren Eltern oder ihrer Schwester hatte, kam von Lennart prompte Unterstützung.

Ihr selbst war es immer schwer gefallen, ihrer Familie gegenüber für sich einzustehen.

Betrachtete sie ein gehaltenes Plädoyer als misslungen, baute er sie wieder auf.

Allerdings lagen die Zeiten einer solchen vertrauten Übereinstimmung lange zurück.

Wann ist das passiert … und warum … ist einfach nicht mehr wie früher … schon lange nicht mehr …

Hinter ihr hupte es. Für einen Moment war sie so in Gedanken, dass sie nicht mitbekam, dass die Ampel längst auf Grün stand.

Entschuldigend hob sie die Hand und fuhr weiter.

Lennart und Hanna hatten sich immer auch über ihre Fälle ausgetauscht.

Aber jetzt war sie sich plötzlich nicht mehr sicher, ob sie wirklich mit ihm über den aktuellen Fall sprechen konnte.

Als Jurist hatte er einen anderen Weg eingeschlagen als Hanna. Lennart war Staatsanwalt geworden. Während ihres gemeinsamen Lebens hatte der Umstand, dass sie auf gegenüberliegenden Seiten des Strafrechts standen, nicht selten Konflikte ausgelöst.

Aber das war es nicht allein.

Haben wir uns vielleicht zu sehr in unsere Arbeit verrannt … oder, haben wir vergessen miteinander zu leben …

Vielleicht wäre alles anders, wenn wir Kinder gehabt hätten … wir wollten ja, aber das Schicksal hat anders entschieden … und wir dachten immer, wir bekommen es trotzdem hin … war das vielleicht ein Irrtum?

Nicht, dass sie je wirklich gestritten hätten. Gerade das schätzte Hanna so an ihrer Beziehung.

Zwischen ihnen hatte es sie nie gegeben, die hässlichen Szenen, das Geschrei, die Beleidigungen, das Türenknallen, Porzellanzerschlagen, das tagelange Schweigen.

Eben diese Szenen, wie Hanna sie von zuhause kannte.

Sie wusste auch von keiner Affäre, die einer von beiden je gehabt hätte. Nein, alles das hatten sie sich immer erspart.

Und trotzdem war es zwischen ihnen schon lange nicht mehr, wie es einmal gewesen war.

Nur warum, fragte Hanna sich jetzt.

Sie waren jeder immer mehr ihre eigenen Wege gegangen, hatten immer seltener miteinander geredet, hatten irgendwann dieses unausgesprochene Einverständnis verloren.

War ich das … hab ich selbst möglicherweise eines Tages diesen Weg eingeschlagen … oder war es nicht doch vielmehr Lennart, der sich zuerst von mir zurückgezogen hat … ganz allmählich … schleichend … am Anfang kaum wahrnehmbar …

Sie fand es mit einem Mal seltsam, dass ihr die Gedanken über ihr Zusammenleben mit Lennart gerade heute kamen.

Während Hanna weiter nachhause fuhr, begann sie sich mit jedem Kilometer mehr darüber zu wundern.

Lag es an dem unerwarteten Besuch dieses Mädchens?

Hanna war müde.

Ein langer Arbeitstag lag hinter ihr, der eigentlich gut gelaufen war, an dessen Ende aber die Begegnung mit Natalie Schabbatz stand.

Hatte sie da wirklich noch die Kraft, sich mit solchen Problemen auseinanderzusetzen?

Inzwischen hatte Hanna die Stadt hinter sich gelassen und fuhr in zügigem Tempo die Landstraße entlang. Der Wind wurde etwas kühler, was sie im Moment als wohltuend empfand.

Während Hanna ihren Jeep nach Hause lenkte, spürte sie ganz deutlich, dass hier etwas auf sie zukam.

Etwas, dessen Verlauf und Ende sie nicht einschätzen konnte. Eine große, dunkle Welle, die da auf sie zurollte.

Mit diesem Gefühl schloss Hanna endlich die Haustür auf.

»Hanna … gab’s was Besonderes? Du siehst erschöpft aus«, meinte Lennart und gab ihr einen kurzen Kuss auf die Wange.

»Hallo Lennart», sagte sie nur matt.

Sie fühlte sich in der Tat erschöpft.

Ein Wirrwarr an Gedanken, einzeln kaum zu benennen, schwirrte ihr im Kopf herum.

Er schaute sie fragend an, während sie sich wortlos an die Theke in der Küche setzte. Der Tisch war bereits gedeckt. Lennart füllte Rotwein in die Gläser.

Sie stießen kurz miteinander an.

Im Hintergrund lief »Me and Bobby McGee« von Janis Joplin. Eine von Lennarts Lieblings-CDs.

Alle ihre großen Hits waren darauf vertreten. Er legte sie gern auf, wenn er für sich und Hanna kochte. Und Hanna hörte sie gern, weil sie mit den Liedern in diesem Ritual das schöne Gefühl des Zuhause zu sein verband.

»Freedom’s just another word for nothin’ left to lose«, sang sie unwillkürlich leise mit.

Der erste Schluck des Weins lief samtig ihre Kehle hinunter und in Hanna breitete sich eine wohltuende Entspannung aus.

Sie beobachtete Lennart, wie er mit dem Rücken zu ihr die Nudeln vom Herd nahm und in ein Sieb schüttete.

Fast gerührt bemerkte sie, wie seine blonden Locken hinten etwas lichter wurden.

Er war gut fünf Jahre älter als Hanna, aber sein Alter war ihm eigentlich kaum anzusehen.

Er hatte noch die gleiche sportliche Figur und eine Lässigkeit in seinen Bewegungen, die sie immer schon an ihm fasziniert hatte.

Es war die Art Lässigkeit, die bei Frauen gut ankam. Die souveräne Lässigkeit eines Musikers und in Freiheit aufgewachsenen Mannes.

Da tat sicher auch der charmante österreichische Dialekt sein Übriges.

Aus Kärnten stammte er, aus einem sehr kleinen Dorf. Kennengelernt hatten sie sich in Hamburg. Ihr fiel ein, wie weit weg damals seine Heimat war. Heimweh war ihm kaum anzumerken, erinnerte sie sich jetzt. Vermutlich hatte er es mit seiner Gitarre überspielt. Immer waren Lieder in österreichischem Dialekt dabei. Auch bei seinen Auftritten auf kleinen Kneipenbühnen. Wenn er dann einen Alpen-Blues sang, schmolz sicher nicht nur Hannas Herz.

Grundsätzlich gönnte sie ihm seinen Erfolg. Auch bei den Frauen. Hanna gestand sich ein, dass es sie geradezu stolz machte. Gleichwohl sie dadurch ständig fürchten musste, ihn eines Tages an eine andere zu verlieren.

Aber sie hatte ihn schließlich so kennengelernt.

Schon damals waren er und seine Gitarre unzertrennlich.

Wenn er während des Studiums gerade knapp bei Kasse war, hatte er sich spontan in der Spitalerstraße auf den Boden der Fußgängerzone gesetzt und sein Problem vorerst mit Hilfe einiger Songs gelöst.

Im Grunde war er schon damals mehr Musiker als Jurist … einen ehrbaren Beruf wollte er halt erlernen … andererseits ist er ein toller Staatsanwalt … nicht so vorverurteilend wie manche Kollegen … plädiert mild … nein, das ist es nicht … unkonventionell … nein, das trifft es auch nicht … ach ich weiß nicht … eben anders … vielleicht mit mehr Verständnis für das Menschliche?

Auch Hanna spielte in ihren jungen Jahren Gitarre. Früher hatten sie oft zusammen gespielt. Sie hatten gemeinsam »Me and Bobby Mcgee« geklimpert. Oder Hannas Lieblingsstück »Ode to Billie Joe«. Sie hatte dann gesungen, weil ihre Stimme zu dem Lied besser passte als seine und es doch ohnehin der Text einer Frau war.

Erst vor einigen Jahren hatte Hanna dann begonnen Geige zu spielen. Allerdings ist das ein eher einsames Musizieren.

Jedenfalls für sie, die im Gegensatz zu Lennart nicht vor anderen Menschen auf der Bühne, sondern zurückgezogen in ihrem Zimmer spielte.

Sie überlegte noch einen kurzen Moment, während sie ihn über den Rand ihres Weinglases hinweg beobachtete. Aber eigentlich war es ihr ja bereits auf der Fahrt klar.

Über Natalie Schabbatz würde sie heute nicht mehr mit ihm sprechen. Die Erklärungen, die Antworten, die Begründungen, die ein solcher Fall aufwerfen würde, all das war ihr im Moment zu viel.

Hanna brauchte erst einmal Zeit und Muße, sich klar zu werden, sich ihre eigenen Gedanken zu machen.

Jerome

Zuerst ist da diese Erschütterung, die durch meinen Kopf geht. Dann ein Knacksen, dann nur noch dumpfer Schmerz. Er nimmt mir fast den Atem, so unerträglich ist er.

Es ist meine Nase, die zerbrochen ist.

Dann kommt der rechte Wangenknochen, der Kiefer und schließlich einige Rippen. Unerbittlich trommeln die Fäuste, treten die Stiefel mit den Stahlkappen auf mich ein. Ich spüre nur noch Schmerzen. Alles, mein ganzer Körper scheint aus einem einzigen unerträglichen Schmerz zu bestehen.

Zwischendurch höre ich ihre Stimmen.

»Scheiß-Nigger« grölen sie.

»Weiter so, macht sie fertig«, kann ich hören.

Mein Gott, was für schreckliche Angst ich habeTodesangst. Was, wenn die erst aufhören, nachdem ich tot bin?

Ich will nicht sterben, bitte lieber Gott … aber es tut so unerträglich weh … ich will nach Hause … bitte …

Und Noah? Mein Gott was ist mit Noah … hab ihn gerade noch gehört … er hat so geschrien, ich halt das nicht aus … bitte lieber Gott, mach dass sie aufhören … Noah …

Mein Lederhalsband zerreißt und das schwarze Amulett schlittert leise surrend über den Asphalt. Aus den Kopfhörern neben meinem Kopf ist noch das tschak tschak tschak eines Hip Hop Liedes zu hören, als ich längst auf den Steinplatten des Fußwegs liege. Irgendwo, wie aus weiter Ferne höre ich Noahs Schreie …

Ich würde gern aufstehen und weglaufen. Aber jeder Versuch verpufft ins Leere. Ich spüre Lähmung und immer wieder diesen Schmerz und die Angst.

Etwas läuft warm über meine Lippen.

Es ist das Blut aus meiner Nase.

Ich spüre, dass ich es nicht schaffe, aufzustehen und wegzulaufen.

Irgendwie lasse ich los. Versuche nichts mehr. Lasse alles nur noch über mich ergehen. Die Schläge, die Tritte, die Schmerzen, die mich so umhüllen, dass ich sie beinah gar nicht mehr fühle. Die Angst, die langsam von mir abfällt.

Noahs Schreie, die aufgehört haben. Alles an mir ist taub. Ich lasse los. Irgendwann wird es vorbei sein. Vielleicht bin ich dann tot. Fühlt es sich so an? Das Sterben? An einem schönen Tag, gegen Mittag? Hier auf einem verdreckten Fußweg?

War das wirklich schon alles?

Es ist am späten Mittag.

Der Bus ist sofort weitergefahren, nachdem wir ihn drei Haltestellen früher als gewöhnlich verlassen haben.

Dabei wollten wir einfach nachhause fahren, gut gelaunt, mit lässigem Hip Hop im Ohr.

Ich freute mich, weil der Musiklehrer mir an diesem Tag in der letzten Stunde mein Musikprojekt genehmigt hat, um das ich so lange gekämpft habe. Eine Reggae-Band will ich gründen, gemeinsam mit den Schülern aus meiner Klasse, ich selbst am Schlagzeug.

Nicht alle sind dabei, aber immerhin die meisten.

Ich habe mir das schon genau ausgemalt, wie wir in einer Combo mit vierzehn Jugendlichen auf der Bühne stehen und alle mit unserem Sound begeistern werden. Sogar Dreadlocks habe ich mir dafür wachsen lassen, damit wenigstens einer von uns wie ein echter Reggae-Musiker aussieht.

Und heute hat es mir der Musiklehrer endlich erlaubt und auch der Rektor hat grünes Licht gegeben.

Ich darf mit meiner Band in der großen Aula üben.

Immer wenn kein Schulbetrieb herrscht. Ich habe sogar einen Schlüssel dafür bekommen, falls der Hausmeister nicht da ist. Was für ein Vertrauen, hab ich da noch gedacht. Mann, war ich stolz. Beim großen Jahresabschlussfest vor den Sommerferien sollen wir dann auftreten. Der ganzen Schule sollen wir zeigen, was wir drauf haben.

Wie habe ich mich darüber gefreut.

Aber jetzt ist alles anders.

Da stehen sie plötzlich vor mir und Noah, rempeln uns an, beleidigen uns. Sie fordern uns auf, sofort auszusteigen. Zu viert sind sie, wir haben keine Chance.

Hilfesuchend sehe ich mich nach allen Seiten um.

›Merkt denn keiner, was die hier machen‹, frage ich mich verzweifelt.

Aber niemand im Bus scheint uns und unsere Angst zu bemerken.

Die meisten schauen aus dem Fenster und mancher einfach nur vor sich auf den Boden.

Warum sagt denn keiner was, denke ich. Aber niemand sagt etwas, niemand hilft uns. Immer schneller schlägt mein Herz. Ich fühle Panik. Im Stich gelassen fühle ich mich.

Ich schaue zu Noah. Mein kleiner Bruder. Er sitzt neben mir. Ganz still ist er. Hat seine Augen weit aufgerissen. Plötzlich steht er auf. Ich greife nach seinem Arm, will ihn zurückhalten, erreiche ihn nicht. Fast mechanisch bewegt er sich auf die geöffnete Tür zu.

Also steige ich mit aus.

Warum ich das tue, werde ich mir später selbst nicht mehr erklären können. Ich hätte doch Hilfe holen können, warum also…

Es ist eher ein Automatismus als eine Entscheidung, eher Panik als eine klare Überlegung.

Dann geht alles ganz schnell.

Der Schlag gegen meine Schläfe, der Aufprall meines Körpers auf dem Asphalt, meine Angst, mein unerträglicher Schmerz. Zwischen alldem die Schreie von Noah.

Wie gut, dass ich inzwischen meine dicken Dreads unter der Mütze habe, denke ich noch, als mein Kopf mit einem dumpfen Geräusch auf dem harten Boden aufschlägt.

Zuletzt sehe ich in ihre hasserfüllten Gesichter, höre ihre hässlichen Worte.

Warum dieser Zorn, frage ich mich.

Dann wird es dunkel.

Hanna

Mir ist schlecht. Beim Autofahren wird mir immer schlecht. Ich schaue aus dem Fenster. Wenn die grünen Felder an mir vorbeiziehen, geht es etwas besser. Zwischendurch schließe ich meine Augen. Auf keinen Fall will ich, dass Mama mich anspricht. Oder mich etwas fragt. Welcher Fluss das gerade war, welcher Ort als nächstes kommt oder wie der große Vogel, dort auf dem Zaun heißt. Das macht sie oft.

Nur selten weiß ich die richtige Antwort. Mama sagt dann immer, dass ich aufpassen und nicht durch die Gegend träumen soll. Aber wenn ich antworten muss, wird mir noch schlechter. Also stelle ich mich schlafend.

Dagegen kann doch niemand was haben.

Während ich mit geschlossenen Augen hinten im Auto sitze, kommen mir die Nachrichten vorn aus dem Radio noch lauter vor. Da reden sie schon wieder über diese Menschen, die offenbar echte Verbrecher sind.

Ganz Deutschland scheint deswegen in Aufruhr. Die Menschen stehen seit Monaten unter dem Eindruck des RAF-Terrors, sagt der Nachrichtensprecher. Die führenden Köpfe der roten Armee Fraktion, die RAF-Terroristen Ulrike Meinhof, Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Holger Meins sind jetzt aber verhaftet worden. Ich höre, wie Mama zu Papa sagt, »die sind sowie ganz schnell wieder draußen. Außerdem geht’s in unseren Gefängnissen zu wie im Hotel«. Papa gibt ihr mit leisem Murren Recht.

Mama ist selten einverstanden, wenn das Radio an ist.

Als im Sommer in München bei den olympischen Spielen

das Attentat war, war sie sogar richtig wütend.

Zehn Sportler aus Israel wurden dabei erschossen. Im Radio sagte damals eine Frau, »In Deutschland wird wieder auf Juden geschossen«. Liebe Güte, hat Mama da auf diese Sprecherin geschimpft. Dass die selbst Jüdin ist und dass das eine Riesenschweinerei ist, was die von sich geben darf. Ich fand eigentlich nur seltsam, dass dieser IOC-Präsident Avery Brundage vor aller Welt verkündete »The Games must go on«. Wo doch gerade so viele Menschen gestorben waren. Immerzu musste ich an sie denken. Tagelang, nächtelang. Daran, wie sie doch gekommen waren, um sich ihren großen Traum zu erfüllen. Wie sie trainiert haben, wie sie voller Spannung auf ihren Start waren. Und jetzt sind sie einfach tot, weil irgendwer das so beschlossen hat.

Zwischen der Bundesrepublik und der DDR wird das Transitabkommen beschlossen, höre ich gerade von vorn aus dem Radio. Ich glaube, das ist mal eine Nachricht, über die Mama froh ist. Wenn wir im nächsten Sommer wieder zu Oma nach Thüringen fahren, brauchen wir dann nicht mehr so umständlich mit dem Zug reisen. Wir dürfen endlich mit dem Auto fahren.

Inzwischen stehen wir in Schleswig an einer Ampel. Meine Übelkeit lässt etwas nach. Wir sind bald da.

Ein junges Pärchen schlendert vor uns Hand in Hand über die Straße.

Das Mädchen trägt knallrote Hot-Pants mit einer bunten Rüschenbluse. Er hat eine Jeans-Schlaghose mit einem engen T-Shirt an. Beide haben schulterlange Haare, die bei jedem Schritt auf und ab wippen. Strahlend lächelt sie ihn von der Seite an. »Guckt euch bloß diese Gammler an« sagt Mama in verächtlichem Ton. Papa sagt nichts dazu. Ich sage auch nichts. Ich finde die beiden eigentlich ganz hübsch.

Die Nachrichten sind vorbei. Gerade fängt Tony Christy sein »Way to Amarillo« an zu singen. Das Lied steht ganz oben in der Hitparade. Ich freue mich, ich mag das Lied. Gerade will ich ein bisschen mitwippen, da ist es auch schon vorbei. »Stell bloß diese Negermusik ab«, sagt Mama. Und Papa drückt auf den Aus-Knopf.

Schade, denke ich.

Langsam rollt unser grauer Mercedes endlich auf den Hof. Direkt vor dem alten Bauernhaus kommen wir zum Stehen.

Neben uns steht eine leicht heruntergekommene Scheune, deren Durchgang zu einem weiteren Hof mit angrenzender Wiese führt.

Aus einem Zwinger dringt das wütende Gebell zweier Schäferhunde.

In unmittelbarer Nähe sind die fröhlichen Stimmen einer größeren Gruppe Kinder und Jugendlicher zu hören.

Mama und Papa steigen zuerst aus. Mama wie immer sehr forsch, Papa eher bedächtig. Ich zögere noch etwas, traue mich nicht. Schließlich öffne auch ich meine Tür und steige vorsichtig aus.

Meine Haare habe ich mit einem Zopfgummi in Form zweier Kirschen zum Pferdeschwanz zusammengebunden. Die Kirschen finde ich wenigstens halbwegs hübsch.

Viel lieber würde ich meine Haare offen tragen. Aber lange offene Haare sind bei uns zuhause verboten.

Auf jeder Seite habe ich jeweils eine kleine Strähne frei gelassen. Als wollte ich zeigen, dass ich eigentlich schöne Haare habe, die ich aber zu verstecken versuche, indem ich sie in dieses Kirschengummi zwänge. Vermutlich denken das andere Menschen, wenn sie mich sehen.

Über der Schulter trage ich meinen großen, blauen Rucksack, der bis oben vollgepackt ist.

Ich verstecke mich etwas unbeholfen hinter Mama, die an der Türglocke des Bauernhauses läutet.

Niemand öffnet. Eine Sekunde lang hoffe ich insgeheim, dass niemand da wäre und wir einfach wieder nach Hause fahren.

Aber Mama dreht sich um und marschiert uns voran in Richtung Scheune.

Also nehmen wir gemeinsam den Weg durch die Scheune und gelangen so, vorbei an dem Hundezwinger, in dem sich die beiden Hunde jetzt rasend vor Wut gegen die Gitter werfen, auf den zweiten Hof.

In der Mitte thront eine große Fahnenstange, an deren Ende eine schwarz-weiß-rote Fahne mit einem Runensymbol in der Mitte, eigenwillig im Wind flattert.

Der Wind weht hier in Schleswig-Holstein allemal kräftig genug, um eine Fahne fröhlich flattern zu lassen, denke ich, während ich die Fahne beobachte.

Ich mag keinen Wind, habe ihn nie gemocht.

Auf der angrenzenden Wiese steht eine Gruppe mit vier größeren weißen Rundzelten. Um die Zelte herum laufen Kinder und Jugendliche beschäftigt hin und her.

Vermutlich sind auch sie gerade erst eingetroffen.

Die meisten Mädchen tragen einen Rock. Dunkelblau mit weißer Bluse. An den Füßen weiße Söckchen und schwarze Halbschuhe. Die die keinen Rock tragen, haben eine schwarze Cordhose an.

Und dazu dann eine weiße Bluse. Die Jungen haben alle eine schwarze Cordhose an. Dazu hellgraue Hemden. Und alle tragen so ein Abzeichen auf dem Ärmel.

Jeans und T-Shirt trägt hier niemand.

Heute sind hier viel mehr Jugendliche, als damals in diesem Haus mit dem muffigen Teppich, in dieser Nacht, in der ich so gefroren habe.

Skeptisch beobachte ich, wie alle miteinander reden, scherzen und offenbar ihre Schlafplätze in den Zelten einrichten. Sie scheinen sich gut zu kennen.

Ein großer, kräftiger Mann mit Stoppelfrisur und Schnurrbart in Kniebund-Lederhosen kommt auf uns zu.

»Heil dir, ich bin Gunnar« begrüßt er mich lachend mit polternder Stimme und derart festem Händedruck, dass meine Hand schmerzt.

Unwillkürlich versuche ich es ebenfalls mit einem lässig dahin geworfenen »Heil dir«.

Aber vielleicht habe ich es auch nur falsch verstanden, also murmele ich dieses »Heil dir« lieber etwas undeutlich, wirklich verstehen tue ich es eigentlich nicht.

Überhaupt weiß ich noch nicht, was ich von diesem Ort und den Menschen hier halten soll.

Alles ist so fremd, es scheint mir fast unwirklich.

Die Jugendlichen sehen alle anders aus, als ich es aus meiner Schule gewohnt bin.

Ist es die Kleidung, sind es die Haare, die Gesichter oder ist es von allem etwas, ich weiß es nicht.

Fast fürchte ich mich vor dem bevorstehenden Wochenende, vor dem Ungewissen. Befremdet versuche ich etwas von dem zu erspüren, was wohl auf mich zukommen wird. Hauptsache, ich friere nicht wieder so, wie damals beim ersten Mal in diesem Haus.

Diesmal schlafen wir in Zelten.

Aber diesmal behalte ich meinen warmen Schlafsack.

Ich sehe das Lachen von Mama, die mit einer so begeisterten Herzlichkeit mit Gunnar spricht.

Und ich sehe die, wenn auch zurückhaltende Freundlichkeit von Papa, der einen anerkennenden Blick über das große Anwesen schweifen lässt.

Mama und Papa nehmen mich jeder zum Abschied in den Arm. Mama meint scherzend, »mach keine Dummheiten«, und Papa wünscht »viel Spaß«.

Dann steigen beide in das Auto und der Mercedes rollt langsam wieder vom Hof hinunter auf die Straße zurück.

Ich winke dem Wagen hinterher, bis er hinter der nächsten Biegung verschwunden ist.

Ich fühle mich verlassen.

Ich weiß, ich werde für dieses Wochenende hier auf dem Hof bei dieser Gruppe zurückbleiben.

Ich heiße Hannelore, aber alle nennen mich Hanna.

Es ist der Herbst 1972.

Ich bin zwölf Jahre alt.

Eine (ge)rechte Sache

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