Читать книгу Augenschön Das Herz der Zeit (Band 3) - Judith Kilnar - Страница 5

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Kapitel 1

Schwankend landete ich in weichem Gras, blieb diesmal allerdings stehen und fiel nicht hin.

Atlas materialisierte sich neben mir, ließ meinen Arm los und sah sich suchend um. »Hier müssten wir zwischen Ost- und Westwiese sein. Dort drüben ist der Hof.«

Ich wollte nicken, als mich plötzlich ungeahnte Übelkeit übermannte. Entsetzt presste ich mir gerade noch die Hand vor den Mund, als ich mich auch schon ins Gras neben mir übergab. Alles drehte sich um mich, während ich Augenblicke später keuchend dastand und nach Luft rang.

»Was ist nur mit meinem Körper los?«, fragte sich eine leise Stimme, der es jedoch nicht gelang, die Leere in mir zu übertönen.

Auf einmal tauchte eine Hand neben mir auf, die ein Tuch hielt, und eine andere strich mir die Haare aus dem Gesicht. Ich wich zurück, nahm Atlas dennoch das Tuch ab und wischte mir über den Mund. Gleichzeitig richtete ich mich auf und versuchte, seinem besorgten Blick auszuweichen. Er fragte sich bestimmt ebenso wie ich, was zum Teufel mit mir los sein mochte.

Zum Glück wurden wir in diesem Moment von lauten Stimmen abgelenkt, die verhinderten, dass Atlas seine Gedanken aussprechen konnte. Ich ging ein paar Schritte zur Seite und stellte mich leicht versetzt hinter ihm auf. Schon wieder war mir übel, diesmal jedoch nicht, weil ich mich gleich hätte übergeben müssen, sondern vor Angst. Angst davor, wie die vielen Leute, die auf uns zukamen, auf all meine Veränderungen reagieren würden.

Als sie näher kamen, erkannte ich, dass die Hälfte der Neles, bestehend aus Tatjana und Mr Starrson, vorneweg schritten, dicht gefolgt von einer großen Gruppe Augenschöner.

Meine Knie begannen zu zittern, die Erschöpfung übermannte mich, während aus dem Stimmengewirr einzelne Sätze zu uns drangen.

»Sie sind zurück! Sie sind zurück!«

»Lucy? Atlas? Verdammt, bin ich froh!«

»Ihr lebt … Zum Glück lebt ihr.«

»Was ist passiert? Wann ist der Kampf?«

»Herrgott, endlich!«

»Dort sind sie! Dort sind sie!«

Je näher die Rufe kamen, umso stärker wuchs das ungute Gefühl in mir. Würden sie enttäuscht sein ‒ sowohl von unseren Neuigkeiten als auch von uns selbst?

Die beiden Neles erreichten uns als Erste – mit erleichtertem Lächeln auf dem Gesicht. Die übrigen Augenschönen plapperten immer noch wild durcheinander, bis sie nur noch etwa zwei Meter von uns entfernt waren, als unvermittelt ein Ruck durch die Gruppe ging.

»Ihr seht furchtbar aus! Was ist passiert?«

»Verdammte Schleifensterne! Ihr seid ja schrecklich zugerichtet!«

»Wurdet ihr in einen Kampf mit den Nächtlichen Geschöpfen verstrickt?«

»Wo ist … wer ist … Lucy?«

Das war die erste Bemerkung, die meine Angst katapultartig wachsen ließ. Ihr folgte verwirrtes Flüstern. Offensichtlich hatte James ihnen nichts von meinen Veränderungen erzählt. Ich wusste nicht, ob ich das gut oder schlecht finden sollte, während ich vor mir auf den Boden starrte und mich bemühte, all die neugierigen und überraschten Blicke, die auf mich gerichtet waren, zu ignorieren.

Schließlich trat Tatjana vor. »Herzlich willkommen zurück. Zum Glück lebt ihr beide noch, obwohl euer Zustand nicht gerade erfreulich ist.«

»Danke«, antwortete Atlas für uns beide. »Aber wie es uns geht, ist nicht so wichtig. Viel entscheidender ist: Bereitet ihr euch schon auf den Kampf vor? Und wenn ja, seit wann?«

Tatjana blinzelte perplex, als Atlas sofort zum Thema kam: »James hatte ‒ wie soll ich es sagen? ‒ einen vorübergehenden Gedächtnisverlust. Er konnte sich nicht mehr so genau an eure Reise erinnern. Erst vor gut einem Monat ist ihm eingefallen, dass wir uns auf einen Kampf vorbereiten müssen. Habt ihr genauere Informationen, wann dieser Kampf sein soll?«

Mir wurde kalt. Vor einem Monat hatte man erst begonnen, Vorbereitungen zu treffen? Vor nur einem Monat hatte man angefangen, sich für den schrecklichsten Kampf in der Geschichte der Augenschönen zu wappnen? Und das würde er zweifellos werden. Ein Monat war zwar besser als nur ein paar Tage, doch würde es trotzdem ausreichen?

»Wir haben nicht mehr viel Zeit, etwa einer Woche«, brachte Atlas die anderen auf den aktuellen Stand. »Darum sollten wir so viel vorbereiten wie nur möglich.«

»Eine Woche?« Tatjanas Stirn legte sich besorgt in Falten. »Das ist … wenig.«

Mr Starrson trat vor. Sein Blick huschte zu mir, und er räusperte sich, damit man ihm die Aufmerksamkeit zuwandte. »Ich freue mich ebenfalls, dass ihr lebend zurück seid. Ähm … und auch wenn wir wenig Zeit haben, möchte ich dennoch erfahren … ähm… was mit dir geschehen ist, Lucy. Ich meine, ähm … du bist doch Lucy, oder?«

Nervös fixierte ich meine Finger, als erneutes Gemurmel aufkam, und rubbelte mir ein bisschen Blut von meinem Handrücken. War es meines? Das der Nächtlichen Geschöpfe? Von Atlas? Ich rubbelte heftiger. Aus dem Augenwinkel bemerkte ich, wie Atlas Mr Starrson empört ansah und den Mund öffnete, doch ich stieß ihm gegen sein Bein. Er sollte mich nicht verteidigen.

»Lucy?«

Tatjanas Stimme war weich, vorsichtig und nicht befremdet oder angewidert. Also hob ich langsam den Kopf und erwiderte den ruhigen Blick ihrer grauen Augen mit meinem blutroten. Doch dann weiteten sich ihre, als auch sie die Veränderung bemerkte, und nun zeichnete sich doch Erschrecken in ihrem Gesicht ab.

»Oh Gott, Lucy!«

Eine Person drängte sich an der Nele vorbei, die die ganze Zeit hinter ihr gestanden hatte, und umarmte mich heftig. »Ich bin so unendlich froh, dass du wieder da bist!« Rose’ Stimme zitterte, und es dauerte eine Weile, bis sie sich wieder von mir löste. Jetzt war ihr weißes Shirt blutbefleckt und ihre Hände und die Jacke ebenfalls, doch sie bemerkte es nicht einmal, oder es kümmerte sie nicht.

»Ich glaube, du brauchst erst einmal Ruhe.« Sie wechselte einen kurzen Blick mit Atlas, bevor sie sich an Tatjana, Mr Starrson und die Gruppe hinter ihnen wandte. »Lucy kommt erst einmal mit mir. Sie muss sich erholen, es geht ihr nicht gut. Später wird sie euch alles erzählen, was ihr wissen wollt.«

Mir wurde erneut bewusst, warum ich Rose so sehr vermisst hatte. Ich war unendlich dankbar für ihren Freundinneninstinkt, der erkannte, dass es mir schlecht ging. Und, wie sie sich sofort wieder um mich kümmerte. Sie legte einen Arm um mich und schob mich an den anderen vorbei. Während wir die Meute vor uns durchquerten, sah ich nicht auf und stolperte unkontrolliert neben ihr her. Niemand sollte die roten Augen sehen. Doch noch während ich mir Gedanken über die Reaktion der anderen machte, merkte ich, dass es mir eigentlich egal war. Was zählte schon, was andere über mich dachten, wenn ohnehin alles seinen Sinn verloren hatte?

Das Laufen fiel mir schwer, und meine Wunden pochten unangenehm schmerzhaft. Ich war froh, als wir uns dem Hof näherten, ihn überquerten und auf das Wohnhaus 2 zuhielten.

Rose schwieg die ganze Zeit über, stellte mir keine Fragen über die Reise oder mein Aussehen, sondern war einfach nur da. Genau das, was ich brauchte.

Das Glas der Eingangstür war beschlagen, und erst jetzt merkte ich, wie kalt es hier war. Mein Atem bildete kleine Wölkchen, und ich bibberte. Rose trug über ihrem langärmligen Shirt eine dicke, gefütterte Jacke. Allerdings hatte sie sie offen gelassen. Vielleicht, weil sie es eilig gehabt und dann vergessen hatte, sie zu schließen?

Meine Beine knickten bei der ersten Treppenstufe leicht weg, und Rose trug mich mehr hinauf, als dass ich selbst gegangen wäre. Bei meiner Wohnungstür ließ sie mich kurz los, um aufzuschließen. Ich lehnte mich gegen die Wand und presste die Stirn dagegen, in der Hoffnung, dass der Schwindel durch die Kühle verschwand.

Rose lotste mich durch die geöffnete Tür und schaltete das Licht an. Ich streifte die Schuhe ab und hängte die zerrissenen Reste meiner Jacke an einen Haken an der Wand.

»Geh unter die warme Dusche. Ich versuche inzwischen, etwas Anständiges zu essen für dich aufzutreiben. Bin gleich wieder da.« Sie drückte mich noch einmal fest, bevor sie durch die Tür verschwand.

Wie ferngesteuert tat ich, was sie mir geraten hatte. Ich schleppte mich ins Bad und stellte das Duschwasser an, damit es schon einmal aufwärmte. Dann wandte ich mich dem Spiegel zu. Eine der Haarbürsten in die Hand zu nehmen, um mir meine zerzausten Haare zu kämmen, war überflüssig. Wie üblich glänzten meine schwarzen Locken seidig. Doch ich achtete kaum darauf. Ich schaute mein Spiegelbild an und versuchte, es mit meinem alten zu vergleichen. Was war alles anders? Was war nicht anders? Doch das Einzige, was mich ansprang, waren die blutroten Augen: die größte Veränderung. Ich starrte mich so lange an, ohne zu blinzeln, bis meine Augen zu brennen begannen und ich mich abwandte.

Einen kurzen Moment betrachtete ich verwirrt die Dusche, überlegte, was ich hier eigentlich wollte, und dann fiel es mir wieder ein.

Ich stieg einfach unter den Wasserstrahl, ohne mir Hose oder Shirt auszuziehen. Das Wasser war immer noch kalt, und ich bemerkte, dass ich den falschen Knauf gedreht hatte. Es war mir egal. Ein trockenes Schluchzen stieg in meiner Kehle auf, und ich torkelte gegen die Wand. Kraftlos ließ ich mich an ihr entlang nach unten gleiten, während das eisige Wasser meine Haare und Kleider überspülte. Ich schlang die Arme um die Knie und starrte ausdruckslos vor mich hin. Immer mehr Wasser durchdrang meine Haare und ließ sie zu leicht kringeligen Wellen werden, die wie ein Vorhang um mich herumfielen und auf dem Duschboden aufkamen.

Es war das erste Mal, seitdem es passiert war, dass ich richtig weinte. Dass Tränen versuchten, meinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen … dass ich die Kontrolle komplett verlor. Ich bemerkte kaum, wie die Kälte in mich eindrang, wie das Bibbern stärker wurde, meine Haut eine Gänsehaut bildete und wie sich der weiße Boden rot färbte von dem Blut, das das Wasser von mir abwusch. Ich bemerkte auch kaum, wie meine Wunden ausgespült wurden und sich langsam verschlossen. Nein, ich bekam das alles nicht wirklich richtig mit, denn die Leere hatte mich verschlungen und mir sämtliche Sinne, Regungen und Gefühle, auch meinen Willen genommen.

Als die dünne Glastür der Dusche geöffnet wurde, ließ mich das Quietschen kurz zusammenzucken. Ich schaute auf, blinzelte das Wasser aus meinen Augen und sah Rose. Ich hatte wohl ihr Klopfen überhört.

Sie war mit einem Stapel sauberer Kleidung beladen, den sie auf dem kleinen Hocker ablegte, bevor sie sich durch den schmalen Spalt zu mir in die Dusche zwängte. Sie war ebenfalls komplett angezogen, und ihre Socken wurden sogleich von dem kalten Wasser durchdrungen.

»Das ist aber eisig!«, war ihr einziger Kommentar. Sie drehte sich zur Wand, um die Temperatur umzustellen.

Kurz darauf flossen die ersten Ströme von wärmerem Wasser über mich und fingen an, die Gänsehaut zu verscheuchen. Rose kam ganz in die Dusche und schloss die Tür hinter sich. Danach ging sie in die Knie und setzte sich neben mich, an die Wand gelehnt. Eine Weile saß sie nur da, sagte nichts und ließ das Wasser sie komplett durchnässen. Schließlich seufzte sie. »Willst du mir sagen, was los ist? Ich weiß, dass es nicht die Reise an sich ist …«

Ich blieb stumm, hob nur leicht den Kopf von meinen Knien und starrte, ohne wirklich etwas zu sehen, auf die roten Schlieren am Boden.

»Du kannst auch von Anfang an erzählen: wie alles losging, was ihr erlebt und herausgefunden habt, aber bitte sag mir, warum du dich so schlecht fühlst.«

Ich hob eine Hand und strich mir zitternd die Haare aus dem Gesicht und hinter die Schulter. Rose lehnte sich leicht an mich und ich spürte ihre Wärme, die durch das am Körper klebende Shirt drang. Ich hatte keine Lust zu reden, doch Rose verdiente es, über alles informiert zu werden. »Es … es fing ganz normal an, aber dann …« Ich schluckte und holte tief Luft. Dann begann ich zu erzählen.

Ich erzählte vom Anfang unserer Reise, dem merkwürdigen Skelett, das wir gefunden hatten, den Nächten im Zelt und dem immer wieder aufflammenden Streit zwischen Atlas und James. Ich schilderte ihr die verschiedenen Schleifen, wie es zur Verfärbung meiner Haare gekommen war und wie die verschiedenen Punkte von der Liste der Prophezeiungen sich immer weiter erfüllt hatten. Sie lauschte schockiert, als ich von dem zerstörten Dorf der Nuvolas berichtete, dem Ausbruch meiner Titanenkraft und dem darauffolgenden Koma, aus dem ich mit roten Augen aufgewacht war und von dem die blasse, nahezu weiße Haut durch die lange Bewusstlosigkeit geblieben war. Ich erzählte Rose von der langen Pause unserer Reise, in der ich mich hatte erholen müssen, und davon, wie ich gelernt hatte, meine Variantmagie zu nutzen. Auch dass James mich gegen meinen Willen geküsst hatte, verschwieg ich nicht, ebenso wenig die ganze darauffolgende Geschichte, die mit dem Kampf mit den Nächtlichen Geschöpfen, in dem wir von James getrennt worden waren, geendet hatte.

Meine Freundin hörte meinen Erzählungen zu, wie Atlas und ich weitergereist und schließlich zusammengekommen waren. Das darauffolgende Jahr, das ziemlich ereignislos verlaufen war, sprach ich nur kurz an. Ausführlicher berichtete ich von der unheimlichen Schleife der Ewigen Finsternis, der Schleife, in der noch Nuvolas wohnten, und besonders von der ersten Nacht, die wir dort verbracht hatten und die zweifellos mit riesigem Abstand die allerschönsten in meinem Leben gewesen war. Ich beschrieb ihr unsere Begegnung mit den Nuvolas und Gwyneth, die alles zu wissen schien und uns seltsame Anweisungen mit auf den Weg gegeben hatte. Und wie Atlas danach mit mir hatte sprechen wollen und …

Hier konnte ich nicht weiterreden und brauchte einige Minuten, um die richtigen Worte aus mir herauszuzwingen. Schließlich gelang es mir, und ich schilderte mit stockender Stimme den letzten Teil unserer Reise, die wir zusammen mit Adam in die zentrale Schleife der Nächtlichen Geschöpfe unternommen hatten und die ich nur wie durch einen Schleier wahrgenommen hatte. Ich beendete meine Geschichte mit dem Kampf und damit, wie wir es geschafft hatten, mit dem Herzen der Zeit zu entkommen.

Ich erzählte ihr alles bis auf die Sache mit meinen roten Augen, die Wunden hinterließen, die nicht verheilten und sogar tödlich sein konnten.

Das Ganze sprudelte aus mir hervor, als hätte es unterschwellig nur darauf gewartet, endlich ausgesprochen zu werden. Es tat seltsam gut, es Rose zu erzählen, jemand anderen einzuweihen. Nur bei Atlas’ Namen stockte ich und merkte wieder das Messer in meiner Brust.

Das einzige Mal, dass Rose mich unterbrach, war, als ich ihr von dem Spion, dem Verräter in unseren eigenen Reihen, erzählte, auch wenn ich dadurch gegen die Abmachung mit Atlas verstieß, niemandem die Wahrheit zu verraten. Rose konnte nicht glauben, dass es tatsächlich jemanden so Dreistes unter uns gab, der Informationen an die Nächtlichen Geschöpfe weiterreichte.

Als ich schließlich geendet hatte, hörte man eine Weile nur noch das Strömen aus dem Duschkopf, während ich auf eine Reaktion von Rose wartete. Sie blieb stumm.

Ich war gerade dabei, in mein Loch abzudriften, als meine Freundin sich endlich regte und einen Arm um mich legte. Diese kleine Geste traf mich unerwartet heftig und ließ das Messer in meiner Brust glühen und sich langsam und schmerzhaft tiefer in mein Herz bohren. Genau so hatte Atlas oft den Arm um mich gelegt, wenn wir abends ins Zelt gegangen waren, um uns für den nächsten Tag auszuruhen. Und mit einem Mal brach die hauchdünne Mauer in mir ein, und brennend fingen die Tränen an, aus meinen Augen zu strömen. Die Tränen, die nicht gekommen waren, weil in mir nichts gewesen war, was hatte weinen wollen. Tränen hätten nicht die Qual ausdrücken können, die von mir Besitz ergriffen hatte.

Doch jetzt flossen sie nur so aus mir heraus. Schluchzer stiegen in meiner Kehle auf, die mich schüttelten, mich gegen Rose drückten, die auch noch ihren anderen Arm um mich legte und mich festhielt, mich am Zerfallen hinderte. Und Rose blieb dabei noch immer stumm, ließ mich all den Schmerz weinen, meine Tränen loswerden, bis nur noch ein Zittern übrig blieb und ich meinen Kopf an ihrer Schulter vergrub. Sie streichelte mir über den Rücken, beruhigte mich und hielt die leere Hülle, die einst Lucy gewesen war, ganz fest.

Als ich nur noch ganz leicht zitterte und mein Atem normal zu werden begann, stand sie auf und zog mich mit hoch. »Also, Lucy, du bist stark und schaffst es jetzt auch, dich richtig zu duschen. Ich habe dir ein paar neue Sachen ins Bad gelegt, die du anziehst, sobald du fertig bist. Ich warte draußen in deinem Wohnzimmer, wohin ich dir wunderbares Essen gebracht habe. Und wenn du in spätestens fünfzehn Minuten nicht kommst, weil du wieder in dein trostloses Loch fällst, dann kannst du was erleben, wogegen die Kämpfe mit den Nächtlichen Geschöpfen nichts waren.« Sie stieg aus der Dusche und versuchte dabei, nicht alles vollzutropfen. Vor der Tür drehte sie sich noch einmal um. »Na gut, sagen wir: zwanzig Minuten. Die wirst du bei deinen langen Haaren sicherlich brauchen. Ach ja, und vergiss nicht, deine nassen Sachen auszuziehen.« Mit einem kleinen Hüpfer verschwand sie aus dem Badezimmer, und die Tür fiel mit einem Klicken ins Schloss.

Ein Lächeln stahl sich zu meinem Erstaunen auf mein Gesicht. Es schmerzte in meinen Gesichtsmuskeln, und mir fiel auf, dass es das erste Lächeln seit meinem Gespräch mit … seit dem Gespräch war. Ein Schauer fuhr durch meinen Körper, und ich entschloss mich, den einen Namen nicht einmal mehr zu denken.

Es tat einfach zu weh.

Mit ein wenig neuer Kraft schälte ich mich zuallererst aus meiner zerrissenen und beschmutzten Kleidung, bevor ich mir die Shampootuben griff und mir Haare und Körper zweimal von oben bis unten einschäumte. Es brannte leicht an einer letzten Wunde am Bauch, die besonders tief gewesen sein musste und somit noch nicht richtig verheilt war. Von den anderen waren nur noch mehr oder weniger stark verheilte Narben zu erkennen. Doch alle sahen so aus, als würden sie in spätestens zwanzig Minuten verschwunden sein.

Als ich endlich triefend nass aus der Dusche stieg, waren der Spiegel sowie Fenster und die gläsernen Wände der Dusche vollkommen von dem warmen Dunst beschlagen, und ich kam erneut zu dem Schluss, dass Rose einfach die Beste war. Ich wusste nicht, woher sie wusste, dass eine warme, entspannte Dusche Wunder wirken konnte.

Ich nahm mir ein Handtuch aus dem Regal und rubbelte meinen Körper ab. Dabei spürte ich wie zuvor in der Dusche meine Rippen, und auch im Spiegel konnte ich sehen, wie sie sich unter der Haut abzeichneten. Schnell wandte ich mich davon ab und zog mir die trockene Kleidung an, die Rose auf den Hocker gelegt hatte. Mir fiel auf, dass die Hose aus dickem Stoff bestand, und meine Freundin hatte an ein langärmliges Shirt und an einen Stoffpulli gedacht, der innen warm gefüttert war. Hier brach schließlich schon der Winter an, auch wenn mir das völlig falsch vorkam. Ich hatte diese Schleife nur im fröhlichen Blühen des Frühlings erlebt und konnte sie mir nicht schneebedeckt vorstellen.

Schnell bürstete ich mir noch die Haare durch und band sie zu einem Pferdeschwanz, bevor ich tief Luft holte und ins Wohnzimmer trat. Ein wunderbarer Duft schlug mir entgegen, zusammen mit wohliger Wärme und dem angenehmen Licht der Deckenlampe. Rose saß an dem runden Holztisch auf einem der alten Stühle. Sie trug ebenfalls trockene Kleidung. Offensichtlich war sie in der Zwischenzeit in ihrem Zimmer gewesen und hatte sich umgezogen. Auf dem Tisch vor ihr standen mehrere kleine Schüsseln und Teller, von denen der köstliche Essensgeruch ausgehen musste. Erleichtert lief ich zu ihr und ließ mich auf einen der Stühle sinken, während ich hungrig die Auswahl an Speisen musterte.

Nachdem ich mehrere Portionen verschiedener Gerichte, Kartoffelbrei mit Würstchen, Nudeln mit Soße und einen gemischten Salat, verdrückt hatte, lehnte ich mich zurück.

»Dein erstes warmes Essen seit wann?« Um Rose’ Lippen spielte ein amüsiertes Lächeln.

»Ganz ehrlich? Ich glaube, seit etwa eineinhalb Jahren. Seit meinem letzten Abendessen hier.«

»Bin ich froh, dass ich nicht mit auf der Reise war!«, meinte Rose und schüttelte, erschrocken über meine Aussage, den Kopf.

Ihre Reaktion war verständlich. Rückblickend betrachtet, verstand ich ja selbst nicht, wie ich es so lange ohne richtiges Essen hatte aushalten können. Doch ein anderes Thema beschäftigte mich weitaus mehr, und ich räusperte mich, um es anzusprechen. »Rose?« Unbehaglich rutschte ich auf meinem Stuhl hin und her. »Sehe ich sehr schrecklich aus?«

»Sag so etwas nicht.« Rose runzelte verärgert die Stirn. »Du siehst nicht schrecklich aus, nur … anders.«

Ich wusste nicht, was ich von der Antwort halten sollte.

»Versteh mich nicht falsch, aber es ist …«

»Du kannst ruhig sagen, dass ich … nicht mehr so toll aussehe.«

»Nein, nein! Das wollte ich ganz bestimmt nicht sagen. Und es stimmt ja auch nicht. Du siehst nicht hässlich aus oder so, eben nur … verändert.«

Als ich daraufhin bloß die Stirn runzelte, seufzte sie. »Ich weiß nicht, wie ich das erklären soll. Aber ganz sicher, Lucy, hässlich bist du bestimmt nicht. Du bist immer noch wunderschön, so wie früher. Allerdings eben mit verändertem Aussehen.«

Ich nickte langsam, während meine Gedanken erneut abdrifteten – zu dem Tag, der der schlimmste meines ganzen Lebens gewesen war. Ich dachte nicht an das, was auf der Wiese geschehen war. Den unmenschlichen Schmerz dieser Erinnerung konnte ich nicht aushalten. Ich dachte auch nicht an die Nacht danach, in der die wahre Lucy gestorben war. Nein, ich dachte an die Gedanken, die eine innere Stimme gehässig zu den Beweggründen für sein Handeln abgegeben hatte. Und ich konnte nichts dagegen tun, als Tränen in meine Augen traten und über meine Wangen liefen.

»Lucy?«

Rose wusste bestimmt, dass nur eines mich so aus der Bahn werfen konnte.

Ich schluckte schwer und versuchte, mich zu beruhigen. »Ich … ich dachte gerade nur …« Meine Stimme brach, und ich musste mit aller Macht verhindern aufzuschreien, während sich das Messer in meiner Brust genüsslich ein paar Mal im Kreis drehte.

Rose sah mich an, und ich erkannte die Unsicherheit in ihrem Blick, die mein Verhalten verursachte. Ich erkannte, dass es ihr wehtat, mich so zerstört zu sehen, und verabscheute mich dafür, ihr das anzutun. Dass ich nicht stark genug war, aus dem Trümmerhaufen zu steigen oder ihn wenigstens vor ihr zu verbergen.

»Lucy, was ist?«

Ich holte tief Luft, doch bei dem Gedanken an meine nächsten Worte traten sofort wieder Tränen in meinen Augen. »I-ich habe mich gefragt, ob … ob meine Veränderungen … ob sie … weiß nicht … Vielleicht haben sie ja anderen nicht so gefallen. Vielleicht haben sie … vielleicht haben sie ihm nicht gefallen, und dass er deswegen … dass er deswegen …« Ich wurde von heftigen Schluchzern geschüttelt, und erst durch Rose’ Arme, die sich um mich legten und mir Halt gaben, schaffte ich es, eine gewisse Selbstbeherrschung zurückzuerlangen. Ich vergrub meinen Kopf an ihrer Schulter und ließ mir von Rose über den Rücken streicheln.

Rose lehnte sich zurück und sah mich ernst an. »Also, Lucy, bevor ich anfange, mich wieder unstrukturiert über deine unangebrachten Selbstzweifel auszulassen, wo du mir doch ohnehin nie wirklich dabei zuhörst, gehen wir das Thema ganz sachlich an.«

Ich nickte leicht verwirrt.

Sie hob die Hand und begann an den Fingern aufzuzählen. »Also, Punkt eins bei unserer – na gut, meiner – Widerlegung deiner These ist, dass Atlas bis zu dem genannten Tag, deinen Worten nach, nicht einmal ansatzweise etwas gesagt oder getan hat, was darauf hätte hindeuten können, dass es zwischen euch aus sein könnte. Hätte er schon länger darüber nachgedacht, sich von dir zu trennen aufgrund deiner angeblichen Hässlichkeit, hättest du es bestimmt bemerkt. Es hätte einen Streit gegeben, er hätte sich von dir distanziert, etwas in der Art. Aber du hast erzählt, dass es so nicht gewesen ist. Ein Argument dafür, dass er dich nicht hässlich fand.«

Ich nickte. Es hatte wirklich keine Anzeichen für ein so abruptes Ende gegeben, also lag es vielleicht gar nicht an meinem Äußeren, sondern es war so, wie er gesagt hatte. Dass wir seiner Meinung nach nicht wirklich zusammenpassten, dass er einfach erst zu diesem Zeitpunkt bemerkt hatte, dass er mich nicht wollte. Dass ich nicht diejenige war, die er wollte. Und darin konnte ich ihm nicht widersprechen. Ich hatte mich doch eigentlich immer wieder selbst darüber gewundert, wie es sein konnte, dass er mich zu mögen schien, ja, dass dieses Unmögliche offenbar doch möglich war. Ich selbst wusste schließlich am besten, wie ich war, was für eine Last ich war.

»Der nächste Punkt«, streckte Rose den Zeigefinger hoch, »und das ist der logischste für mich, du hast eindeutig die Reihenfolge der Geschehnisse nicht beachtet. Sie spielt aber durchaus eine Rolle. Nämlich deshalb, weil deine Haare und Augenfarbe sich verändert haben, als James noch dabei war, das hast du zumindest erzählt. Daraus folgt, dass Atlas überhaupt erst mit dir zusammenkam, nachdem du dich schon so verändert hattest. Warum hätte er das tun sollen, wenn er dich so nicht schön gefunden hätte? Vielleicht aus Spaß? Doch dann wäre er niemals ein ganzes Jahr mit dir zusammen gewesen, oder?«

»Aber wenn ihm erst nach und nach aufgefallen ist, dass er mich doch nicht so … schön findet? Wenn er sich gedacht hat, dass er es versucht, auch wenn ich keine goldenen Augen und blonde Haare mehr habe, und erst später merkte, dass es ohne das nicht … funktioniert?« Ich wusste, dass ich mich immer weiter hineinsteigerte, doch ich schaffte es einfach nicht, aufzuhören, mich in meinem eigenen Unglück zu suhlen.

Rose seufzte. »Lucy, hörst du dich eigentlich selbst reden? Was du sagst, ist der größte Schrott, den ich gehört habe, seit Tyler das letzte Mal den Mund zugemacht hat. Wirklich, ich kenne Atlas schon sehr, sehr lange und so oberflächlich, wie er sein müsste, wenn deine Überlegungen stimmen würden, ist er auf keinen Fall. Was wäre er bitte für einer, wenn er nur aufgrund deines Aussehens mit dir zusammen gewesen wäre? Das ist doch der verrückteste Gedanke, den ich je gehört habe. Nicht einmal James würde so etwas tun. Und wie gesagt, Atlas ist vieles, aber nicht oberflächlich.«

Sie sah mich ernst an, und ich war ihr schrecklich dankbar dafür, dass sie sich so um mich bemühte, auch wenn ich es doch eigentlich nicht verdient hatte.

»Lucy?«

»Hm?« Ich tauchte aus meinen Gedanken auf.

»Darf ich … darf ich ehrlich meine Meinung darüber sagen, was ich von dem Ereignis, dessen Beweggründe wir eben erörtert haben, denke?«

»Klar.« Überrascht musterte ich sie. »Ich möchte immer deine ehrliche Meinung zu allem hören. Da gibt es keine Einschränkungen.«

»Na gut.« Rose überlegte kurz. »Kann … kann ich davor noch kurz ein paar Fragen stellen, damit klar ist, dass ich nichts falsch verstanden habe?«

Ich nickte.

»Auch wenn … also … ich meine, vielleicht könnte dir die Erinnerung wehtun.«

Ich nickte tapfer. Jetzt hatte ich mich besser im Griff, und mit Rose’ Vorwarnung konnte ich zusätzlich noch rasch eine schützende Mauer um mich bauen. »Frag mich, was du willst.«

»In Ordnung. Es ist nur zur Absicherung und geht ganz schnell.« Rose dachte einen Augenblick nach. »Er hat dich in London geküsst und danach gesagt, es hätte nichts zu bedeuten?«

»Ja.«

»Und erst, als James verschwunden war, hat er sich dir genähert und dich erneut geküsst?«

»Ja.«

»Dann wart ihr ein ganzes – mehr als ein ganzes – Jahr zusammen?«

»Ja.«

»Und du hast eigentlich die ganze Zeit gedacht, dass er dich wirklich liebt?«

Ich schauderte. »Ja.« War ich nur blind gewesen? Hatte ich so sehr darauf gehofft, dass ich nicht bemerkt hatte, dass es nicht echt gewesen war?

»Und aus heiterem Himmel hat er es dann in der Schleife der Nuvola beendet, direkt nach der besonderen Nacht?«

»Ja.«

Rose biss sich auf die Lippe und versuchte offensichtlich, irgendeine Emotion zu verbergen.

Neugierig betrachte ich sie. Was für eine Meinung sie wohl hatte, die sie nicht einfach hatte aussprechen können und zu der sie mir absichernde Fragen stellen musste?

Ich hielt die Mauer in mir aufrecht, noch hatte ich die Kraft dazu. Gewiss nicht mehr lange.

Rose’ Augen wurden etwas schmäler, als sie ihre Überlegungen beendet hatte und mich ansah. »Womöglich wirst du etwas … überrascht, verärgert ‒ was weiß ich? ‒ sein, aber das muss ich jetzt loswerden. So, wie er sich benommen hat, so benehmen sich eigentlich nur totale Idioten. Solche wie Tyler. Ich meine, wie daneben ist es eigentlich, so mit einem Mädchen zu spielen? Man küsst sie, sagt, dass es unbedeutend war. Man kommt mit ihr zusammen und macht Schluss, sobald man mit ihr geschlafen hat. Eigentlich dachte ich immer, er wäre nicht so einer, aber die von dir geschilderten Ereignisse lassen eigentlich nur diesen Schluss zu. Und wenn es stimmt, dann ist er nichts anderes als ein hirnrissiger, bescheuerter Idiot, der nicht erkennt, dass er nie etwas Besseres als dich abbekommen wird!«

Perplex starrte ich Rose an, die seelenruhig, als hätte sie soeben nicht irgendjemanden heftig beschimpft, ihre Nägel betrachtete.

»Ähm … okay«, meinte ich wenig einfallsreich. »Dann … dann kommen wir zurück zum eigentlichen Thema … wie sehr anders bin ich?«

Rose blieb ernsthaft, und ihre Antwort fiel so aus, wie sie immer ausgefallen wäre. Ihre temperamentvolle Meinungsbildung schien bereits Vergangenheit zu sein.

»Sagen wir es mal so: Von außen bist du nur in manchen Punkten anders. Deine Haare sind ein wenig länger und haben eine andere Farbe. Deine Augen sind rot geworden, allerdings haben sie immer noch dieselbe Form. Deine Haut ist nicht mehr … pfirsichfarben, sondern fast weiß. Außerdem bist du dünn geworden und wirkst echt zerbrechlich. Und … noch etwas ist anders, wobei ich nicht glaube, dass es so vielen auffallen wird. Deine Ausstrahlung ist anders … Zum einen wirkst du stärker in deinem Tun. Du bist sicherer geworden, hast dich mit deinem neuen Leben abgefunden. Bevor ihr weg seid, war nämlich immer eine gewisse Unsicherheit in deinem Handeln. Da schien eine unausgesprochene Frage in dir zu sein. Es war, als würdest du dich die ganze Zeit fragen, ob alles stimmt, ob es so sein soll oder ob du etwas falsch machst. Das wirkt jetzt nicht mehr so. Allerdings ist nun dieser Schatten da … Er lauert auf dir, ist um dich herum und … Wenn ich ehrlich bin, Lucy, gerade eben habe ich zum ersten Mal etwas Leben in dir gesehen, seit du wieder hier bist. Doch es verschwindet wieder. Du bist leer, dein Blick ist ausdruckslos. Es macht mir Angst.« Rose schauderte leicht.

»Und ich mache mir Sorgen um dich, denn ich weiß nicht, ob dieser Schatten wieder verschwinden wird. Ich weiß nicht, ob du dich je davon erholen wirst.«

Ich schluckte schwer. Sie wusste es nicht, aber ich wusste es. Ich würde mich nie davon erholen, dessen war ich mir sicher. Ich hatte nicht nur die Liebe meines Lebens verloren, ich hatte alles verloren. Mich selbst, das Leben, dass ich für mich hier erträumt hatte … Niemals würde ich diesen Kummer ganz loswerden. Dennoch überraschte es mich etwas, dass das alles Rose in der kurzen Zeit seit meiner Ankunft aufgefallen war. Mir wäre warm ums Herz geworden, wenn ich noch eines gehabt hätte, das wirklich lebte.

Ich zog die Füße auf den Stuhl und schlang die Arme darum. Es gab mir ein schützendes Gefühl, diesen Kokon zu bilden. So, als würde er mich vor dem Schmerz bewahren und das Messer am Bohren und Drehen hindern.

»Lucy, hör auf damit!«

Ich zuckte zusammen und sah verwirrt zu Rose auf. »Womit?«

»Mit dem, was du gerade gemacht hast. Du bist leer geworden, vollkommen leer. Wie eine Tote. Lass das.«

Meine Hand zuckte in Richtung meines Herzens, als wollte sie versuchen, das unsichtbare Messer herauszuziehen. Ich wusste, dass sie nichts greifen konnte, wusste, dass es nichts gab, was den Schmerz gelindert hätte.

»Ich weiß nicht, wie«, stieß ich heiser hervor und musste alle vorhandene Konzentration aufbringen, um Rose’ Antwort zu hören, anstatt mich dem Loch zu überlassen.

»Du darfst nicht zulassen, dass deine Gedanken abschweifen zu … du weißt schon, wem. Du musst hierbleiben, im Jetzt.«

Ich verstand ihre Worte, doch ich wusste sofort, dass es mir nicht möglich sein würde, sie umzusetzen. Rose hatte keine Ahnung davon, wie das war, was ich gerade durchmachte. Oder doch?

»Wir gehen am besten nach draußen.« Sie wirkte entschlossen, als sie aufstand. »Frische Luft tut immer gut, und vielleicht wird sie dich auf andere Gedanken bringen.«

Ich schüttelte den Kopf. »Rose, ich bin schrecklich … müde. Ich kann keinen Schritt mehr gehen. Bitte, ich möchte mich ausruhen.«

Ich sah das Zögern in Rose’ Blick. Wie sie abwog, ob sie das tun sollte, was sie für mich als das Beste erachtete, oder ob sie mir glauben sollte und mir auf diese Weise Gutes tun konnte.

Ich hatte die Wahrheit gesagt, meine Beine fühlten sich an wie Blei, und schon wieder war mir schwindelig.

Rose schien das zu bemerken, denn sie sagte: »Gut, dann bringe ich das Essen weg, und du ruhst dich aus. Wir schauen eben morgen weiter, wie wir dir helfen können. Und … Lucy? Was ist denn?«

Sie war gerade dabei, die benutzten, leeren Schüsseln und Teller aufeinanderzustapeln, als ich mir erschrocken die Hand vor den Mund presste und aufsprang. Panisch drehte ich mich um und rannte ins Bad, wo ich es gerade rechtzeitig zur Toilette schaffte und mich in die Schüssel erbrach.

»Lucy, mein Gott!« Rose’ Stimme war voller Sorge, und ich hörte Wasserrauschen, bevor sie mir einen kühlen Lappen in den Nacken legte und mir die Haare aus dem Gesicht strich. Ich erbrach einen erneuten Schwall und stützte mich erschöpft auf der Klobrille ab. Ich fühlte mich so elend.

Als ich mir sicher war, dass nichts mehr kam, stand ich schwankend auf und tastete mich zum Waschbecken, um mir das Gesicht abzuwaschen.

Rose folgte mir, und ich konnte nur allzu deutlich ihr inneres Durcheinander spüren. Nachdem ich den Wasserhahn abgestellt hatte, gab ich ihr das Tuch zurück. »Danke.«

»Danke? Danke? Ist das alles? Lucy, du hast dich gerade übergeben. Das ist falsch. Augenschöne übergeben sich nicht. Niemals. Sie werden nicht krank! Wir bekommen nicht mal einen Schnupfen. Irgendetwas kann mit dir nicht stimmen, wenn du dich übergeben musst. Und das Einzige, was du sagst, ist danke?«

Ich biss mir auf die Lippen. Offensichtlich hatte ich das Ganze zu sehr auf die leichte Schulter genommen. Wenn ich Rose jetzt auch noch sagte, dass es schon das dritte Mal an diesem Tag war, würde sie vermutlich durchdrehen.

»Es ist nur halb so schlimm«, murmelte ich deswegen. »Ich hatte dir doch gesagt, dass ich mich noch immer nicht von meinem Ausbruch der Titanenmagie erholt habe. Wahrscheinlich war nur etwas im Essen schlecht, und mein Körper wollte es schnell loswerden. Kein Grund zur Aufregung.«

Rose’ Augen funkelten aufgebracht, und sie musste nicht erst sagen, dass sie das anders sah. Ich drängte mich an ihr vorbei aus dem Bad und wankte zum Sofa, auf das ich mich völlig ausgelaugt fallen ließ. Rose stand unschlüssig in der Badezimmertür, bis sie sich schließlich mit einem Kopfschütteln daran machte, den Tisch fertig abzuräumen. An der Tür drehte sie sich noch einmal um. »Lucy, pass auf dich auf. Du musst dich auch vor dir selbst schützen.«

Wenn die Zeit vorwärts läuft,

dann muss es doch auch

rückwärts gehen.

Doch bis man einen Weg findet,

ist die eigene Zeit längst abgelaufen.

(Silvana Gustani, Augenschöne, zu Lebzeiten Nele)

Augenschön Das Herz der Zeit (Band 3)

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