Читать книгу Augenschön Das Herz der Zeit (Band 3) - Judith Kilnar - Страница 8

Оглавление

Kapitel 4

Gegen drei Uhr tauchte, wie angekündigt, Tatjana mit einer Dromedin auf, die Sellja, der ersten Dromedin, die ich je gesehen hatte, zum Verwechseln ähnlich sah. Zu meiner großen Freude war auch Rose dabei, die zuallererst ebenfalls eine Schimpftirade über James und seinen Trainingsplan losließ.

Tatjana und die Dromedin begannen, mich zu untersuchen, was ich anfangs widerstandslos über mich ergehen ließ.

Sie hörten meine Atmung ab, kontrollierten meinen Puls und überprüften meine Körpertemperatur. Sie fanden zunächst das heraus, was ich bereits wusste.

Ich war unterkühlt und leicht unterernährt. Zu schnelle oder anstrengende Bewegungen lösten Schwindel und Übelkeit aus, die unvorhersehbar zum Übergeben führen konnten. Man vermutete zwar, dass ein Symptom das nächste auslöste, beispielsweise die Unterernährung den Schwindel. Wo jedoch der Ursprung all dessen lag, war ihnen noch unklar.

Tatjana hatte die Stirn gerunzelt und es brauchte keine Gedankenlesefähigkeit, um zu erraten, was sie dachte. Wie alle fand sie ein krankes Augenschön deutlich schwerwiegender, als dass für meinen Zustand besorgniserregend noch ausgereicht hätte.

Schließlich nickte die Nele der Dromedin zu, die daraufhin eine kleine Nadel mit einem Schlauch aus ihrer Tasche holte. Aus irgendeinem Grund jagte mir das einen Schauer über den Rücken, und mein Unterbewusstsein vermittelte mir mit aller Deutlichkeit, dass es nichts Gutes verhieß.

»Was ist das?«

»Wir werden dir jetzt Blut abnehmen, um bei der Analyse gegebenenfalls mehr herauszufinden. Da bei Augenschönen die Wunden immer gleich verheilen, ist das Blutabnehmen etwas schmerzhafter und komplizierter.«

Meine Härchen auf den Armen stellten sich auf, als die Dromedin noch näher kam.

»Das … das möchte ich nicht.« Ich wusste selbst nicht, warum ich solche Angst vor der Blutabnahme hatte. Die Aussicht auf Schmerz war es mit Sicherheit nicht. Dennoch sträubte sich mein gesamter Körper dagegen, und eine Stimme in meinem Inneren flüsterte unaufhörlich, dass ich die Dromedin nicht an mich heranlassen durfte.

»Keine Angst, Lucy, Annabeth hat das schon öfter gemacht, es wird nichts schiefgehen.«

Auch die Dromedin namens Annabeth lächelte mir aufmunternd zu und kam noch näher.

Ich begann, leicht und unkontrolliert zu zittern, und warf Rose, die hinter Tatjana stand, einen panisch bittenden Blick zu. Eine leichte Falte legte sich auf ihre makellose Stirn, und sie fragte sich offensichtlich, was mir solche Angst einjagte.

Trotzdem trat sie zu Tatjana. »Muss das Blutabnehmen unbedingt sein? Reichen die bisherigen Untersuchungen nicht aus?«

»Es ist nicht unbedingt nötig, aber hilfreich. Bis jetzt haben wir zwar Anzeichen für eine Reihe möglicher Krankheiten gefunden, aber um welche es sich genau handeln könnte, wissen wir nicht. Das, was wir im Blut finden, könnte uns jedoch weitere wichtige Hinweise geben.«

»Aber was, wenn es gar keine spezielle Krankheit ist? Was, wenn es sich bloß um die Folgen einer sehr anstrengenden Reise handelt, die sich eben auf viele verschiedene Arten bei Lucy äußern?«

»Das könnte natürlich auch sein. Aber …«

»Bitte, Tatjana«, schaltete ich mich rasch ein. »Ich glaube, dass Rose recht hat. Und du hast selbst gesagt, es sei nicht unbedingt notwendig, mir Blut abzunehmen. Können wir es nicht weglassen?« Ich versuchte, einen ängstlichen Gesichtsausdruck aufzusetzen, um ihr Mitgefühl zu wecken, auch wenn ich wusste, dass sich das nicht gehörte.

Doch es schien zu funktionieren. Tatjana sah zwischen Rose und mir hin und her, bevor sie schließlich seufzte. »Ich habe mich wohl in die Vorstellung verrannt, eine neue Krankheit zu entdecken, die sogar stärker als Unsterblichkeit ist. Wahrscheinlich habe ich dadurch die Hauptsache, dein Wohlergehen, aus den Augen verloren. Und wenn du keine Blutabnahme willst …« Sie machte eine Handbewegung zu Annabeth hin, die daraufhin das Blutabnahmegerät zurück in die Arzttasche packte und diese verschloss.

»Ich denke, dann sind wir so weit fertig. Lucy, es tut mir leid, aber ich weiß nicht, wie ich dir helfen könnte. Am besten schonst du dich weiterhin, isst, worauf du Lust hast, und wenn es geht, mit jeder Mahlzeit mehr, sodass du zu einem normalen Körpergewicht findest. Und halte dich warm. Ich werde gleich dafür sorgen, dass wir dir einen Wasserkocher und Teebeutel besorgen, das dürfte auch etwas helfen.« Sie nickte kurz Annabeth zu, die sich daraufhin lächelnd entmaterialisierte.

»Medikamente kann ich dir leider keine geben. Wir hatten bisher keinen Fall wie deinen, und Arzneimittel der Menschen können dir nicht weiterhelfe. Dein Körper würde sie ablehnen.«

Rose schaute bedauernd, während ich über die Worte der Nele nur erleichtert war.

Wie vorhin beim Blutabnehmen hatte sich mein Unterbewusstsein sofort gegen den bloßen Gedanken an Medikamente gesträubt. Verwirrt über mich selbst, beobachtete ich, wie Tatjana sich ihre Jacke überzog und sich eine Haarsträhne aus dem müde wirkenden Gesicht strich.

»Gute Besserung, Lucy. Falls sich irgendetwas an deinem Zustand ändert, egal ob zum Besseren oder zum Schlechteren, lass es mich bitte wissen. Drück dazu einfach den …«

»Den blauen Knopf an der Tür. Ja, ich weiß. Danke!«

»Hervorragend. Bis hoffentlich bald.« Sie schlüpfte in ihre Schuhe neben der Tür und entschwand dann ohne ein weiteres Wort zu ihren restlichen Pflichten.

Eine Weile schwiegen Rose und ich, bis ich ihrem Blick begegnete.

Hochgezogene Augenbrauen, fragendes Gesicht.

Ich zuckte die Schultern und sank zurück in die Kissen. Wie sollte ich ihr das mit der Blutabnahme erklären, wenn ich es nicht einmal selbst verstand?

Wieder einmal schien meine beste Freundin zu spüren, was in mir vorging. Sie fragte jedenfalls nicht weiter nach.

»Übrigens ist mir Atlas begegnet und hat mir einen Brief mitgegeben, zusammen mit der Entschuldigung, dass er nicht selbst kommen kann.«

Augenblicklich hellwach, setzte ich mich auf und nahm mit großen Augen den kleinen weißen Umschlag entgegen.

Von Rose bekam ich kein freches Grinsen wie von Denise vorhin. Sie betrachtete mich nur besorgt und mit einem wissenden Ausdruck, den meine heißen Wangen bestätigten.

»Ich lass dich mal allein …«

»Danke.«

»… und widme mich meinem, dank eines verrückten, arroganten Befehlshabers, übervollen und scheußlichen Trainingsplan.«

»James ist gar nicht so schlimm, wie du meinst. Auf der Reise hatte er auch seine echt netten Momente«, verteidigte ich ihn, auch wenn ich nicht genau wusste, warum.

Rose verdrehte die Augen, bevor sie mir aufgebracht antwortete: »Ein Mädchen gegen seinen Willen auf den Mund zu küssen, findest du nett? Ein Stechleuchten auf einen Verbündeten abzuschießen? Es wundert mich, dass er so einen Magizismus überhaupt beherrscht. Er soll ziemlich schwierig und kraftraubend sein. Aber egal. Der Punkt ist, dass sich das nach allem anderen anhört als nach einem guten Jungen.«

Ich schauderte. Das Stechleuchten war mir nicht unbedingt so schlimm erschienen. Von der dicken Narbe war ein schmaler, langer, weißer Strich das einzige Überbleibsel. Doch Rose hatte es von Anfang an anders gesehen. Überhaupt auf die Idee zu kommen, ein Stechleuchten auf Atlas abzuschießen, deutete ihrer Meinung nach auf einen gewalt-tätigen und blutrünstigen Charakter.

Ich schwieg, was Rose als eine Art Zustimmung betrachtete. Sie drückte mich zum Abschied an sich und ging, um ihren übervollen und scheußlichen, von einem verrückten, arroganten Befehlshaber zusammengestellten Trainingsplan zu ab-solvieren.

Nachdem sie das Krankenzimmer verlassen hatte, wandte ich mich ehrfürchtig dem Briefumschlag zu. Abwägend hielt ich ihn in der Hand und überlegte, ob ich ihn öffnen sollte.

»Angsthase, Angsthase, Angsthase!«, triezte mich eine piepsige Stimme von irgendwo in meinem Kopf.

»Halt den Mund«, murmelte ich und öffnete zitternd den Umschlag.

Lucy,

es tut mir leid, dass ich nicht selbst kommen kann, um persönlich mit Dir alles zu besprechen, doch ein bis zum Rand voller Zeitplan lässt dies leider nicht zu.

Denise sagte, Du wolltest mit mir über die Versammlung heute Abend reden. Ich kann mir vorstellen, was Du mit mir besprechen willst.

Ich habe viel nachgedacht und kam zu dem Schluss, dass es nicht schaden würde, die anderen über den Verlauf der Reise zu unterrichten. Ich werde mich dabei ausschließlich auf die sachlichen, wichtigen und nützlichen Fakten konzentrieren und beispielsweise den Streit zwischen James und mir nicht erwähnen.

Ich wusste, was er noch damit sagen wollte. Er würde nicht erwähnen, dass er mit mir zusammen gewesen war, dass da neben dem Streit noch anderes Unwichtige existierte.

Eigentlich war ich froh darüber, doch da war auch ein leiser Zweifel. Konnte womöglich eine Anspielung auf das, was zwischen Atlas und mir gewesen war, Mädchen wie Lexi davon abhalten, Atlas zu bezirzen?

Ich schüttelte, zornig über meine Gedanken, den Kopf und richtete meine Konzentration wieder auf Atlas’ geschriebene Worte.

Zudem denke ich, dass es auffälliger wäre, wenn wir nichts erzählen würden, als wenn wir allen das Recht eingestünden, über die Geschehnisse, die auch sie betreffen, in Kenntnis gesetzt zu werden. Was den Spion betrifft – ich wüsste nicht, welche Aspekte meines Berichts ihm neu sein sollten. Ich bin sicher, dass wir nicht befürchten müssen, uns durch das Weitergeben von Informationen selbst ein Bein zu stellen. Wenn wir Glück haben, dürfte es sogar helfen, wenn ich alle über die Anwesenheit eines oder mehrerer feindlicher Spione informiere. So werden sie zum einen vorsichtiger sein mit dem, was sie sagen, zum anderen können mehr Augen auch mehr Hinweise auf die Identität des oder der Verräter liefern.

Über den Ausgang der Reise, den Kampf um das »Herz der Zeit« und seinen jetzigen Aufenthaltsort werde ich selbstverständlich kein Wort verlieren.

Ich hoffe, Du hast ein sicheres Versteck gefunden (ich gehe nicht weiter auf sein Aussehen oder anderes ein, eine Vorsichtsmaßnahme, da man in Situationen wie diesen niemandem trauen kann).

Deinen schlechten Gesundheitszustand, den Denise und Charlotte mir beschrieben haben, bedauere ich sehr. Ich wünsche Dir schnelle Genesung.

Atlas

PS: Bitte vernichte diesen Brief, nachdem Du ihn gelesen hast, damit der Spion dadurch keine Informationen erhalten kann.

Ich hatte nicht bemerkt, dass ich weinte, bis ich vor lauter Tränen die geschwungene, schnörkelige Schrift nur noch als verschwommenen blauen Fleck erkennen konnte. Die Worte, die dort standen, waren stumpf und gestelzt. Atlas hatte jedes Gefühl daraus gelöscht, und die Hoffnung, ein Stück von ihm in diesem Brief zu finden, endete in bodenloser Enttäuschung.

Hastig wischte ich mir die Tränen aus dem Gesicht und kratzte genug Konzentration zusammen, um einen kleinen Blitz aus meinen Augen auf das Papier abzufeuern. Leise knisternd verbrannte der Brief in meinen Händen. Der kleine Magizismus würde hoffentlich niemandem schaden.

Als ich auf die verbrannten Reste schaute, stiegen wieder Tränen in mir auf. Das Zimmer verschwand in einem brennenden Strudel, und mein leer gefegter Kopf ließ mich in einem schmerzenden Loch zurück.

»Die Nuvolas finde ich am faszinierendsten, wie sie nur aus Luft zu bestehen scheinen und dennoch nahezu wie wir sind. Danke für die Fotos übrigens. Ich hatte das Warten auf ein Mitbringsel schon fast aufgegeben.« Rose deutete auf ihre Jackentasche, in der sich die beiden Nuvolafotos befanden, die ich aus der zerstörten Wohnsiedlung mitgenommen und ihr als kleines Geschenk überlassen hatte. Sie hielt ihre linke Hand mit dem frischen rosa-grün gestreiften Nagellack hoch und pustete über die feucht glänzende Fläche.

Ich drehte mich wieder zum Fenster des Krankensaals, an dem ich stand, und beobachtete, wie eine Gruppe Nebelwesen unter James’ Führung über die Wiese lief.

Das Eintreffen der verschiedenen Schleifenwesen zu beobachten, war ein angenehmer Zeitvertreib, mit Rose’ Kommentaren noch besser.

Ein kleines Mädchen, dessen kurze, knallrote Haare bis hier oben gut zu erkennen waren, stieß zu James und den Nuvolas und löste ihn ab.

»Tess taucht wie üblich auf und nimmt James die Gruppe ab. Er sieht ziemlich mitgenommen aus«, beschrieb ich für Rose das Geschehen.

»Geschieht ihm recht«, meinte sie ohne jeglichen Anflug von Mitleid.

Ich schnaubte und verfolgte die Gruppe weiter. Sie waren auf dem Weg zur Südwiese, auf die inzwischen ein gemütlich wirkendes Backsteingebäude, dessen Aussehen wohl auf antiken Vorbildern beruhte, mit Hilfe von Magie, gebaut worden war. Dort waren die Nuvolas mit diversen anderen Schleifenwesen bis zum Kampftag untergebracht. Eine Gruppe von Augenschönen, darunter auch Tess, das rothaarige Mädchen, kümmerte sich um die Schleifenwesen mit allem, was dazugehörte – vom Empfang und der Einweisung bis hin zu Verpflegung und Unterstützung beim Kampftraining.

»Am unheimlichsten sind mir die Morsanimas«, fuhr Rose fort. »Die halb schwebenden Gestalten in den langen Umhängen, du erinnerst dich? Dass man bei der Kommunikation mit ihnen ihre Stimmen nur im Kopf hört, ist bereits skurril genug, aber kennst du auch die Legende, die sich um sie rankt?« Sie blickte auf, um sich abzusichern, dass ich ihr wirklich zuhörte.

Das tat ich, während mein Blick zwischen ihr und dem Fenster hin- und herhuschte.

»Weißt du, was ihr Name bedeutet? Es ist eine Zusammensetzung aus Tod und Seele. Es heißt, in ihnen würden die menschlichen Seelen verweilen, während sie auf das Weiterrücken in das Reich der Toten warten. Gruselig, oder?«

»Hmmhmm.« Ich sah erneut aus dem Fenster. Tess war mit den Nuvolas inzwischen Richtung Südwiese verschwunden, und James stand kurz still da, während er ihnen hinterhersah. Wenige Augenblicke später nahm er seine müde gebeugten Schultern zurück, richtete sich auf und ging zügigen Schrittes auf den Hof zu. Instinktiv duckte ich mich, als sein Blick über die Fenster des Verwaltungsgebäudes strich, obwohl er mich durch die Spiegelung der frühen Wintersonne ohnehin nicht hätte sehen können.

Mit Unbehagen dachte ich an unser erstes Zusammentreffen seit unserer Rückkehr. Am Abend zuvor war ich mit Rose draußen gewesen. Sie hatte mir das neue Gelände auf der Südwiese gezeigt, und dabei waren wir auf James getroffen. Ich war seltsam befangen gewesen und hatte seine freundschaftliche Umarmung nur halbherzig erwidert. Ohne es zu wollen, erinnerte ich mich an seine grimmige Miene, als er während unserer Reise gesagt hatte, er würde nicht aufgeben und erreichen, dass ich ihn liebte und mit ihm zusammenkam. Gleichzeitig fiel mir ein, dass er ebenso wenig wie alle anderen, außer Rose natürlich, über Atlas und mich Bescheid wusste.

Das restliche Gespräch über war das Unwohlsein nicht von mir gewichen, und ich war froh gewesen, als Rose mich endlich zurück zum Verwaltungsgebäude begleitet hatte. Ich hatte mich durchaus gefreut, ihn wiederzusehen. Die Reise hatte uns, ohne dass ich es gewollt hatte, für immer verbunden. Ich hatte damals nicht gelogen, als ich ihm gesagt hatte, er sei wie ein Bruder für mich, und ich würde ihn ebenso lieben. Doch das Jahr, das wir dann ohne ihn verbracht hatten, stand jetzt irgendwie zwischen uns und ließ mich befangen mit ihm umgehen.

»Die Flugwichtel sind einfach nur nervig, ebenso wie die Erdgnome, ihre flügellosen Verwandten. Wozu sollen die beim Kampf überhaupt gut sein? Wahrscheinlich freuen sie sich auf die Gelegenheit, dass wir alle abgelenkt sind und sie sich ungestört an unserem Hab und Gut zu schaffen machen können.« Mit spitzen Fingern schloss Rose das Nagellackfläschchen und pustete abschließend ein letztes Mal auf ihre Nägel. »Komm, lass uns eine Runde an die frische Luft gehen, um ordentlich unsere Köpfe durchpusten zu lassen. Mir fällt in diesem Krankenzimmer langsam die Decke auf den Kopf.«

Da konnte ich ihr nicht widersprechen, mir ging es ja genauso. So befanden wir uns keine fünf Minuten später, warm eingepackt, ich hatte deutlich mehr Schichten an als Rose, auf dem Weg durch das Verwaltungsgebäude nach draußen. Sobald wir aus der Tür traten, schlug uns beißende Kälte entgegen, und ein eisiger Wind rüttelte an uns, als wollte er uns deutlich zeigen, dass der milde Herbst endgültig vorbei war.

Ich hielt ihm mein Gesicht entgegen, fühlte das kräftige Prickeln auf der Haut, den er verursachte, und genoss das Gefühl, als einige Strähnen meine Wangen kitzelten und ich den süßen Geschmack von Freiheit auf meiner Zunge spürte. Der Himmel war wolkenverhangen von einem grau-weißen Gemisch, das sich schon seit Tagen dort zusammenballte. Ich fragte mich, wann es den ersten Schnee geben würde, und amüsierte mich über meine Erinnerungen an die ersten Tage in dieser Schleife. Damals hatte ich gedacht, dass das warme, sonnige Wetter, der stete Blumenduft, der in der Sommerbrise lag, das Zwitschern der Vögel und das laute Zirpen der Grillen für immer währen würden.

Damals hatte ich die bis dahin schlimmsten Stunden gerade erst hinter mir. Ich hatte versehentlich meine Schwester getötet, mein Zuhause und meine Familie verloren. Vollkommen verwirrt und überfordert von den neuen Eindrücken und dem ständigen Strom an Informationen, die ich durch das Wissensgift erhalten hatte, das mir Tatjana verabreicht hatte, hatte ich mich bemüht, mich hier bei den Augenschönen einzuleben. Dieser Ort war mir wie eine Art Abklatsch des Paradieses vorgekommen, in das man nach seinem Tod wohl kommen sollte. Jedenfalls, wenn man all jenen glaubte, die einem das nach einem ehrlich und schuldlos geführten Leben versprachen. Nach Evies Tod, für den ich verantwortlich gewesen war, war ich mir aber nicht mehr so sicher, ob das auch für mich zutraf.

Jedenfalls hatte ich die Schönheit dieses Ortes gespürt, gerochen, gehört und geschmeckt, hatte sie für eine ewig andauernde Schönheit gehalten. Wie bei fast allem offenbarte sich erst jetzt, über ein Jahr später, für mich die zweite, dunkle Seite der Schleife, die aus einem gewöhnlichen Winter mit eisiger Kälte und all den Unannehmlichkeiten bestand, die man hier mit einer unbekannten Krankheit eben so hatte. Es stellte sich heraus, dass der Anschein eines Paradieses genauso oberflächlich und aufgesetzt gewesen war wie meine gespielte Fröhlichkeit oder die unechte Gleichgültigkeit seit Atlas’ Trennungsworten.

Ich schüttelte die unschönen Gedanken ab und lief mit Rose weiter über den vertraut knirschenden Kies des Hofes. Auf der gegenüberliegenden Seite huschte eine Gruppe von Gestalten entlang, die auch in dem durch die Wolken gedämpften, schwachen Sonnenlicht noch leicht glitzerten.

»Sieh mal, Rose, eine Gruppe Glimmergillians.«

Rose folgte meinem Blick und sah die letzten Reste Geglitzer, bevor die Gruppe hinter dem Wohnhaus 3 verschwand, wahrscheinlich auf dem Weg zu ihrer eigenen Unterkunft.

»Die gehen mir langsam auf die Nerven.« Rose rümpfte die Nase.

Ich sah sie grinsend an. »Oooh … wird da jemand etwa fremdenfeindlich?«

»Red keinen Unsinn. Generell habe ich nichts gegen all diese Schleifenwesen. Es ist super, dass sie uns beim Kampf gegen die Nächtlichen Geschöpfe helfen, obwohl ich immer noch glaube, dass beim Großteil von ihnen Eigennutz und der eigene Gewinn eine größere Rolle spielen als ihre Hilfsbereitschaft uns gegenüber.«

»Das kannst du ihnen kaum vorwerfen. Wer möchte denn, bitte, nicht friedlich leben?«

»Ich werfe es ihnen ja auch gar nicht vor, ich wollte doch etwas ganz anderes sagen. Die meisten von ihnen sind schließlich ziemlich okay. Allen voran die Nuvolas. Aber zum Beispiel diese Glimmergillians … Findest du sie nicht auch leicht bizarr?« Meine Freundin verzog das Gesicht.

»Warum sollte ich?«

»Sieh sie dir doch einmal an. Sie sind ja wirklich hübsch, keine Frage. Ihre elfenhaften Glieder, die fortwährende Eleganz bei jeder Bewegung und das Glitzern ihrer Haut im Licht … allerdings wissen sie das selbst nur zu gut. Wusstest du, dass sie nie ohne mindestens einen Spiegel unterwegs sind, in dem sie sich betrachten können? Wenn sie keinen dabeihätten, wäre das in etwa so, als wenn wir keine Kleidung am Leib hätten, wenn wir draußen herumlaufen. Sie erinnern mich an diesen einen Jungen aus den Griechischen Sagen … Narziss. Der hat sich in sein eigenes Spiegelbild verliebt. Echt verrückt.« Sie seufzte. »Und außerdem besteht diese Spezies nur aus Männern.«

»Also nicht fremdenfeindlich, sondern männerfeindlich?«, zog ich sie auf, doch sie ignorierte mich.

»Stell dir vor, sie entstehen aus dem verloren gegangenen Sonnenlicht in tiefen Wäldern. Deswegen brauchen sie auch keine Frauen, um sich fortzupflanzen. Und das Sonnenlicht ist mit ihrer Haut verwoben, sodass sie immerzu glitzern und von innen heraus glimmen.«

»Ehrlich, Rose, höre ich da so etwas wie Eifersucht heraus? Du gehörst zu der am schönsten, makellosesten und perfektesten aussehenden Art überhaupt und regst dich darüber auf, dass deine Haut nicht glitzert und du nicht leuchtest? Du bist viel oberflächlicher, als ich immer dachte.«

Rose stieß mich spielerisch in die Seite. »Es tut mir leid, dass du es nicht früher gemerkt hast. Dann würde es nicht so überraschend kommen, wenn ich dir sage, dass ich mit dir nur befreundet bin, weil du von Anfang an so unglaublich gut aussahst.«

Ich schaute sie gespielt erschrocken an, bevor wir beide in heilloses Gekicher ausbrachen, das mir für kurze Zeit Atemnot bescherte. Trotzdem tat es auch unglaublich gut, wieder so befreit mit meiner besten Freundin lachen zu können. Es schien die Last, die schwer schmerzend auf meinem Herzen lag, ein klein wenig leichter zu machen.

Wunderbar erfrischt, mit neuer Energie und besserer Laune kehrten wir nach einer ausgiebigen Runde um den Hof und an den Rändern des Südwestwaldes entlang zurück zum Verwaltungsgebäude. Meine Beine waren müde von der kurzen Strecke, doch ich wollte noch nicht, dass unser kleiner Ausflug schon vorbei war.

»Können wir noch kurz beim Duschraum vorbeischauen? Ich glaube, ich habe heute früh mein Handtuch dort liegen lassen«, sagte ich deswegen.

Es stimmte sogar, doch der eigentliche Grund war, dass die Duschräume einen weiteren Schlenker auf dem Weg zurück zum Krankensaal bedeuteten, da sie sich in einem anderen Flügel des Gebäudes befanden.

Natürlich war Rose einverstanden. Also stiefelten wir langsam die breiten Treppen, Gänge und Flure entlang, vorbei an den großen Fenstern und bunten Gemälden, die die Wände schmückten.

Ein wenig erinnerte mich das an meinen ersten Tag hier, als Rose für mich noch ein fremdes, durch ihre bunten Nägel und ihre durchgeknallte Art etwas verrückt wirkendes, aber sympathisches Mädchen gewesen war. Dass sich hinter der tollen äußeren Schale auch noch ein kluger Kopf und ein ehrliches Herz befanden und sie einmal meine beste Freundin werden würde, wusste ich damals ja noch nicht.

Wir tratschten auf dem Weg in die Duschräume über Belanglosigkeiten, aber als ich die Tür öffnete, erinnerte ich mich an das Gefühl, das ich am Morgen gehabt hatte. Es war seltsam gewesen, wieder hier zu sein. Einen der ersten Räume, den ich hier zu Gesicht bekommen hatte, erneut zu betreten und all die Erinnerungen aufleben zu lassen. Damals hatte ich gedacht, ich wüsste, was das Wort Herzschmerz bedeutete. Wie dumm ich doch gewesen war!

Ich schüttelte den Kopf, um die Gedanken zurückzudrängen, und folgte Rose hastig in den gekachelten Raum.

Mein Handtuch hing über der Wand der dritten Kabine, in der ich geduscht hatte, was mich eigentlich bereits stutzig hätte machen müssen. Hatte ich es heute Morgen nicht auf dem Tischchen am Eingang liegen lassen?

Rose schnappte es sich und drehte sich mir zu, grinste über einen Witz, für den ich nicht aufmerksam genug gewesen war. Sie tänzelte an mir vorbei zur Tür, öffnete sie und trat zur Seite. Ich wandte mich gerade zum Gehen, als ich etwas aus dem Augenwinkel sah.

Einen dunklen Fleck am Boden.

Einen kleinen Makel in einer sonst fehlerlosen Kulisse.

Rose, die mein Zögern bemerkte, sah mich fragend an. Ich nickte in Richtung des Flecks auf dem Boden. Mit zusammengezogenen Augenbrauen ließ sie die Tür los und ging darauf zu. Ich folgte ihr, und je näher wir kamen, desto mehr bestätigte sich meine schreckliche Vermutung. Und als wir knapp vor dem Fleck standen, nah genug, um zu sehen, dass um den großen länglichen Fleck auch viele kleine Spritzer waren, und Rose entsetzt die Luft einzog, erkannte auch ich endgültig, was ich bereits geahnt hatte.

Hier im hinteren Teil des Duschraums, etwas versteckt, so, dass man es nicht gleich entdeckte, zog sich eine breite, rote, dickflüssige Lache über den Boden.

Blut.

Die ersten fünfzehn Schleifen

Erste Schleife

Verknüpfungsschleife (magizismische Verankerung der fünfzehn Schleifen aneinander), inkl. Kleiner Empfangssaal

Zweite Schleife

eingerichteter Saal, zum Empfang der neuen Augenschönen

(häufigster Landeort nach der Ersten Fahrt)

Dritte Schleife

Halle der Erkenntnis und Saal des Wissens

Vierte Schleife

Wohnschleife: elf Gebäude, unterirdische Trainingshallen,

Wiesen / Wald für das Training

Fünfte Schleife

Klarsichtnebel (Spiegeltelefon), mit dessen Gegenstücken die Zeitler (reisende Augenschöne) Verbindung mit den anderen Augenschönen aufnehmen können

Sechste Schleife

Anpassung der Augenschönen an Zeit und Ort durch Dromeden für aufwendigere Aufträge

Siebte Schleife

Entwicklung der Omunalisuhren (Produktion, Reparatur etc.)

Achte Schleife

Aufenthaltsort / Wohnschleife der verbündeten Dromeden

(für kurze Zeit)

Neunte Schleife

Aufenthaltsort / Wohnschleife der verbündeten Dromeden

(meist lebenslang)

Zehnte Schleife

magizismische Forschungs- und Entwicklungsschleife der

Dromeden (spezialisiert auf neue Augenschöne, z. B. Kleidung, Lieblingsdinge etc.)

Elfte Schleife

magizismische Forschungs- und Entwicklungsschleife der

Dromeden (spezialisiert auf neue magizismische Artefakte)

Zwölfte Schleife

Organisation der Zeitfahrten für die Einkäufe, übergangsweise Aufbewahrungsort der Einkäufe

Dreizehnte Schleife

Orakelsee: verkündet warnende oder leitende Prophezeiungen

Vierzehnte Schleife

Ausgangsort für Zeitfahrten (einfache Techniken)

Fünfzehnte Schleife

Ausgangsort für Zeitfahrten (fortgeschrittene Techniken)

Augenschön Das Herz der Zeit (Band 3)

Подняться наверх