Читать книгу Augenschön Das Herz der Zeit (Band 3) - Judith Kilnar - Страница 7

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Kapitel 3

Ich klammerte mich an den Baum und schloss die Augen. Fast sofort wollten mich meine Gedanken in die altbekannte Richtung ziehen. Sie beabsichtigten, meine Verzweiflung aufkommen zu lassen und mich in dem wilden Strudel aus Leere und unerfüllten Hoffnungen alleinzulassen. Doch ich kämpfte mit allen Mitteln dagegen an, sträubte mich gegen die Kapitulation und suchte nach einem Punkt, der mir Halt bot.

Ein Gesicht tauchte vor meinem inneren Auge auf. Das eines lachenden Mädchens, fast schon einer jungen Frau. Sie hatte mir früher in genau diesen Momenten beigestanden, auch wenn es mir bei Weitem nie so schlecht gegangen war wie jetzt. Tränen traten mir in die Augen, und ich versuchte nur halbherzig, sie wegzublinzeln. Trauer tat weh, doch sie war so viel besser als die Alternative, nämlich der unweigerliche Schmerz, den das Loch trotz allem nicht ersticken konnte, in das ich unversehens zu fallen drohte.

Stattdessen kramte ich in meinem Kopf nach Erinnerungen. Erinnerungen an meine Zeit als Tochter des Dukes und der Duchesse de Mintrus im England des 17. Jahrhunderts. Rückblickend betrachtet, erschien mir mein damaliges Leben nahezu unbeschwert, das ich auf unserem Landsitz verbracht hatte, gemeinsam mit meiner großen Schwester Evie.

Doch es fiel mir schwer, nach Bildern zu stöbern. Sie waren verschwommen, unscharf. Entsetzt stellte ich fest, dass ich mich an immer weniger erinnern konnte. Ich hatte sogar schon fast vergessen, wie ihre Stimme klang, und musste mich anstrengen, um sie mir ins Gedächtnis zurückzurufen, den mädchenhaften und aufgeregten Klang. Und dann erinnerte ich mich an ihre Augen, die so viel Klugheit ausgestrahlt hatten. Ich wusste auch noch, wie sie einmal auf dem Markt ein neues Parfum entdeckt hatte, von dem ich meinte, es würde nach Brombeeren duften. Evie hatte von da an nur noch dieses Parfum benutzt, und wir hatten uns immer über den Verkäufer kringelig gelacht. Der junge Händler war jedes Mal vor Aufregung rot angelaufen, wenn er Evie auf dem Marktplatz erspäht hatte.

Wehmütig dachte ich weiter über den Markt nach. Ich sah, wenn auch etwas undeutlich, wie sich die Stände aneinanderdrängten. Ich hatte das wahllose Gedränge immer geliebt, die lauten Rufe der Händler, die ihre Ware anpriesen. Oder die Gaukler oder Wandermusiker, die, wo auch immer sie Platz fanden, ihre Kunst vorführten, um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Auf den Märkten war das Gold meiner Augen selten aufgefallen, keiner hatte genug Zeit für einen zweiten, genaueren Blick, und somit musste ich keine Angst vor betretenen Musterungen haben. Auch deshalb hatte ich jeden einzelnen Besuch des Gedränges geliebt, so selten sie auch gewesen waren. Angestrengt verzog ich das Gesicht, um weitere Erinnerungen zutage zu fördern, doch es wollte nichts mehr kommen.

Resigniert erinnerte ich mich an Rose’ Worte, kurz nachdem ich in die Schleifen gekommen war. Sie hatte mir von dem Erinnerungsbrunnen erzählt. Er hielt die Erinnerungen eines jeden Augenschöns frisch, um sie vor dem unbarmherzigen Vergessen der Zeit zu schützen, das ich gerade am eigenen Leib spürte. Ich musste mich unbedingt bei Rose danach erkundigen, um weitere Gedächtnislücken zu verhindern.

Durch ein leises Knacken aufgeschreckt, schlug ich die Augen auf und blickte in Caitlins blitzendes Gelb.

»Da bin ich wieder«, rief diese und trat zurück, während sie mir einen Arm hinhielt. »Ich habe mit Tatjana geredet. Es hat überhaupt nicht lange gedauert, sie zu überzeugen. Anscheinend hast du schon gestern einen kränklichen Eindruck gemacht, und Rosalie hat sich wohl bereits bei ihr gemeldet. Du hast dich also schon öfters übergeben?«

Ich ignorierte die Frage und klammerte mich stattdessen an ihren Arm wie eine Ertrinkende. Vorsichtig wagte ich abermals ein paar Schritte und ließ Caitlin schließlich los.

Sie folgte meinen kurzen Schritten aus dem Wald und plapperte unermüdlich weiter. »Tatjana meinte, es wäre das Beste, wenn wir dich in das Krankenzimmer im Verwaltungsgebäude bringen und dich von ihr und einer der Dromeden untersuchen lassen. Allerdings geht sie bereits jetzt davon aus, dass du dich nicht allzu schnell erholen wirst. Deswegen soll ich dir dabei helfen, einige Kleider, Bücher und so weiter einzupacken, weil du in das Krankenzimmer einziehst, bis es dir wieder besser geht. Du wirst also auch nicht mehr am Training teilnehmen und nicht beim Kampf eingesetzt werden.«

Ich hatte mir alles kommentarlos angehört, doch bei Caitlins letzter Aussage blieb ich wie angewurzelt stehen. »Ich … soll nicht mitkämpfen dürfen?«

»Ach, Lucy, jetzt sei mal ehrlich zu dir selbst. Bei Gottes bestem Willen, wie willst du denn in deinem Zustand richtig in Form kommen? Du wärst bereits tot, bevor der Kampf überhaupt richtig begonnen hätte. Und jetzt lauf weiter, ich möchte hier keine Wurzeln schlagen.«

Sie hatte recht, also tat ich, was sie wollte, lief weiter und ließ Caitlins Redefluss über mich dahinplätschern.

»Ich wette, du bist die erste Augenschöne, die nicht aufgrund eines Zusammenstoßes mit einem Nächtlichen Geschöpf auf die Krankenstation kommt. Tatjana wusste übrigens ebenso wenig wie ich, wie es sein kann, dass du krank bist. Allerdings hat sie eine Vermutung diesbezüglich. Atlas soll bei seinem Bericht einen Ausbruch deiner göttlichen Kräfte erwähnt haben. Du sollst eine Titanin mit unfassbaren Fähigkeiten sein, und Tatjana zufolge wäre dein Unwohlsein eine verspätet auftretende Nachwirkung. Obwohl ich ihre Überlegungen nicht ganz nachvollziehen kann, scheint das die einzige ansatzweise logische Erklärung zu sein.«

Ich sagte nichts dazu. Obwohl ich mit hundertprozentiger Sicherheit hätte behaupten können, dass es sich auf keinen Fall um Nachwirkungen handelte, tat ich es dennoch nicht. Vielleicht, weil ich es zwar so sah, jedoch nicht das medizinische Fachwissen besaß, um es auch nachzuweisen. Vielleicht aber auch nur, weil ich keine Lust hatte, etwas zu sagen oder Tatjana zu widersprechen. Oder ich hatte ganz einfach zu viel Angst vor dem, was der wirkliche Grund dafür war, und versteckte mich lieber hinter einer Maske aus falschen Annahmen.

Am Verwaltungsgebäude verschwand Caitlin kurz, um gleich darauf wieder mit einem Koffer aufzutauchen. »Geh schon mal vor. Ich muss noch kurz was erledigen«, rief sie mir zu und lief in Richtung Verwaltungsgebäude davon.

Ich zog den leeren Koffer, der über den unebenen Kiesboden ratterte, hinter mir her über den Hof auf das Wohnhaus 2 zu. Dass ich aus meinem Zimmer in das Krankenzimmer umziehen musste, machte mir nicht sonderlich viel aus. Ich ärgerte mich deutlich mehr darüber, dass ich so nutzlos war und beim Kampf nicht helfen konnte. Frustriert drückte ich mit meiner Schulter die gläserne Eingangstür auf und schlüpfte mitsamt Koffer durch den schmalen Spalt. Langsam stieg ich die Treppe hinauf, darauf bedacht, nicht so viel Krach zu machen trotz des unhandlichen Gepäckstücks. Ich hörte Stimmen vom schmalen Emporengang. Jemand unterhielt sich dort in gedämpfter Lautstärke. Ein Mädchen lachte glockenhell auf. Ich beachtete es erst gar nicht richtig, bis ich eine der Stimmen erkannte und mitten in der Bewegung erstarrte.

Atlas.

Der Name brannte eine heiße Schneise in mein Herz.

Ich spürte förmlich, wie mir das Blut aus den Wangen wich, und sah, wie die Knöchel an meiner Hand weiß hervortraten, als ich mich auf das Geländer stützte. Wenn ich ganz leise und unauffällig weiterging, würden sie mich womöglich kaum oder gar nicht bemerken. Vorsichtig stieg ich weiter hinauf, den Blick auf den Boden geheftet, die Stimmen, so gut es ging, ausblendend.

Zwei Stufen und zehn Schritte lagen noch zwischen mir und meiner Zimmertür, als ich meinen Entschluss in den Wind schlug und aufsah. Ein großer Fehler.

Atlas und das Mädchen, das seine blonden Haare durch eine Flechtfrisur aufgetürmt hatte, standen an Atlas’ Zimmertür gelehnt da. Das Mädchen hatte die Hand freundschaftlich auf Atlas’ Arm gelegt und blickte ihn aus seinen großen orangefarbenen Augen bewundernd an. Ich hatte die Blonde bisher noch nie gesehen, doch bei ihrem offensichtlich vertrauten Umgang schoss eine riesige Welle der Eifersucht durch mich hindurch.

Gerade warf sie ihren Kopf erneut lachend in den Nacken, als aus heiterem Himmel ein goldener Blitz aus meinen Augen schoss, ein lautes Krachen zu hören war, gefolgt von einer braunen Staubwolke.

Erschrocken verharrte ich auf der Stelle und versuchte zu begreifen, was da eben passiert war. Hatte ich die Kontrolle über meine Gefühle verloren? War meine Eifersucht so stark gewesen, dass sie aus mir herausgebrochen war?

Ich zuckte zusammen, als neben mir jemand auftauchte. Doch es war nur Caitlin, die die Treppe hinaufgehastet gekommen war und nun mit großen Augen den Riss, der sich durch die weiße Wand neben Atlas’ blauer Wohnungstür zog, musterte. Die Staubwolke hatte sich verzogen, und das Mädchen und Atlas sahen erst den Riss und dann mich an. Wenn ich die Blonde genau betrachtete, dann konnte man die Art und Weise, wie sie die Augen wütend zusammengekniffen hatte und die Lippen zornig aufeinanderpresste, nicht mehr als normales Mich-Ansehen bezeichnen. Aus jedem Zentimeter ihres Gesichtes schrie mir die Verachtung entgegen.

Ich fühlte, wie meine Wangen ganz heiß wurden. »E-Entschuldigung. Das wollte ich nicht.« Meine Stimme klang brüchig, und auf meine Worte hin verengten sich die Augen des Mädchens nur noch mehr zu schmalen, abfällig blitzenden Schlitzen.

»Ach ja? Du wolltest das nicht? Dann pass mal besser auf deine Magie auf, Neuling!« Sie trat einige Schritte näher. »Ich weiß genau, was du damit bezwecken wolltest. Und auch, wenn dein Plan aufgegangen ist, wird der Triumph nicht lange anhalten.«

Ich blinzelte, verwirrt von den Worten. »Ich glaube, da liegt ein Missverständnis vor«, versuchte ich zaghaft, sie zu beruhigen.

Das Mädchen öffnete den Mund, doch Caitlin kam ihm zuvor. »Hey, Lexi, ich denke auch, dass du das falsch verstanden hast. Lulu hatte bestimmt nicht vor, das Wohnhaus dem Erdboden gleich zu machen. Warum kommst du nicht kurz mit? Ich könnte gerade deine Hilfe gebrauchen.«

Während das Mädchen, Lexi, noch zögerte, beugte ich mich zu Caitlin. »Wie hast du mich gerade genannt?«, fragte ich sie leise.

Ein Grinsen huschte über ihr Gesicht. »Lulu. Ist doch schön.«

Ich rollte mit den Augen, rückte dann allerdings schnell zur Seite, als Lexi Caitlins Bitte nachkam und die Stufen zu uns herunterstieg. Als sie an mir vorbeikam, durchbohrte sie mich mit einem kalten Blick.

»Atlas gehört mir. Und auch, wenn du mit ihm auf Reisen warst, heißt das nicht, dass du Vorrang hast. Lass deine dreckigen Finger von ihm!«, zischte sie mir so leise zu, dass nur ich es verstehen konnte.

Ich tat, als hätte ich sie nicht gehört, und wandte mich ab. Während ich auf das Zuschlagen der Eingangstür wartete, stieg ich langsam die restlichen Stufen hinauf, den Koffer hinter mir her wuchtend.

Atlas stand immer noch an derselben Stelle und sah mir dabei zu.

»Hör mal … Izzy, es tut mir leid, dass …«

»Nein, nein«, unterbrach ich ihn schnell. Dass mir auffiel, dass er beim Nennen meines Namens gestockt hatte, ließ ich mir nicht anmerken, ebenso wenig, dass ich mich fragte, warum er sich entschuldigte. An seinem Ton hatte ich gehört, dass er genau wusste, dass Eifersucht der Auslöser für meinen Gefühlsausbruch gewesen war.

Verlegen betrachtete ich meine Stiefelspitzen, während ich fortfuhr. »Du solltest zusammen sein können, mit wem du willst, ohne dass es mir etwas ausmacht. Schließlich hast du … « Ich brachte es nicht über mich, die Worte auszusprechen, und räusperte mich stattdessen. »Jedenfalls … ich sollte mich entschuldigen. Dafür, dass ich mich nicht besser im Griff habe. Aber … i-ich kann meine Gefühle für dich nicht einfach abstellen.« Ich knetete meine Finger und schaute überallhin, nur nicht zu ihm. Letztendlich landete mein Blick doch noch auf ihm.

Er strich mit verschlossenem Gesicht über den Riss, an dessen Seiten der Wandputz abbröckelte, doch ich kannte ihn inzwischen gut genug, dass ich wusste, dass hinter seiner Teilnahmslosigkeit die Gefühle nur so brodelten. Allerdings konnte ich nicht sagen, was genau in ihm vorging.

Aus Angst, dass alles, was er jetzt noch sagen würde, bloß wehtat, hauchte ich ein »Also, bis dann« und huschte an ihm vorbei in mein Zimmer. Die kurze Zeit mit ihm, es waren gerade einmal zwei, drei Minuten gewesen, hatte das Messer so tief in mein Herz gerammt, dass ich mich wunderte, dass ich vor Schmerzen nicht laut schrie. Doch mir fehlte die Kraft dazu, die wie Blut aus der Wunde zu fließen schien.

Unschlüssig, was ich einpacken sollte, verharrte ich vor meinem Kleiderschrank. Letztendlich warf ich von allem etwas in den Koffer. Falls ich etwas vergaß, war es ja nicht weit, um es zu holen. Schließlich stand ich nachdenklich neben der Schublade, in der ich meine Socken aufbewahrte, und hielt ein weißes Paar in der Hand. Zögerlich betrachtete ich es eine Weile, bis ich entschlossen die unscheinbare Kette daraus hervorholte. Das Herz der Zeit.

Atlas hatte recht gehabt. Hier in der vierten Schleife spürte und sah ich nichts von der magischen Atmosphäre, die das Herz der Zeit umgab. Ich hatte nicht gewusst, wo ich ein geeignetes Versteck finden sollte, und meine Sockenschublade war mir als eine gute Lösung erschienen. Jetzt war ich jedoch erneut mit dem Problem konfrontiert, wo ich die Kette während meiner Abwesenheit unterbringen sollte. Ob ich sie überhaupt unbeaufsichtigt zurücklassen konnte oder stattdessen mitnehmen sollte. Einer plötzlichen Eingebung folgend, legte ich sie mir kurzerhand um den Hals und versteckte sie unter meinem Shirt und dem Rollkragenpulli, den ich darüber trug. Es würde sich wohl niemand über das Tragen eines Glücksamuletts wundern.

»Lexi ist eine hochmütige kleine Zicke, da gebe ich dir schon recht. Manchmal kann sie allerdings echt nett sein, das solltest du nicht unterschätzen. Sie hat mir zum Beispiel, ohne sich zu beschweren, geholfen, dein Bett zu beziehen und es umzustellen.«

Caitlin führte mich in einen großen Raum mit hoher Decke und weiß gestrichenen Wänden. Auf der rechten Seite drängte sich ein Bett neben dem anderen, ein ziemlich vollgestelltes Krankenzimmer. Auf der linken Seite stand ein einzelnes breites Bett, das im Gegensatz zu den anderen bezogen und mit einer dicken Daunendecke bestückt war. Daneben befanden sich ein kleiner Nachttisch und ein breiter Schrank aus dunklem Holz. Caitlin stellte meinen Koffer davor ab, den wir nur hatten schließen können, weil wir uns gemeinsam draufgesetzt hatten.

Währenddessen sah ich mich weiter in dem riesigen Raum um. Zwei Meter neben dem bezogenen Bett war ein riesiges Fenster in die Wand eingelassen, durch das man einen guten Blick auf Teile der Ost- und Westwiese sowie den Nordwald hatte.

Caitlin stellte sich neben mich und sah ebenfalls hinaus. »Später kommt Tatjana mit einer der Dromeden, um dich zu untersuchen. Bis dahin sollst du dich schonen und darauf achten, dich nicht erneut zu überlasten so wie heute Morgen. Das soll ich dir von ihr ausrichten. Und das auch: Essen wirst du ab sofort hier einnehmen, bis sich dein Zustand so weit gebessert hat, dass du für den Weg zum Speisesaal keine halbe Stunde brauchst. Das Bad ist nebenan. Zum Duschen benutzt du vielleicht besser den großen Duschraum, den du wahrscheinlich an deinem Ankunftstag schon gesehen hast, da die Dusche hier wirklich sehr klein ist. Besuch kannst du so oft und so viel empfangen, wie du willst, solange man davon ausgeht, dass du nicht ansteckend bist und es dich nicht überanstrengt. Selbstständig solltest du dich nicht auf dem Gelände bewegen, sondern immer eine Aufsichtsperson dabeihaben, falls du umkippst. Ach – und du sollst möglichst auf jegliche Magie verzichten, also sowohl auf Grund- wie auch Variantmagie. Falls du irgendetwas brauchst, drückst du den blauen Knopf neben dem Lichtschalter an der Tür«, leierte Caitlin monoton herunter. Dann verzog sie das Gesicht zu einer Grimasse. »Wie gesagt, diese Anweisungen stammen alle von Tatjana. Ich soll sie bloß weitergeben. Echt ätzend.« Sie sah mich mitleidig an.

Wem sagte sie das? Ich stöhnte innerlich auf.

Caitlin ging zu dem Schrank, öffnete ihn und deutete auf eines der höheren Regalbretter, auf dem sich eine Reihe gebundener Bücher befand. »Hier ist, falls du überhaupt Lust zum Lesen hast, eine kleine Sammlung von Büchern. Keine Sachliteratur, sondern«, sie musterte die Einbände, »Fantasy- und Liebesromane, Abenteuerromane … ah, doch etwas höhere Literatur und … eine Biografie. Wie du siehst, jede Menge Auswahl.«

Ich nickte. Vielleicht würde ich etwas darunter finden.

Sie schloss die Schranktüren und zog ihre Omunalisuhr aus der Tasche. »Entschuldige bitte, ich muss wieder los. Training.« Es klang bedauernd. Sie ließ ihren Blick durch das Zimmer wandern. »Am besten, du räumst deinen Koffer aus und richtest dich hier ein. Gegen drei Uhr wird Tatjana voraussichtlich kommen, bis dahin: schonen, schonen, schonen.« Sie versuchte sich an einem aufmunternden Lächeln, das reichlich schief ausfiel. »Nun gut. Bis bald, Lulu«, sagte sie neckisch und drehte sich um.

Als sie schon fast an der Tür angelangt war, fiel mir etwas ein, um das ich sie bitten musste. »Ähm, Caitlin?«

Sie drehte sich um.

»Kannst du Rose Bescheid geben, dass ich hier bin? Damit würdest du mir einen großen Gefallen tun.«

»Natürlich.« Sie wandte sich ab.

Doch mir kam noch etwas in den Sinn. »Und … kannst du auch ab und zu mal vorbeischauen? Etwas helfen bei meinem Kampf gegen die Langeweile?« Und beim Kampf gegen meine innere Leere, fügte ich in Gedanken hinzu.

Caitlin lachte und salutierte. »Immer zu Diensten, Mylady.«

Ich rang mir ebenfalls ein Lächeln ab, bevor die schwere, ebenfalls weiß gestrichene Tür hinter Caitlin ins Schloss fiel und ich mich mutterseelenallein in einem riesigen Krankenzimmer wiederfand. Jetzt hätte ich sogar Xaviers Gesellschaft vorgezogen.

Tick-tack.

Tick-tack.

Tick-tack.

Ich beobachtete den dürren Zeiger, der über das Ziffernblatt meiner Omunalisuhr wanderte.

Tick-tack.

Tick-tack.

Tick-tack.

Meinen Koffer hatte ich ausgeräumt, den Inhalt in den Schrank geräumt und den leeren Koffer unter meinem Bett verstaut.

Tick-tack.

Tick-tack.

Tick-tack.

Die Jacke und die Stiefel hatte ich ausgezogen und die Jacke neben der Tür an einen Haken gehängt. Die Stiefel standen darunter. Jetzt trug ich nur noch Jeans, Socken, Unterwäsche, das Shirt und den dicken Rollkragenpullover da-rüber.

Tick-tack.

Tick-tack.

Tick-tack.

Ich war zweimal auf der Toilette gewesen, hatte eines der Bücher angefangen zu lesen und den Schrank komplett umgeräumt.

Tick-tack.

Tick-tack.

Tick-tack.

Und inzwischen lag ich bäuchlings auf meinem Bett und versuchte, durch das Vortäuschen von Interesse für den sich langsam vorwärts bewegenden Zeiger einem Abdriften in die Leere zu entgehen.

Mir.

War.

Langweilig.

Megalangweilig.

Doch Langeweile war weitaus besser, als an den Dolch in meinem Herzen zu denken. Entschlossen, aber langsam, um keinen Schwindelanfall hervorzurufen, setzte ich mich auf, klappte die Omunalisuhr zu und stand vorsichtig vom Bett auf. Gerade hatte ich den Entschluss gefasst, abermals den Schrank umzuräumen, als plötzlich die Tür ohne jegliche Vorwarnung aufschwang und zwei durch die Kälte rotnasige Mädchen in den Krankensaal gestürmt kamen.

»Lucy!« Denise’ Kreischen schwappte über vor Freude, und eine Sekunde später fand ich mich in ihren Armen wieder.

Charlotte folgte ihr wie immer stumm, doch nachdem sie eine kleine Tüte auf dem Nachtisch abgestellt hatte, schloss sie mich nahezu genauso stürmisch wie Denise in die Arme.

Denise wickelte sich den Schal vom Hals und warf sich auf mein Bett. »Du Arme! Du musst den ganzen Tag in diesem schrecklichen Zimmer verbringen«, murmelte sie mitleidig. Doch dann setzte sie sich auf und strahlte von einem Ohr zum anderen. »Aber ich freue mich so, dass du endlich wieder da bist! Außerdem muss ich zugeben, dass ich mich irgendwie auch darüber freue, dass Atlas mit dir zurückgekommen ist. Als ihr ‒ du, Atlas und James ‒ gegangen wart, schien es mir so leer im Wohnzimmer. Drei Nocturnals weniger, das merkt man schon. Außerdem hatte niemand wirklich Lust, etwas zu spielen. Na, und seit James die Erinnerung über die Sache mit dem bevorstehenden Kampf zurückbekommen hat, üben selbst Cedric und Harvey lieber zu kämpfen, als Mensch ärgere dich nicht zu spielen.«

Mein Kopf schwirrte von den ganzen Sätzen, und ich ließ mich neben sie sinken.

Charlotte nahm sich einen Stuhl und setzte sich. Sie deutete auf die Tüte. »Wir haben dir etwas zu essen mitgebracht. Zufällig haben wir mitbekommen, wie Caitlin Rose über deinen Aufenthaltsort unterrichtet hat, und weil Rose keine Zeit dazu hatte, haben wir vorgeschlagen, dir das Essen zu bringen.«

Ich lächelte dankbar, obwohl ich nach wie vor keinen Appetit hatte.

Denise nahm eine meiner schwarzen Locken in die Hand. »Wirklich erstaunlich, deine Typveränderung. Du siehst wunderschön aus. Hättest du nicht diese roten Augen, könntest du glatt als Schneewittchen durchgehen. Wobei … goldene Augen hätten auch nicht zu Schneewittchen gepasst.« Sie schnippte die Locke weg und klatschte in die Hände.

Ihre stürmische Art hatte ich schon fast vergessen.

»Aber jetzt erzähl. Wie war die Reise?«

Unbehaglich rutschte ich hin und her. »Ganz … interessant?«

»Das klingt wie eine Frage.«

»Es ist … ach, ich weiß auch nicht. Es ist einfach so viel passiert.«

Charlotte beugte sich vor und legte ihre Hand, die trotz der winterlichen Temperaturen warm war, beschwichtigend auf meinen Arm. »Du musst uns nicht alles erzählen. Für heute Abend wurde ein Treffen in der Versammlungshalle anberaumt, bei dem Atlas uns alles von der Reise erzählen wird. Wenn du willst, kannst du ihm auch das Ganze überlassen. Vorerst reicht es uns auch, dass du einfach da bist.«

Denise nickte bekräftigend, und ich atmete erleichtert auf. Doch dann stutzte ich und runzelte die Stirn. »Atlas wird heute Abend über alles berichten?« Hatten wir uns nicht gestern noch darauf geeinigt, niemandem etwas zu verraten, aus Angst, der Spion könnte wichtige Informationen dadurch erhalten?

Denise nickte. »Ja. Weshalb irritiert dich das?«

»Tut es nicht«, log ich und schüttelte den Kopf.

Wenn Atlas seine Meinung geändert hatte, dann musste es einen Grund dafür geben. Allerdings hätte ich gern über diesen Grund Bescheid gewusst. Laut sagte ich jedoch nur: »Ich … würde nur gern mit ihm noch einmal sprechen, das ist alles. Könnt … könnt ihr ihn bei mir vorbeischicken?« Ich wusste, dass ich mich dadurch selbst an den Rand des Zumutbaren brachte, doch es ging nicht anders. Zum einen wollte ich wirklich wissen, warum er seine Meinung geändert hatte. Und zum anderen war da immer noch ein Teil in mir, der sich nichts sehnlicher wünschte als seine Nähe. Auch, wenn mich der Schmerz umbringen würde.

Auf Denise’ Gesicht stahl sich ein freches Grinsen. »Geht es dabei wirklich nur um die Reise?«

Ich erstarrte, fing mich aber glücklicherweise rasch. Geistesgegenwärtig verdrehte ich die Augen und ließ mich auf den Rücken fallen. »Worum denn sonst, Denise?«

»Na ja, uns sind Gerüchte zu Ohren gekommen …«

Mein Körper verkrampfte. Ich hatte es doch niemandem außer Rose erzählt, woher sollte sie etwas wissen? Woher sollte sie von uns beiden wissen? Von uns beiden, die Worte taten weh. Doch was wunderte es mich? Tat gerade nicht alles weh?

»Jedoch geht es dabei nicht unbedingt um dich.«

Ich erlaubte mir, leise aufzuatmen.

»Sondern um Atlas. Es heißt, er sei all die Jahre nicht aus Liebeskummer so griesgrämig gewesen, sondern aus Hass auf Amelie. Und sich selbst. Demzufolge müsste er also frei sein für eine neue Liebe. Ich habe gehört, dass manche es bereits versuchen. Weißt du, ob das stimmt?« Ihr Gesicht tauchte über meinem auf, und der unermüdliche Hunger nach Klatsch und Tratsch war deutlich in ihren Augen zu erkennen.

»Fragt ihn doch selbst.« Ich drehte mich zur Seite weg und stand auf.

Jetzt war es an Denise, mit den Augen zu rollen, doch sie hakte nicht weiter nach. Stattdessen erzählte sie mir von den anderen Gerüchten. Oh ja, sie hatte noch immer diese Vorliebe für Klatsch aller Art, und es war das erste Mal, dass ich wirklich zuhörte.

»Also soweit wir wissen, fangen all die Mädchen, die Atlas ohnehin schon immer angeschmachtet haben, wieder an, sich Hoffnungen zu machen. Irgendwer hat auch erzählt, dass der Atlas-Fanclub wieder ins Leben gerufen wurde.«

»Ein Atlas-Fanclub?« Ich konnte es nicht fassen.

»Ja, allerdings.« Denise nickte ernsthaft. »Atlas war schon immer beliebt bei den weiblichen Augenschönen. In gewisser Weise durchaus verständlich, er sieht gut aus …«

Das war so was von untertrieben!

»Ist einigermaßen nett …«

Wenn er wollte, dann war er es nicht nur einigermaßen, sondern …

»Und anscheinend küsst er auch noch ziemlich gut.«

Was?

»Wobei ich mich frage, woher die das wissen wollen. Außer Amelie hat Atlas meines Wissens noch nie eine Augenschöne geküsst, und ich weiß quasi alles, was mit Klatsch zu tun hat.«

Ich verschwieg ihr die Neuigkeiten, die sie noch nicht wusste. Wahrscheinlich würde das, was zwischen Atlas und mir während unserer Reise geschehen war, hier in der Tratschküche einschlagen wie eine Bombe. Das Ganze würde in die Geschichte der aufregendsten Ereignisse eingehen, wenn ich etwas sagen würde.

Zu meiner eigenen Verblüffung stahl sich ein leichtes Grinsen auf meine Lippen, als ich mir vorstellte, wie Denise reagieren würde, wenn ich etwas sagte wie »Also meiner Meinung nach ist Atlas kein guter Küsser, sondern der beste überhaupt« oder »Wirklich, Denise, jetzt bin ich aber enttäuscht. Du sagst, du würdest alles wissen, aber über den neuesten Tratsch für den Atlas-Fanclub weißt du noch nichts? Einer begeisterten Klatschtante wie dir hätte ich zugetraut, dass du auch über Atlas und mich Bescheid weißt.« Aber schon bei dem Gedanken an Atlas’ und meine gemeinsame Zeit hätte ich gequält brüllen können.

»Wir waren auch einmal im Atlas-Fanclub, Charlotte, erinnerst du dich? Wir haben uns damals hineingeschmuggelt, um herauszufinden, was die dort machen. Als wir entdeckten, dass sie eigentlich nur alle schmachtend über ihn redeten und überlegten, wie sie ihm näherkommen könnten, sind wir schnellstmöglich abgehauen. Wenigstens konnten wir dann mit unserem Insiderwissen angeben, und ich habe den Artikel Atlas, der Frauenschwarm in meinen Schriften beenden können.«

»In deinen was?« Ich glaubte, ich hörte nicht recht.

»In meinen Schriften. Ich habe etliche von ihnen. Es sind Aufzeichnungen über Klatsch und Tratsch jeglicher Art. Jeder hat doch etwas, womit er sich beschäftigen muss, nicht? Und ich habe eben das.« Sie zuckte mit den Achseln.

Und ich bekam das Gefühl, dass ich ihre Vorliebe für mehr oder weniger skandalöse Neuigkeiten unterschätzt hatte. Um Längen. »Muss man das verstehen?«

»Nein. Aber darum geht es auch nicht. Das Gespräch drehte sich um die neuesten Atlas-Nachrichten. Anscheinend werden einer der Augenschönen jetzt große Chancen zugeschrieben. Sie war wohl jahrelang mit ihm in einer Trainingsgruppe und versteht sich echt gut mit ihm. Ich glaube, sie heißt Lexi.«

Ich schluckte.

»Die Zweitplatzierte ist ein Mädchen namens Lavinia. Sie hat dunkelrote Haare und ist wohl ziemlich hübsch. Einem Gerücht zufolge hat man sie gestern um drei schon dabei gesehen, wie sie ihn geküsst hat. Totaler Schwachsinn, um drei wart ihr noch gar nicht da. Und Lavinia selbst hatte von zwei bis fünf Uhr Training im Wald, und da war sie auch anwesend! Ich habe bereits nachgeforscht.«

Ich nickte unbestimmt. Auch wenn es vielleicht überhaupt keinen Grund dazu gab, durchfuhr mich die Eifersucht bei Denise’ Erzählung erneut ungeahnt heftig. Am liebsten hätte ich dieser Lavinia eine gescheuert. Und dieser Lexi gleich mit.

Ruhig bleiben!, ermahnte ich mich selbst. Ich hatte doch schon vorhin bemerkt, dass ich mit Eifersucht nicht sonderlich gut umgehen konnte, milde ausgedrückt.

Charlotte hatte derweil stumm unser Gespräch verfolgt, wie es immer ihre Art war. Jetzt hielt sie ihre Omunalisuhr in der Hand, einen wütenden Ausdruck in ihren Augen. »James ist so ein Sklaventreiber! Wenn er nicht aufpasst, haben wir am Ende so viel trainiert, dass wir keine Kraft mehr für den eigentlichen Kampf haben. Jetzt muss ich schon zur nächsten Einheit.« Sie verzog das Gesicht. »Ausdauerlauf.«

»Könnten wir nicht so tun, als hätten wir es nicht bemerkt?«, fragte Denise, stand aber bereits vom Bett auf, sehr wohl wissend, dass ihr Vorschlag nicht umsetzbar war.

Matt sah ich ihr zu, wie sie sich den Schal umwickelte und unschlüssig neben meinem Bett verharrte.

»Wir werden versuchen, so bald wie möglich etwas Zeit freizuschaufeln, die wir ausschließlich mit dir verbringen werden. Bis dahin: Gute Besserung!«

Sie schloss mich zum Abschied in die Arme, und sie und Charlotte drängten dann zur Tür hinaus.

»Das Schlimmste ist, dass unsere Trainingspläne nicht einmal dieselben sind. Ich habe jetzt Schwertkampf!«, hörte ich noch Denise sich entrüstet beschweren, bevor das Schloss einrastete.

Lustlos öffnete ich die Tüte mit dem Essen, die sie zurückgelassen hatten.

»Guten Appetit, Lucy«, murmelte ich vor meinem einsamen Mahl.

Aus den Lexika der Augenschönen

(Band 1, Kapitel 8)

Unkontrollierte Gefühlsmagieausbrüche, wie auch kontrollierte, unterscheiden sich stark von den Willensmagizismen. […] Ein wesentlicher Unterschied ist, dass sich das Augenschön beim Anwenden eines Gefühlsmagizismus nicht bewegen kann. Der Grund dafür liegt darin, dass Gefühlsmagizismen mehr Magie entfalten und der Körper sich darauf konzentrieren muss, sich selbst zu schützen, wobei er die Muskeln in einer Abwehrstellung erstarren lässt. Hierbei gibt es jedoch einen weiteren Unterschied zwischen kontrollierten und unkontrollierten Gefühlsmagizismen. Der unkontrollierte nämlich ist wiederum fast doppelt so stark wie der kontrollierte und kann somit auch (unter anderem aufgrund der verlorenen Willenskontrolle) nicht unterbrochen werden. Daher müssen Augenschöne bei einem unkontrollierten Gefühlsausbruch abwarten, bis der Magizismus seine (zufällig ausgewählte) Aufgabe erfüllt hat. Dabei kommt es im alten Leben in den Äußeren Schleifen zu zahlreichen Morden, die viele Augenschöne aus Versehen begehen.

Aus dem Bericht:

Gefühlsmagieausbrüche von N. Weblens

Augenschön Das Herz der Zeit (Band 3)

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