Читать книгу Augenschön Das Herz der Zeit (Band 3) - Judith Kilnar - Страница 6

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Kapitel 2

Irgendwie schaffte ich es mit all meiner Konzentration, nicht wieder in dem Loch zu versinken, sondern anwesend zu bleiben, bis Rose zurückkam. Im Zimmer lag immer noch der warme Duft des Essens, und dadurch, dass die Übelkeit wie immer genauso schnell verschwunden war, wie gekommen war, konnte ich diesen auch genießen.

Rose ließ sich zurück auf ihren Stuhl sinken, stützte sich mit den Ellenbogen ab und musterte mich. Ich starrte den Tisch an und dachte wieder an unser Gespräch. Quälend glühte das Messer auf. Verdammt, ich brauchte unbedingt etwas, was mich ablenkte!

»In deiner Abwesenheit ist eigentlich nicht viel passiert. Oder ziemlich viel, je nachdem, was für eine Bedeutung man den Ereignissen beimisst.« Rose schien wieder einmal Gedanken lesen zu können und tat genau das, was mir half, sie quasselte unwichtiges Zeug. »Nachdem ihr weg wart, war eigentlich alles ganz normal. Allerdings habe ich mich ohne dich natürlich gelangweilt, das zählt aber nicht wirklich. Jedenfalls, kurz darauf hat eine Zweiergruppe, die mit dem Einkaufen in den Äußeren Schleifen dran war …«

»Dem was?« Ich fühlte mich zurück in meine Anfangszeit hier versetzt. Schon damals war jeder zweite Satz unverständlich gewesen, und Rose hatte meine tausendfach gestellten Fragen immer und immer wieder beantworten müssen.

Rose sah überrascht aus. »Das weißt du noch nicht?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Komisch«, murmelte Rose, »hatte ich das nicht irgendwann schon einmal erwähnt? Na egal. Also, jedes Augenschön hat einen Partner, mit dem es alle paar Monate an der Reihe ist, in die Äußeren Schleifen zu fahren, um Einkäufe zu erledigen. Du warst noch nicht lange genug da, um zugeteilt zu werden. Nun ja, und bei diesen Fahrten in die Äußeren Schleifen können immer wieder Missgeschicke passieren … wenn man es so nennen kann.« Rose grinste. »Manchmal sind sie richtig witzig. Wenn beispielsweise die Menschen einen beim Magizieren beobachten und überhaupt nichts mehr verstehen. Allerdings kann auch vieles nach hinten losgehen … wie eben damals, kurz nachdem ihr abgereist seid. Die zwei Augenschönen, die in den Äußeren Schleifen etwas erledigen mussten, Bronwyn und Chris, hatten aus Versehen die falsche Zeit eingestellt und waren auf einem mittelalterlichen Markt gelandet. Da sie für ihren Zeitsprung vier Stunden eingestellt und nichts anderes zu tun hatten, dachten sie, dass sie einfach auf dem Markt dort einkaufen gehen. Offensichtlich hatte Chris ihnen mit seiner Variantmagie unauffällig Kleider beschaffen können, und so zogen sie los. Natürlich konnten sie nicht einmal ansatzweise einkaufen, was sie eigentlich besorgen sollten. Es war damals noch nicht erfunden. Ein paar Kleinigkeiten fanden sie aber doch. Und dann …« Rose kicherte.

Ich lehnte mich vor, verschränkte die Arme auf dem Tisch und legte meinen Kopf darauf ab, während ich sie weiter ansah. Mir fiel auf, dass viele kleine goldene Sternchen auf blauem Lack ihre Nägel schmückten. Hübsch.

»Dann haben sie wohl einen Fehler begangen. Chris hat einen der Händler als Ausbeuter bezeichnet, dem das natürlich gar nicht gefiel, und ruckzuck war ein wütender Streit im Gange. Nach und nach kamen immer mehr Händler und Kunden hinzu, und es bildeten sich zwei Fronten. Chris versuchte, gemeinsam mit Bronwyn den Streit zu schlichten. Doch vergeblich, die Ersten begannen bereits handgreiflich zu werden. Chris und Bronwyn drückten sich am Rand herum und sahen panisch dabei zu, wie eine Prügelei entbrannte.«

Ich konnte mir bildlich vorstellen, wie sich eine große Menschenmasse auf einem Marktplatz gegenseitig die Köpfe einschlug. In meinem alten Leben hatte ich mich oft gefragt, wenn ich einmal auf dem Markt gewesen war, wie der Verkauf trotz der wütend gegeneinander anbrüllenden Händler friedlich verlaufen konnte.

»Dann kam auch noch die Garde hinzu und drängte die Streitenden auseinander«, fuhr Rose fort. »Plötzlich tauchte eine Frau aus der tobenden Menge auf, zeigte auf Chris und Bronwyn und rief, dass sie gestohlene Kleidung tragen würden. Offensichtlich hatte Chris seinen Variantmagie-Diebstahl nicht schlau genug begangen. Die Garde ließ von der Meute ab und nahm Chris und Bronwyn in Gewahrsam. Sie wurden ins Schlossverlies gesperrt, da die Arrestzellen alle mit Weinfässern gefüllt waren aufgrund einer bevorstehenden Feier. Die beiden hatten langsam die Schnauze voll und brachen aus ihrem Gefängnis mithilfe von Magizismen aus. Leider wurden sie auf ihrer Flucht durch das Schloss erneut geschnappt und schafften es nur, sich zu befreien, indem sie einen ganzen Teil des Flures wegsprengten und in der aufkommenden Aufregung verschwinden konnten. Bis in die Stadt zurück schafften sie es. Allerdings war die Garde ihnen dicht auf den Fersen. Also verstecken sie sich in einer abgelegenen Gasse, die so voll mit Müll war, dass die Garde nicht einmal zu Pferde einen Schritt hineintun wollte. Völlig verschwitzt, dreck- und rußverschmiert und bis zum Himmel stinkend, kamen sie hier wieder an.«

Rose begann zu giggeln, und ihre Augen funkelten, als sie fortfuhr. »Alle haben sie selbstverständlich bedauert, bevor sie die Geschichte erzählten und dann ein schimpfendes Donnerwetter der Neles über die beiden erging. Dass sie besser hätten aufpassen müssen und die Zeit besser hätten einstellen sollen, um solche Fehler zu vermeiden.«

Ich nickte langsam. »Und … was war – tut mir leid, wenn die Frage komisch klingt – an der Geschichte jetzt der witzige Teil?«

Rose biss sich auf die Lippen, um nicht loszuprusten, und stimmte mit ihren Sternenhimmel-Fingernägeln einen ratternden Rhythmus auf dem hölzernen Tisch an.

»Die Pointe kommt erst noch. Ich habe vergessen zu erwähnen, dass Bronwyn ein hübsches und wirkliches nettes Mädchen ist. Doch es wurde gemunkelt, dass sie sich mit Tyler traf, und dass sie bald seine neue Freundin sein würde. Anscheinend stimmte das alles auch, nur dass Bron-wyn Tyler die ganze Zeit ausgetrickst hat. Und somit zurück zu meiner vorigen Erzählung, die eher nur die Einführung in meine eigentliche Geschichte war. Bronwyn hat Tyler nämlich an dem Abend nach ihrem Abenteuer in der Äußeren Schleife im Speisesaal ziemlich dämlich aussehen lassen, und das kam so: Natürlich hatte sich die Geschichte ihrer Reise rasch herumgesprochen, und jedes Augenschön wusste Bescheid. Das war die Gelegenheit, auf die Bronwyn gewartet hatte. Ihre beste Freundin war nämlich auch schon auf Tyler hereingefallen, und er hatte ihr mit seiner gleichgültigen Art ziemlich wehgetan. Auch wenn sie eigentlich selbst etwas daran schuld war, wenn du mich fragst, weil sie sich überhaupt auf ihn eingelassen hat. Bronwyn jedenfalls wollte sich für sie an Tyler rächen und hatte deshalb ein Gedicht für ihn geschrieben, das sie beim Abendessen, als alle anwesend waren, aufsagte.«

Rose hielt mit dem Sternenhimmelgeklackere inne und sprang plötzlich vom Stuhl auf. »Ich glaube, ich kann es noch auswendig. Es hat sich wohl für immer in mein Gehirn eingebrannt.« Sie nahm eine Rednerpose ein und setzte eine salbungsvolle Miene auf, während sie mit quäkender Stimme begann, die Reime aufzusagen:

»Tyler, lass mich aufsagen ein Gedicht für dich,

auch wenn es sein wird – ich versprech’s – ungeheuerlich.

Es handelt von dir, zieht es schon dadurch runter,

ich hoffe trotzdem, es gefällt – und macht alle munter.

Stinkender Müll, der meine Festnahme hat verhindert,

durch ihn fühlte ich mich heute sehr an dich erinnert.

Ehrlich, Tyler, womöglich ist es dir entschwunden,

aber die Dusche wurde längst erfunden.

Die vorbeireitende Garde strahlte Dummheit aus,

wieder kam ein Gedanke an dich heraus.

Denn häufig frage ich mich, mit dem Ding hinter meiner Stirn:

Hast du, Tyler, überhaupt ein Gehirn?

Zum Schluss sind wir durch das Zeitportal entschwunden,

tiefe Erleichterung habe ich empfunden.

Und erleichtert wär ich auch, wenn du erfülltest meine Bitte,

verschwinde endlich aus der Mädchengruppen Mitte!«

Keine Sekunde länger schaffte Rose es, ein unbewegtes Gesicht zu machen, und brach in schallendes Gelächter aus. »Du … du hättest sein Gesicht sehen müssen«, quiekte sie. »Hätte er den Ausdruck auch bei einem Vorsprechen für Dick und Doof aufgesetzt, hätte er sofort die Rolle von Doof bekommen. Ich habe davor noch nie so eine Miene gesehen – perplex, überrascht und wie geohrfeigt. Und danach … wirklich, du hättest es sehen müssen, ist er total rot geworden. Rot wie eine Tomate! Er ist aufgesprungen, hat Bronwyn kurz beleidigt und ist aus dem Speisesaal verschwunden. Was für ein Schwächling!« Rose setzte sich zurück auf ihren Stuhl, immer noch grinsend, und sah mich zufrieden an.

Auch ich hatte gelacht. Es war ungewohnt und fühlte sich völlig falsch an. Als ob meine Natur beschlossen hätte, das Lachen eigentlich aus meinem Repertoire für immer zu streichen.

»Bronwyn wird von den Tyler-Anhängerinnen jetzt zwar abgrundtief gehasst, das macht ihr aber nichts aus. Ich meine, wer mag die Fangemeinde schon außer Tyler und ihr selbst? Und von uns Tyler-Gegnerinnen wird sie dafür umso mehr gefeiert.« Verträumt starrte sie auf die Tischplatte, bevor sie erschrocken zusammenzuckte und ihre Omunalisuhr hervorzog. Nach einem kurzen Blick darauf sprang sie auf und schob den Stuhl an den Tisch.

Fragend blickte ich sie an.

»Ich muss leider los. Es ist ein einziges Elend, diese Verpflichtungen.« Wehmütig ließ sie ihren Blick durch mein Zimmer streifen und drückte mich dann noch einmal an sich. »Denk daran, du bist stark«, flüsterte sie mir vor dem Gehen noch einmal ins Ohr.

Offensichtlich sah sie das anders als ich.

Mit einem Klicken fiel die Tür ins Schloss, und ich blieb allein zurück. Das Licht brannte noch hell, und das Sofa war lange nicht so bequem, wie mein Bett es sein würde, doch ich fühlte mich so kraftlos und konnte mich nicht aufraffen. Also zog ich nur matt die Beine an den Bauch und starrte, auf die Seite gelegt, den Tisch an.

In Rose’ Abwesenheit kam ich mit der Stille nicht gut klar. Schon bald verlor ich den schwach gefochtenen Kampf gegen mich selbst und sah Raum und Zeit vor mir verschwinden.

Ich vergrub die Hände tiefer in den Taschen meines dunklen, gefütterten Anoraks, der mir bis zu den Schenkeln reichte, und trat mit meinen hohen Stiefeln fest auf den Kies auf. Obwohl ich, laut Rose, vierzehn Stunden auf dem Sofa gelegen hatte, war die Erschöpfung noch nicht ganz gewichen, und ich wäre am liebsten zurück in die Wohnung gegangen. Doch das hatte meine Freundin nicht zugelassen. Sie hatte den gestrigen Abend auch damit verbracht, mir Herbst- und Winterkleidung zu besorgen, etwa den Anorak und die hellbraunen Lederstiefeletten, die ich gerade trug.

Ich schaute auf den Boden, während der Wind kühl durch meine schwarz glänzenden Locken wehte, die offen über meine Schultern und die Kapuze fielen. Rose hatte mich daran gehindert, sie als Pferdeschwanz unter meiner Kapuze zu verstecken, und gemeint, je früher sich alle daran gewöhnten, umso besser wäre es für mich. Ich hatte nicht widersprochen und bereute es jetzt auf dem Weg zur Westwiese.

Schon im Frühstückssaal hatten mich alle angestarrt. Rose hatte gesagt, dass sie es auch getan hätten, wenn ich wie früher ausgesehen hätte. Schließlich war ich durch die Reise zu einer Berühmtheit geworden. Doch beruhigt hatte es mich keineswegs. Ich hatte nur einen halben Apfel gegessen, denn obwohl ich einen unbändigen Hunger hätte haben müssen, verspürte ich keinen Appetit und hätte am liebsten gar nichts gegessen.

»Rose? Ich muss mal.«

»Das nehme ich dir nicht ab, Lucy. Du warst heute schon mindestens zweimal auf dem Klo. Denk dir schlauere Methoden aus, um das Training zu schwänzen.«

Ich seufzte. »Ehrlich Rose, ich muss wirklich auf die Toilette.«

Rose verdrehte die Augen, blieb aber schließlich stehen. »Na gut. Ich warte hier auf dich, und wenn du in nächster Zeit nicht auftauchst, dann erzähle ich allen, dass sich neben deiner Haarfarbe auch deine Gehirntätigkeit verändert hat. Wobei, das glaubt mir bestimmt niemand. Vor der Reise warst du auch nicht gerade die Hellste.«

Ich streckte ihr die Zunge raus und lief zurück über den Hof.

In dieser Schleife hatte sich neben dem Wetter noch einiges mehr verändert. Jedes Augenschön hatte inzwischen einen strikten Tagesplan. Verschiedene Trainingseinheiten, überall auf dem Gelände, mit unterschiedlichen Ausbildern. Die unterirdischen Hallen waren für die anderen Schleifenwesen zum Trainieren reserviert, weshalb wir Augenschönen draußen trainieren mussten.

Abends fanden Versammlungen in der Veranstaltungshalle statt, bei denen nach Rose’ Erzählungen Taktiken sowie Änderungen am Trainingsplan besprochen wurden und Gruppenumformungen stattfanden. Zudem hatte man die Magieübungen an das hintere Ende der Ostwiese verlegt, weil auf der Südwiese die Behausungen für die noch erwarteten Schleifenwesen errichtet wurden. Ich hatte noch nicht vorbeigeschaut, lediglich den von den Bauarbeiten herrührenden Lärm vernommen.

Meinen Mitreisenden – selbst dieser ihn umschreibende Gedanke tat schrecklich weh – hatte ich seit gestern nicht mehr gesehen. Ich war Rose außerordentlich dankbar dafür, dass sie es geschafft hatte, mich davor zu bewahren, zusammen mit ihm bei den Neles Bericht erstatten zu müssen.

James war ich ebenfalls noch nicht begegnet, was mich eigentlich nicht weiter hätte stören sollen in Anbetracht seines Benehmens, bevor wir von ihm getrennt worden waren. Allerdings hatte ich ihn auf der Reise besser kennengelernt und vermisste ihn irgendwie als zwar nervigen, aber doch auch guten Freund. Das Einzige, was mir über ihn zu Ohren gekommen war, hatte mir Rose erzählt. Und es handelte nur davon, wie er die laufenden Vorbereitungen organisierte und sich darum kümmerte, dass alles richtig verlief. Auch der Wochenplan, den meine Freundin mir gegeben hatte, stammte von ihm.

Ich lief durch die Eingangstür und dann schnell die Treppe hinauf zu meiner Wohnung. Rose traute ich alles zu und wollte ihr keinen Anlass geben, mir einen kleinen Streich zu spielen. Als ich die Tür aufschloss und eintrat, stutzte ich kurz. Irgendetwas war seltsam. Nachdenklich sah ich mich um, während ich aus den Stiefeletten schlüpfte. Hatte ich die Tür zum Schlafzimmer nicht hinter mir geschlossen, als ich nach dem Anziehen zurück ins Wohnzimmer gegangen war? Und die Badezimmertür war doch sicherheitshalber offen gewesen, falls mich eine weitere Übelkeitsattacke überkommen sollte. Stirnrunzelnd bemerkte ich auch eine offene Schublade an meiner Kommode. War jemand hier drin gewesen?

Kopfschüttelnd ging ich ins Bad. Wahrscheinlich hatte Rose doch recht gehabt, und in meinem Gehirn war etwas zu Schaden gekommen. Das bildete ich mir alles sicherlich nur ein.

Als wir etwas später an der Westwiese ankamen, stellte Rose fest, dass ich nicht zusammen mit ihr zum Schwertkampf eingeteilt war, sondern auf der Ostwiese schießen üben sollte. Auch in meinem weiteren Wochenplan war ich zu keiner Übungseinheit mit dem Hantieren von Waffen oder Speeren eingeteilt. Auf Rose’ vielsagende Bemerkung, dass beim Erstellen meines Plans wohl jemand ziemlich genau über meine Vorlieben oder Kampftechniken Bescheid gewusst und sie auch berücksichtigt hatte, ging ich nicht ein, sondern verschwand ziemlich erleichtert über das frostüberzogene Gras nach Osten.

Es schien noch weitere Augenschöne zu geben, die auf das Bogenschießen spezialisiert waren, denn die Gruppe war ziemlich groß. Der Leiter hieß David, war neunzehn oder zwanzig und mir deutlich sympathischer als Xavier. Er hatte als Erster versucht, mir Kampftechniken beizubringen, und war dabei eindeutig zu selbstverliebt gewesen.

Ich stand allein am Rand der Gruppe und wich den neugierigen Blicken der anderen aus, während David uns begrüßte. Er teilte uns mit, dass wir die Pfeilgruppe A waren und es noch zwei weitere Gruppen B und C gab. Allerdings betonte er, dass der Buchstabe der Gruppe nichts mit dem Können seiner Mitglieder zu tun hatte.

So langsam entstand ein Bild in mir, wie die Vorbereitungen auf den Kampf abgelaufen waren und noch immer abliefen. Da niemand genau gewusst hatte, wann wir kommen würden beziehungsweise wann der Kampf beginnen sollte, hatten alle alles trainiert. Rose hatte sich über die vielen Übungen im Speerkampf und im Klettern im Südwald heftig ausgelassen und sich darüber gefreut, sich mit ihrem neuen Wochenplan endlich auf den Schwertkampf konzentrieren zu können. Verrückt, dass sie gerade diese Kampfart so toll fand.

Durch das, was ich von ihr erfahren hatte, kam ich zu dem Schluss, dass man die Augenschönen auf verschiedenste Arten vorbereitet hatte und jetzt, da die Zeit so knapp geworden war, Elitegruppen für die jeweiligen Spezialgebiete bildete.

»Ihr werdet in Teams zu zweit zusammenarbeiten, die ich nachher einteile«, erläuterte David. »Zum Aufwärmen schießt jeder zehn Pfeile auf die Scheibe, danach versucht ihr euch im Wald an speziellen Zielpunkten wie der Gabelung eines Astes oder einem Loch in einem Baum. Wer die Möglichkeit und Lust hat, kann auch versuchsweise ein kleines Tier erlegen. Passt auf, dass ihr euch nicht gegenseitig trefft, das würde Zeit kosten, die wir nicht haben. Eine halbe Stunde könnt ihr im Nordwald üben, danach versammeln wir uns noch einmal hier.« David beendete seine Anweisungen und verteilte an jeden einen Bogen und einen Köcher mit Pfeilen.

Ich meinte zu bemerken, dass er ein paar Sekunden länger als nötig dafür brauchte, mir den Bogen und die Pfeile zu geben, und dass er mich dabei wie die anderen neugierig musterte. Ich hielt den Blick auf den Boden gerichtet, während ich immer wieder heftig blinzelte, um hier bei den anderen zu bleiben und nicht in das Loch zu fallen und meinen Körper erneut der Leere zu überlassen. Was machte ich eigentlich hier, wenn es doch egal war, wo ich war, was und wie ich etwas machte? Wenn doch nichts einen wirklichen Grund zu haben schien?

»Damit ihr mit allen Mitgliedern der Gruppe vertraut werdet, werden wir manche Übungen auch zusammen machen. Ansonsten wäre es gut, wenn ihr euch mit dem jeweils zugeteilten Partner gut verstehen würdet, da ihr im Kampf höchstwahrscheinlich mit ihm zusammen kämpfen und auf seine Hilfe angewiesen sein werdet. Ridge, du arbeitest zusammen mit Malcolm. Jesahja, du mit Aria, Paul mit Henry«, begann er jeden einzuteilen.

Erstmals mit einer gewissen Aufmerksamkeit präsent, verfolgte ich, wie David einem nach dem anderen einen Partner zuwies. Doch anscheinend spielte ich mir selbst etwas vor, denn ich hatte nicht mitbekommen, wie David meinen Namen an das Mädchen, das schließlich vor mir auftauchte, weitergegeben hatte. Sie musste in etwa so alt sein wie ich, vielleicht etwas jünger. Ihre leicht gewellten hellblonden Haare waren an ihrem Hinterkopf zu einem hohen Pferdeschwanz gebunden, der wippend auf Schulterhöhe endete. Sie trug eine enge schwarze Jeans und ähnliche dunkelbraun glänzende Stiefeletten wie ich. Dazu hatte sie ein dunkellilafarbenes Shirt an, über dem sie eine schwarze Lederjacke trug. Sie sah wunderschön und etwas verwegen aus.

Ihre gelben Augen blitzten unter den langen Wimpern, als sie mich mindestens genauso eingehend musterte wie ich sie. Blitzschnell schoss ihre Hand vor und griff meine. »Hallo, ich heiße Caitlin. Man spricht es K-e-itlin und nicht K-a-itlin aus. Die Schreibweise verwirrt manchmal.«

Froh über ihre offensichtliche Freundlichkeit, lächelte ich leicht. »Ich bin Lucy. Ganz normal ausgesprochen.«

»Weiß ich eigentlich schon, freut mich trotzdem. Übrigens – die schwarzen Haare sehen gut aus, obwohl ich keinen wirklichen Vergleich zu den blonden herstellen kann, da ich dich damit nur von Weitem gesehen habe.«

Ich nickte und versuchte, mir mein wachsendes Unbehagen nicht anmerken zu lassen. Es verlief ungefähr so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Meine Veränderungen waren das einzige Gesprächsthema. Und meine Meinung darüber tendierte deutlich ins Negative. Caitlins nächste Worte überraschten mich allerdings und ließen winzige Hoffnungen keimen, dass sie nicht zu den ganz Typischen gehörte.

»Allerdings vermute ich, dass du keine Lust auf öde Unterhaltungen über die Reise oder dich hast. Also schlage ich vor, dass wir uns einfach normal verhalten. Ich bin einfach Caitlin, und du bist einfach Lucy. Zwei gewöhnliche Augenschöne.«

Ich versuchte gar nicht erst, ihren Redefluss zu stoppen, der mich stark an Rose’ Redseligkeit erinnerte, sondern nickte nur hin und wieder.

Schließlich hob Caitlin ihren Bogen hoch und sah mich fragend an. »Wollen Einfach-Caitlin und Einfach-Lucy mit dem Training beginnen? Ach ja, ich bin Linkshänderin, weshalb ich beim Schießen anders dastehe. Nicht, dass du denkst, ich würde die Seiten verwechseln.«

Wieder nickte ich nur und folgte ihr, als sie sich neben zwei Jungen stellte. Wie die meisten der Gruppe hatten sie sich bereits vor einer der Zielscheiben positioniert. Ich beobachtete Caitlin, während sie einen Pfeil nach dem anderen abschoss. Sie hatte die Zunge leicht zwischen die Lippen geklemmt und die Augen konzentriert zusammengekniffen. All ihre Pfeile trafen die Zielscheibe, sogar ziemlich weit innen. Sie war gut. Nachdem sie ihre Pfeile aus der Scheibe gezogen und ihren Köcher wieder damit gefüllt hatte, stellte sie sich neben mich und sah abwartend auf meinen Bogen.

Leicht zittrig zog ich einen Pfeil hervor und legte ihn an. Es war über ein Jahr vergangen, seitdem ich das letzte Mal geschossen hatte, und es fühlte sich ungewohnt und leicht befremdlich an. Ich schloss das eine Auge, fixierte die schwarze Mitte und ließ den Pfeil surrend starten. Er flog vielleicht die Hälfte der Strecke durch die Luft, bevor er kraftlos ins Gras fiel.

»Bin aus der Übung«, rechtfertigte ich mich murmelnd und holte hastig den nächsten Pfeil hervor, ohne Caitlin anzusehen, damit sie nicht die Röte bemerkte, die meine Wangen schamvoll hinaufkroch.

Doch mit Caitlin hatte ich wirklich Glück und eine ausgezeichnete Kampfpartnerin bekommen. Sie war selbst sehr talentiert und konnte mir nützliche Verbesserungsvorschläge geben, war jedoch ganz und gar nicht eingebildet. Außerdem ließen ihre Witze meine schwach ausfallenden Leistungen nicht mehr so schlimm erscheinen.

Im Verlauf des Trainings stellte ich fest, dass meine Treffsicherheit zwar noch immer vorhanden war, mir allerdings die Kraft zu fehlen schien, die nötig war, damit der Pfeil auch weitere Distanzen überwinden konnte. Frustriert über den Mangel an Muskelstärke bemühte ich mich mehr darum, Caitlin zu helfen, als nach einer Möglichkeit zu suchen, wie ich mir selbst helfen konnte.

Die Lösung meines Problems kam ganz von allein, indem ich meinen Wochenplan noch einmal genauer studierte und feststellte, dass fast die Hälfte aller Stunden in die Rubrik Ausdauer und Krafttraining fiel. Und nachdem ich verwirrt bei Caitlin nachgefragt hatte, erzählte sie mir, dass die Abstellkammer von einem Waffenlager zu einer Sporthalle umgeräumt worden war, um den hinzugekommenen Schleifenwesen ebenfalls Hallen zur Verfügung stellen zu können. Die Kampfutensilien befanden sich nun in einem weiteren unterirdischen Raum, der bis zur jetzigen Verwendung ungenutzt verstaubt war, nachdem die ehemalige Krankenstation, die sich anfangs darin befunden hatte, in einen Teil des Verwaltungsgebäudes verlegt worden war.

Ich versuchte, Caitlins Erklärungen aufmerksam zu folgen, was mir jedoch schwerfiel. Obwohl mich die frische Luft und die viele Bewegung eigentlich hätten wachrütteln sollen, schienen sie bei mir den gegenteiligen Effekt zu haben. Ich wurde immer träger und fühlte mich erschöpft, konnte meinen Bogen fast nicht mehr anheben. Caitlin warf mir immer wieder seltsame Blicke zu, als würde ihr meine Erschöpfung auffallen, als sei sie aber nicht sicher, ob sie etwas sagen sollte. Als ich über eine Wurzel stolperte und anschließend, an einen Baum gelehnt, den aufkommenden Schwindel zu unterdrücken versuchte, öffnete sie sogar den Mund, schloss ihn allerdings kurz darauf, ohne ein Wort gesagt zu haben.

Mit jeder Minute wuchs meine Erschöpfung, als wir weitergingen. Ein seltsames Taubheitsgefühl ergriff von meinen Beinen Besitz, und ich schaffte es kaum, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Außerdem wurde mir immer wieder schwindelig, und vor meinen Augen huschten kleine Sternchen vorbei.

Schließlich hielt ich es nicht mehr aus und fragte sie, ob es in Ordnung sei, noch mal eine kleine Pause einzulegen. Ich nuschelte irgendetwas von Schmerzen am Fuß, bevor ich mich auf einem Baumstumpf niederließ. Caitlin lehnte sich mir gegenüber an eine hohe Zeder. Sie holte ein Taschenmesser aus ihrer Jacke und begann, an dem Bogen in ihrer Hand herumzuschnitzen.

Ich zog die Beine an und wippte leicht vor und zurück, während ich sie dabei beobachtete. Mein Atem ließ neblige Schlieren in der frischen Morgenluft entstehen, und meine Haut brannte leicht in der Kälte des anbrechenden Winters. Ab und an hörten wir die Stimmen der anderen Gruppen, die durch den Wald streiften. Ich versuchte, meine Gedanken beisammenzuhalten. Da hörte ich, wie Caitlin tief Luft holte, vermutlich, um mit ziemlicher Sicherheit endlich meinen ramponierten Zustand anzusprechen. Ich hatte keine Lust auf eine Diskussion über meine Gesundheit, weshalb ich in einem Anflug von Panik aufsprang und ihr ins Wort fallen wollte. Ab da ging jedoch alles schief.

Durch das überstürzte Aufspringen torkelte ich nach vorn und krachte fast in Caitlin hinein. Mein Magen drehte sich um und rebellierte. Ich konnte mich gerade noch abwenden, um zu verhindern, mich auf sie zu übergeben. Keuchend krallte ich meine zitternden Finger in die Baumrinde. Ich überging den Schmerz, den ich verspürte, als sich kleine Holzsplitter unter meine Nägel gruben, und würgte die mickrigen Reste des sich noch in mir befindlichen Essens hervor. Vor meinen Augen tanzten die Sterne jetzt wild, als ich mich schwankend an den Baum lehnte und aus meiner Jackentasche ein Taschentuch zog, um mir den Mund abzuwischen.

»Lucy … wie … was?« Caitlins Stimme überschlug sich vor Überraschung, Ungläubigkeit und Sorge.

Ich versuchte, mich zusammenzureißen, um sie nicht noch mehr aufzuregen.

»Du bist krank!«, brachte sie schließlich hervor.

Ich schüttelte den Kopf, doch es war so gut wie sinnlos, es zu leugnen. Caitlin hatte mit angesehen, wie das Unmögliche möglich geworden war. Mein Körper hatte sich über die Gesetze der Natur der Augenschönen hinweggesetzt, und zwar nicht im positiven Sinne. Es war unvorstellbar, aber mein unsterblicher Körper hatte sich allem Anschein nach eine Krankheit eingefangen, die er nicht sofort und im Verborgenen hatte beseitigen können.

»Oh doch, Lucy, du bist ganz sicher krank, erzähl mir keine Lügen. Du hast nicht einmal genügend Kraft, einen einfachen Bogen anzuheben, geschweige denn, normal zu laufen.«

Ich wollte ihr ins Wort fallen, doch sie hatte sich gerade erst in Rage geredet.

»Zudem hast du dich eben übergeben. Übergeben, Lucy, ist dir das klar? Ich weiß nicht, was oder wie du dir … vermutlich auf eurer Reise … etwas eingefangen hast, aber eines ist klar: Du bist krank und brauchst wie jeder Kranke Ruhe, anstatt dich hier im Wald abzumühen.« Sie richtete sich auf und blickte zurück auf den Weg, der zur Wiese führte.

Ich blieb stumm. Was sollte ich denn auch sagen?

»Ich werde sofort Tatjana verständigen, damit sie dich vom Training befreit.« Ihre Brauen waren besorgt zusammengezogen, und sie hob gespielt streng den Zeigefinger. »Wehe, du rührst dich vom Fleck.«

Ich wollte bitter auflachen. Als ob ich das gekonnt hätte!

Doch es kam nur ein grässliches Krächzen über meine Lippen. Über Caitlins Gesicht huschte ein mitleidiger Ausdruck, bevor sie ihre Omunalisuhr hervorzog und in einem gelben Leuchten verschwand. Ein intensiver Duft nach Zitrone wehte mir entgegen. Gab es etwa einen Gott der Zitronen?


Die Seele ist das einzig Unantastbare –

nur Liebe kann sie zerstören.

(Omun, Augenschöner)

Augenschön Das Herz der Zeit (Band 3)

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