Читать книгу Augenschön Das Ende der Zeit (Band 1) - Judith Kilnar - Страница 6

Оглавление

Kapitel 1

Südosten Englands, 1603

»Darf ich Euch daran erinnern, Mylady, dass in einer Dreiviertelstunde der Besuch eintreffen wird?«, tadelte mich eine ungeduldige Stimme.

Die Worte der groß gewachsenen Frau, die neben meinem Bett stand, wischten die letzten verschwommenen Spuren des Schlafes aus meinen Augen.

»W-was? Bereits so bald?«, stieß ich entsetzt hervor und schwang meine Beine über die Kante des Himmelbetts. »Weshalb teilt Ihr mir das erst jetzt mit? Rasch, helft mir doch!«

Ich hielt mitten in meinen Bemühungen, mir das weiße Nachthemd über den Kopf zu ziehen, inne und sah Mrs Murphy, die mir vorübergehend als Zofe zur Verfügung stand, anklagend an.

Sie eilte sofort herbei, um mir zu helfen. »Natürlich, Mylady.«

Schnell befreite sie mich aus meinem Nachthemd.

»Welche Uhrzeit haben wir denn?«, keuchte ich, während ich anfing, mir mit dem Wasser aus der Waschschüssel hastig die Arme zu reinigen. Meine Haut kribbelte, denn es war eiskalt. War ich denn so spät dran, dass nicht einmal genug Zeit war, mein Waschwasser aufzuheizen?

»Gleich halb fünf«, antwortete Mrs Murphy und nickte zu der bronzenen Wanduhr. »Die ersten Gäste haben sich für die nächste halbe Stunde angekündigt.«

Sie stellte die Waschschüssel weg und half mir in die Unterkleider. Am heutigen Tage waren es zwei, da das winterliche Wetter nichts anderes zuließ.

Meine Zofe bugsierte mich zum Kleiderschrank und holte mein neues Überkleid heraus. Die Schneiderin hatte es erst vor zwei Tagen fertiggestellt und ich war sehr zufrieden. Durch den goldenen Stoff zogen sich Muster aus eingestickten Blumen, die in kreiselnden Spiralen den Samtstoff luftiger wirken ließen. Meine Seidenärmel schienen bei jeder Bewegung in der Luft zu schweben.

Als Nächstes nahm sich Mrs Murphy meine hüftlangen, silberblonden Locken vor und legte sie in einem geflochtenen Kranz um meinen Hinterkopf. Nachdem meine Wangen gepudert und die Ohrringe eingehängt waren, legte sie mir die Halskette um, während ich in meine Schuhe schlüpfte.

Mit klappernden Absätzen verließ ich eilig mein Zimmer und Mrs Murphy folgte mir wie ein Schatten. Über mehrere Flure und Treppen gelangten wir in die Eingangshalle.

Mrs Murphy knickste vor meinen Eltern, dem Duke und der Duchess de Mintrus, und nickte auch meinen beiden älteren Schwestern Florence und Evelyna zu, bevor sie sich an die Wand neben die anderen Bediensteten zurückzog.

Ich eilte nervös neben meine Schwestern, und wartete darauf, dass ich Schelte bekommen würde. Doch außer, dass mein Vater mir einen Blick unter seinen buschig zusammengezogenen Augenbrauen zuwarf, sagte niemand etwas. Glück gehabt!

Ich wagte einen Seitenblick auf meine beiden Schwestern. Florence, die Ältere, lächelte mich aufmunternd an und Evie – Evelyna, wurde sie nur genannt, wenn unsere Eltern verärgert waren – zwinkerte mir neckisch zu. Doch noch rechtzeitig, sollte das vermutlich heißen.

Wie lange sie wohl schon hier stand?

Meine Überlegung wurde durch ein lautes Klopfen unterbrochen.

Mein Vater winkte kurz mit seiner Hand und zwei der Diener öffneten das schwere Eichentor. Auf den marmornen Stufen davor stand eine ältere Frau mit grauen Haaren, die in einer komplizierten Hochsteckfrisur um ihren Kopf verteilt waren. Sie trug ein elegantes oranges Kleid und auf ihrem Busen, der aus dem Dekolleté zu quellen schien, thronte eine reich verzierte Goldkette. Neben ihr stand ein glatzköpfiger Mann mit weißem Schnauzbart und einem faltigen Gesicht, der mindestens einen Kopf kleiner war als die Frau.

Mein Vater breitete die Arme aus und knipste ein strahlendes Lächeln an. »Mr und Mrs Hughes, was für eine Freude, Euch zu sehen!«

»Die Freude ist ganz auf unserer Seite, mein lieber Duke«, erwiderte Mrs Hughes und gab ihr übliches, gekünsteltes Lachen von sich.

Derweil hatte mein Vater Mr Hughes die Hand geschüttelt und ihn freundlich hereingebeten.

»Welch ein Tag, welch ein Tag«, plapperte Mrs Hughes weiter und trat zu meiner etwas überfordert aussehenden Mutter. »Da erinnere ich meine Clarice doch gestern Abend noch, sie solle mir mein neues Kleid zurechtlegen, und was sehe ich heute Morgen? Das falsche Kleid ist herausgelegt worden und Clarice schlummert friedlich in ihrer Kammer.«

Meine Mutter schaute verwirrt. »Wer ist …?«

»Clarice?«, fiel ihr Mrs Hughes ins Wort. »Aber meine liebe Celine, das ist doch meine Zofe. Durchaus noch sehr jung, doch sie war die beste, die ich auftreiben konnte«, stöhnte sie theatralisch. »Sie werden immer schlechter, die Zofen, nicht wahr? Und die guten sind schon weg. Wobei Clarice eigentlich recht erzogen ist. Ein bisschen vergesslich vielleicht, aber – wer vergisst nie etwas und hat immer alles bereit und ist über alles informiert? Ach, wenn wir dabei sind, Clarice ist ein wahrer Quell, was Klatsch betrifft. Sie weiß einfach über alles Bescheid! Stellt Euch nur vor, sie hat gehört, dass die Duchess von Wederssay eine Affäre mit einem der Stallburschen gehabt haben soll.« Mrs Hughes beugte sich vertraulich zu meiner Mutter. »Es dürfte also keine Überraschung sein, dass der kleine Sohn mehr Ähnlichkeiten mit ihm aufweisen soll, als mit dem Duke, seinem angeblichen Vater …«

Ich wandte mich ab. Immer die gleichen langweiligen Klatschgeschichten.

Doch den nächsten Gast, den mein Vater begrüßte, hatte ich noch nie gesehen. Neugierig musterte ich ihn. Es war ein hochgewachsener Mann mit dunklen Haaren und markanten Wangenknochen.

»Ihr müsst der Earl of Holeweavers sein«, sagte mein Vater gerade und reichte dem Mann die Hand.

Der Earl musterte meinen Vater mit hochgezogenen Augenbrauen. »Genau der bin ich«, erwiderte er kühl und ließ meinen Vater einfach stehen.

Verdutzt schaute mein Vater ihm nach, wandte sich dann aber wieder ab, da bereits die nächsten Besucher eintrafen. Ich sah mich um. Florence und Evie plauderten mit Mr Hughes über das kalte Wetter, meine Mutter hörte immer noch der quasselnden Mrs Hughes zu, die Geschichten aus Clarice’ Gerüchteküche zum Besten gab, und mein Vater war mit den neuen Gästen beschäftigt. Nur der Earl starrte mich von der gegenüberliegenden Seite der Eingangshalle aus an. Es würde also fast niemand merken, wenn ich mich davonstahl.

Ich schlich in den Flur zurück, die Treppe hinauf, vorbei an den Gemälden, die den Flur schmückten, auf mein Zimmer. Stöhnend ließ ich mich auf das Bett fallen und vergrub mein Gesicht im Kopfkissen. Wie ich dieses ganze Theater verabscheute!

Es hatte sich hier in der Gegend die Mode entwickelt, mindestens einmal im Jahr eine Gesellschaft zu veranstalten und alle Adligen und wichtigen Persönlichkeiten aus der Umgebung einzuladen, um Kontakte zu pflegen. Meiner Ansicht nach hatte das Ganze jedoch nur einen Zweck – mit seinem Reichtum zu prahlen.

Man führte die Gäste an den eleganten Spiegelsälen vorbei, servierte die feinsten Speisen, kleidete sich mit den edelsten Samt- und Seidenstoffen und untermalte das ganze Spektakel mit kostspieliger Musik aus Paris. Wer Geld und Macht hatte, zeigte beides gern und ließ sich von den anderen dafür bewundern und beneiden.

Oft genug hatte ich die zusammengekniffenen Lippen bemerkt, mit denen die Besucher alles genau beobachteten, um ihr eigenes Fest noch besser zu gestalten und das vorige zu übertrumpfen. Den größten Reichtum hatte man jedoch durch sich und seine Familie. Je hübscher die Gesichter, je seidiger die Haare und je perfekter geformt der Körper in den prächtigen Kleidern, desto größer die Anerkennung der Leute. Nur deswegen wurden meine Schwestern und ich auf das Herrlichste hergerichtet. Damit wir herumgeführt werden und mein Vater und meine Mutter sagen konnten: »Dies hier ist unsere hinreißende Tochter Lucy.«

Daraufhin wurde ich von meinem jeweiligen Gegenüber begutachtet, wie von einem Forscher, der seinen neuesten Fund bewertet, und bekam einen anerkennenden, oft von Eifersucht begleiteten Blick. Florence hingegen, die nicht die Schönheit in Person war, und deren Kleider einige Nummern größer waren als meine, erntete meist nur ein amüsiertes Lippenkräuseln und ein sarkastisches: »Ja, ja, sehr schön«, und dann wurden wir schon weitergewinkt, um dem Nächsten vorgeführt zu werden.

Man könnte eigentlich meinen, ich müsste das Ganze toll finden, da ich wie alle hübschen Mädchen nur gelobt wurde, aber das war falsch.

Nach den bewundernden und neidischen Blicken, setzten die meisten Leute an, um etwas zu sagen, und sahen mir so, wie die Höflichkeit es verlangte, in die Augen. Sofort kam das verwunderte Augenbrauenhochziehen und das irritierte Stirnrunzeln, denn im Gegensatz zu den meisten Menschen hatte ich keine normalen grünen, braunen oder blauen Augen, sondern goldene. Als wäre das nicht genug, strahlte meine goldene Farbe auch noch so hell, dass jeder sie bemerkte. Ich hatte keine Ahnung, woher diese ungewöhnliche Färbung kam. Jedenfalls wandten sich die Leute schnell ab und versuchten, das unbehagliche Gefühl loszuwerden, das sie beim Anblick meiner Augen überkam. Selbst wenn sie versuchten, es sich nicht anmerken zu lassen, konnte ich ihr Befremden und ihre Ablehnung deutlich spüren.

Ich kniff die Augen fester zusammen und zog mir ein weiteres Daunenkissen über den Kopf.

Um möglichst wenig mit meinen Augen aufzufallen, versteckte ich mich immer so lange in meinem Zimmer und versuchte nicht an die Besucher zu denken, bis es jemandem auffiel und man mich holen ließ.

Leise pochte es an meine Tür.

»Lucy?«, hörte ich Evies gedämpfte Stimme durch das Kissen.

»Grmph«, antwortete ich und drehte mich auf den Rücken. »Was willst du?«

»Verzeih bitte, dass ich störe«, entschuldigte sich meine Schwester und ließ sich auf die Bettkante sinken, »aber Mutter bat mich, dich zu holen.«

»Prächtig!«, grummelte ich sarkastisch und funkelte Evie wütend an, was eigentlich ungerecht war, denn sie war ja nicht schuld an meiner schlechten Laune.

Sie seufzte. »Ich weiß, du magst diese Besuche nicht, aber es gibt wirklich vorzügliches Essen. Und denke daran, dass morgen alles vorbei sein wird, und niemand mehr an dich denkt!«

»Ich weiß.« Gereizt setzte ich mich auf. »In ein paar Wochen jedoch werden wir wieder bei jemandem eingeladen sein. Die ganzen Qualen werden von vorn beginnen. Welch einen Sinn soll das deiner Meinung nach haben?«

Als Evie nicht antwortete, murrte ich: »Siehst du, habe ich es doch gewusst«, und ließ mich wieder auf den Rücken fallen.

»Nein, ich weiß es auch nicht«, gab Evie zu und stand auf, »doch was ich weiß, ist, dass das heutige Fest auch Schönes bringen wird. Es gibt ein Buffet mit Speisen unseres neuen wunderbaren Kochs, und die Musikanten aus Paris werden die Herzen zum Schmelzen bringen.«

Ich rührte mich nicht vom Fleck.

»Abgesehen davon gilt es, Vater und Mutter nicht zu enttäuschen. Das wäre unverzeihlich.«

Mit diesem Argument bekam mich Evie immer herum. Meine Eltern lagen mir am Herzen und ich wollte ihnen nicht mehr Unannehmlichkeiten bereiten, als ich es ohnehin schon tat. Ich gab mich geschlagen und stand auf.

Evie hielt mir die Zimmertür auf und sah mich aufmunternd an.

Ich schnitt eine Grimasse und sie lachte.

»Wie gut du gelaunt bist!«, spottete sie und zog mich an der Hand den Flur entlang zur Treppe. Auch die Gesichter auf den Gemälden schienen mir hämisch zuzugrinsen und die Stufen unter unseren Füßen knarzten unheilvoll.

Hätte ich auch nur geahnt, was geschehen würde, dieses Mal wäre ich nicht mit Evie mitgegangen.

Als wir den Spiegelsaal betraten, war das Fest bereits in vollem Gange. Vor den hohen Wänden bogen sich die Tische unter der Last des Buffets.

Lachen und Geplauder erfüllten den Saal und übertönten die sanften Melodien, die die Musiker aus Paris zum Besten gaben.

Meinen Vater entdeckte ich zwischen einem alten Herrn und einer korpulenten braunhaarigen Dame mittleren Alters, die wild gestikulierend auf ihn einsprach. Papas Blick fand meinen und ich verstand seine stumme Bitte darin. Ich schlängelte mich um die Leute herum zu ihm durch, nachdem Evie mit einem kurzen Winken in Richtung Buffet davongeeilt war.

»… wahrhaftig, mein lieber Ferris, Ihr habt vollkommen recht. Es ist tatsächlich ein echter Rubin!«, sagte die Frau gerade zu meinem Vater. Dabei schwenkte sie ihre dicke, klirrende Kette mit einem roten Anhänger vor seiner Nase herum.

Als mein Vater mich neben ihr erblickte, huschte ein erleichtertes Lächeln über sein Gesicht und er zog mich vor sich.

»Eine wundervolle Rubinkette besitzt Ihr da, Lady Mephins«, erwiderte er freundlich und deutete dann auf mich. »Ihr erinnert Euch noch an meine Tochter Lucy Elizabeth? Sie ist inzwischen siebzehn Jahre alt und noch unverheiratet.«

Was sollte das jetzt heißen? Hatte er etwa vor, mir einen Bräutigam zu suchen?

Lady Mephins musterte mich mit zusammengekniffenen Augen. »Oh tatsächlich, ein wahres Prachtstück«, tönte sie, während ihr Blick eifrig über meinen Körper wanderte und sie jede Einzelheit gierig aufzunehmen schien. Dann streckte sie ihre pummelige Hand aus und grapschte sich meine.

»Ihr seid wahrhaftig eine Augenweide, mein Kind«, piepste sie mit ihrer näselnden Stimme.

Ich atmete erleichtert auf. Da Lady Mephins mir nur bis zur Brust ging, konnte sie meine Augen gar nicht erkennen.

»Sehr freundlich, Mylady«, leierte ich so höflich wie möglich meine Erwiderung herunter und entzog meine Hand schnell ihrem verschwitzten Händedruck.

Lady Mephins wandte sich wieder an meinem Vater. Sie hatte wohl das Interesse an mir verloren.

»Hatte ich erwähnt, dass mein Schneider mir Bernsteine in das Kleid eingearbeitet hat? Das trägt man jetzt überall in Paris«, verkündete sie stolz und zupfte an ihrem zu engen schlammbraunen Kleid herum.

Ich drehte mich weg. Meine Schuldigkeit hatte ich getan.

Doch als ich mir durch die vielen Menschen einen Weg zum Buffet bahnen wollte, von dem Evie so geschwärmt hatte, legte sich mir unerwartet eine kalte Hand auf die Schulter. Erschrocken und genervt zugleich wandte ich mich um.

Vor mir stand der Earl of Holeweavers.

Ich fragte mich, warum er noch immer seinen Mantel trug, und fühlte mich gleichzeitig unwohl unter seinem prüfenden Blick.

»Sie müssen die junge Lady de Mintrus sein«, sagte er mit seiner kühlen Stimme, die leicht überheblich klang.

Ich richtete mich auf und reckte das Kinn in die Luft. Jetzt konnte ich endlich eine der Sachen anwenden, die wir in unserem täglichen Unterricht lernten. Dem Rang nach stand der Earl unter mir, der Tochter eines Dukes, auch wenn ich weitaus jünger war als der Adlige.

»Genau die bin ich«, antwortete ich ihm hochmütig und benutzte dabei die gleichen Worte, die er zuvor zu meinem Vater gesagt hatte.

Der Earl lächelte. »Ah, ich stelle fest, wir verstehen uns. Sind vom gleichen Schlag.«

Überrascht und etwas verärgert über seine plumpe Vertraulichkeit, sah ich ihn an. »Ich wüsste nicht, was es bei uns für Ähnlichkeiten geben könnte, Mylord. Da müsstet Ihr mich schon aufklären.«

»So, müsste ich das?«, fragte der Earl in seinem überheblichen Ton und mustert mich aus seinen … schwarzen Augen.

Mir lief es kalt den Rücken herunter. Der Mann hatte tatsächlich kohlrabenschwarze Augen!

Der Earl of Holeweavers öffnete erneut den Mund, um etwas zu sagen, doch ein erfreutes, hohes Quieken ließ ihn innehalten.

»Lucieeeeeeee!«

Evie tauchte hinter dem Mann auf.

»Da bist du ja!« Sie schien ihn, der sie mit hochgezogenen Augenbrauen musterte, gar nicht zu bemerken, als sie sich torkelnd an mir festhielt.

Ich starrte sie entsetzt an. Wie viel Wein hatte sie bloß getrunken?

»Wo bleibst du denn? Ich hatte dir doch gesagt, das Buffet ist vorzüglich.« Sie rüttelte an meinem Arm. »Komm doch! Begleite mich! Du musst unbedingt auch davon kosten!«

Ich ließ mich bereitwillig von ihr mitziehen, nur um dem Mann mit den schwarzen Augen zu entkommen.

Fühlten sich die Leute ebenso, nachdem sie mir in die Augen geschaut und das leuchtende Gold bemerkt hatten? Wenn ja, würde ich ihnen künftig keinen Vorwurf mehr machen. Die schwarzen Augen, die mich suchend gemustert hatten und bei denen man die schwarze Iris nicht von den Pupillen hatte unterscheiden können, waren wahrhaftig unheimlich gewesen.

»Luce?« Evie schaute mich erwartungsvoll an.

Ich musterte erst sie, dann die Teller mit Speisen auf dem Buffet neben uns. Wir standen neben dem Tisch mit den Desserts, auf dem sich fluffige Törtchen neben sahnigen Teigtaschen und krossen Keksen stapelten. Meine Schwester musterte mich leicht verärgert.

»Kannst du mir mal zuhören?« Sie deutete auf ein hellbraunes Teigröllchen. »Sieh dir diese Köstlichkeiten an!« Sie nahm eines der Röllchen in die Hand und hielt es mir hin. »Ich weiß nicht, wie ihr Name lautet, doch sie sind fabelhaft. Unser neuer Koch ist ein Meister seines Handwerks!«

Zerstreut nahm ich das Röllchen und biss davon ab. Es hatte eine cremige Füllung, in der sich kleine Schokoladenstückchen tummelten. Ich schob mir den Rest der Rolle in den Mund.

»Was ist?«, fragte ich, denn Evie starrte mich so merkwürdig an. Als sich unsere Blicke begegneten, spürte ich ein heftiges Brennen in meinen Augen. Ich schloss sie schnell und rieb mir über die Lider.

Evie hickste laut und ich sah sie erneut an. »Wirklich, Evie, wie viel Wein hast du getrunken?«

Meine Schwester wirkte empört. »Keinen einzigen Schluck. Aber nun, da du es erwähnst, ich fühle mich tatsächlich ziemlich wackelig auf den Beinen.«

Ich nahm mir eines der Röllchen und schnüffelte daran. Rum! Das erklärte einiges.

»Das Gebäck ist wirklich sehr schmackhaft, besonders der Rum.«

»Rum?« Evie betrachtete schuldbewusst die Röllchen. »Das war mir nicht bekannt …«, fing sie an, sich zu rechtfertigen, doch was sie sonst noch sagte, hörte ich nicht. Mein Blick traf erneut auf zwei schwarze kalte Augen.

Der Earl of Holeweavers stand nicht weit von uns entfernt und fixierte mich.

»Du hörst mir schon wieder nicht zu«, beklagte sich Evie.

»Doch schon. Es ist nur …« Ich brach ab. Nur wieso? Ich hatte ihr doch immer alles erzählen können. Warum nicht auch das?

»Kann ich dir etwas anvertrauen?«

Evie runzelte die Stirn, vermutlich, weil mein Ton plötzlich so ernst war.

»Du weißt doch, dass du mir alles sagen kannst.« Sie klang, als wäre sie mit einem Schlag wieder nüchtern und ich war in diesem Moment unheimlich froh, jemanden wie Evie als Schwester zu haben.

Keine Ahnung, weshalb ich gerade jetzt daran dachte, aber sie war so oft die Einzige gewesen, die mir zugehört und mich verstanden hatte.

Auch wenn meine Eltern und Florence es niemals zugegeben hätten, verunsicherten meine besonderen Augen sie. Ebenso wie die Zofen, die meine Mutter für mich aussuchte. Keine von ihnen ertrug meine Gegenwart länger als ein paar Wochen.

Nur Evie blieb mir. Sie hatte als Einzige kein Problem mit meinen strahlenden goldenen Augen.

Sie war nicht nur meine große Schwester und Spielkameradin, sie war vor allem meine beste Freundin und Vertraute. Als früher niemand mit dem Mädchen mit den seltsamen goldenen Augen spielen wollte, war es Evie gewesen, die alle Freundinnen, die ich verloren oder niemals gehabt hatte, ersetzte. Meine wunderbare Schwester war immer da, wenn ich sie brauchte, und über die Jahre hatte sich unser Band noch mehr verfestigt. Ich verdankte ihr so viel.

»Komm!« Evie griff nach meiner Hand und zog mich durch die Menge auf die Tür des Personals zu, die wir manchmal heimlich benutzten.

Ich stolperte hinter ihr her, rempelte einige Gäste an, die mir missbilligend nachsahen, und war froh, als wir endlich zwischen den engen Wänden des Dienstbotenganges an den alten Türen vorbeischlichen. Evie öffnete eine der Türen, die ein knarzendes Geräusch von sich gab, und schob mich in den Raum dahinter.

»Bin gleich so weit«, flüsterte sie und holte ein Streichholz aus einer Rockfalte. Sie riss es am Steinboden entlang an, entzündete drei Kerzen, die auf einem Regal standen, und schloss die Tür.

»Also? Welche Sorge bedrückt dich?«

Ich ließ mich auf einen der verstaubten Schemel in der Abstellkammer sinken.

»Ich weiß auch nicht recht«, setzte ich an und knetete nervös meine Hände. Mein Blick glitt durch die Abstellkammer und mich überkam ein warmes Gefühl, als ich an die Momente dachte, in denen Evie und ich uns vor dem Unterricht oder an den winterlichen Waschtagen hier versteckt hatten. An diesem Ort fühlte ich mich irgendwie geborgen.

»Vor diesem Mann graut es mir«, gestand ich schließlich und erzählte ihr von meinem Gespräch mit dem Earl of Holeweavers und seiner kalten, überheblichen Art. Ich verschwieg auch nicht, wie seine schwarzen unheimlichen Augen mich gemustert hatten, und dass er auf meine goldenen Augen überhaupt nicht reagiert hatte. Das fiel mir jetzt erst überhaupt auf.

Evie hörte mir wie bei all meinen Problemen ruhig zu und eine nachdenkliche Falte erschien auf ihrer Stirn.

»… er beobachtet mich die ganze Zeit. Auch als wir am Buffet standen«, jammerte ich.

Die Falte verschwand und ein kleines Lächeln zuckte über Evies Gesicht. »Womöglich ist er an dir interessiert. Ich habe nämlich gehört, er sei noch unverheiratet.«

»Evie!«, zischte ich sie an. »Das ist nicht witzig! Ich habe Angst vor diesem Mann.«

»Du und Angst?«, kicherte sie. »Das ist ja wie Feuer und Wasser.«

Verärgert stand ich auf. »Könntest du bitte so höflich sein und dich ein bisschen zusammennehmen, um mir hilfreiche Antworten zu geben?«

»Meine Antwort ist hilfreich«, Evie zog einen Schmollmund, »denn so abwegig mit dem Interesse ist das gar nicht. Als wir heute Nachmittag in der Eingangshalle auf dich und die Gäste gewartet haben, hat Vater mir und Florence mitgeteilt, dass er uns, dich eingeschlossen, gern vermählen würde. Er will uns in sicheren Händen wissen, so wie unsere anderen Schwestern und unseren Bruder, falls er vorzeitig sterben sollte. Der Earl steht im Rang zwar unter uns, doch er ist bestimmt ein wohlhabender und angesehener Mann, wenn Vater ihn eingeladen hat. Vielleicht denkt Papa, dass er eine von uns heiraten könnte?«

Ich setzte mich wieder und ließ mir Evies Neuigkeit durch den Kopf gehen.

»Und selbst wenn, ich finde ihn immer noch unheimlich. Diese grässlichen schwarzen Augen.« Ich schauderte.

Evie zuckte die Achseln. »Mir ist gar nichts bei ihm aufgefallen. Vielleicht haben dich deine Augen ja getrogen?« Plötzlich kicherte sie. »Ich finde ihn übrigens gar nicht so übel und wäre dir sehr gern bei der Suche nach einem Brautgewand behilflich. Welches Stoffmuster wünschst du dir denn?« Sie prustete los.

»Herrgott, Evie!«, fluchte ich und fixierte sie zornig. Heute war wirklich ein schlimmer Tag.

Sie kringelte sich jedoch vor Lachen und nahm die ganze Sache nun nicht mehr ernst.

Ich wurde immer wütender. Nicht nur auf Evie, sondern auch auf den Earl und dieses unerträgliche Fest.

Ein Schmerz durchzuckte meine Augen, so wie vorhin am Buffet, nur viel stärker. Ich schlug mir die Hände vors Gesicht. »Autsch!«

Evie verstummte sofort. »Lucy?«, fragte sie besorgt und legte ihre Hände auf meine. »Luce, was ist los?«

Ich stöhnte gequält auf. »Meine … meine Augen, sie brennen so fürchterlich.«

Evie sog scharf die Luft ein. »Hast du dir ins Auge gefasst? Oder Staub hineinbekommen?«

»Nein.« Ich krümmte mich zusammen, die Hände immer noch auf meinen Augen. »Es … es kommt irgendwie von innen.«

Evie zog mich hoch. »Ganz langsam, Lucy, alles wird gut werden«, murmelte sie beruhigend, doch ihre Stimme zitterte. »Nimm deine Hände bitte für einen Augenblick von den Augen. Ich bin zwar nicht der Medicus, vielleicht erkenne ich aber trotzdem, woher die Schmerzen kommen, die dich plagen.«

Ich nahm langsam die Hände vom Gesicht und öffnete die schmerzenden Augen.

»Was …?«, schrie Evie auf.

»Evie!« Jetzt packte ich ihre Schultern. »Was hast du?« Doch im selben Moment erstarrte auch ich. Der Raum wurde von einem hellen goldenen Licht erleuchtet, das von meinen brennenden Augen zu kommen schien. Ich sah Evies aufgerissene Augen vor mir. Sie starrte mich an. Ich starrte zurück und konnte mich nicht vom Fleck rühren. Ein goldener Strahl aus meinen Augen schoss in ihre, und ließ die Luft vor Hitze flimmern. Keine Sekunde später fiel Evie zu Boden.

Der dumpfe Aufprall ihres leblosen Körpers holte mich aus meiner Starre. Das Leuchten zog sich in meine Augen zurück, verschwand aber nicht ganz, sondern ließ sie weiterhin im Halbdunkeln glühen.

Was ging hier nur vor sich?

Ich ließ mich neben meine Schwester in den Staub fallen. »Evie …«, flüsterte ich entsetzt und rüttelte leicht an ihren Schultern. Meine brennenden Augen waren vergessen, jetzt zählte nur noch Evie. Was war mit ihr passiert? Was hatte dieser goldene Strahl mit ihr gemacht? Panisch drehte ich sie auf den Rücken und legte meine Hand dorthin, wo ich ihr Herz vermutete. Nichts. Ich hob mein Ohr über ihren Mund und ihre Nase und lauschte auf ihren Atem. Auch nichts.

»Nein! Nein!!!«, schluchzte ich. Tränen traten mir in die Augen, aber ich spürte, wie sie in der Hitze des goldenen Glimmens einfach verdampften.

Das konnte nicht sein! Nein, Evie war nicht tot. Sie konnte es einfach nicht sein!

Aus den Lexika der Augenschönen

(Band 1, Kapitel 5)


Die Augen eines Augenschönen sind von dem Moment der Cynierung an bereit, Magizismen auszuführen. Willentlich wurde dies vor der Ersten Fahrt (siehe Kapitel 6) bisher noch nicht geschafft, lediglich die Gefühlsausbrüche eines Augenschön in den Äußeren Schleifen können Magizismen verursachen, welche dann besonders stark ausfallen und häufig mit dem Tod einer oder mehrerer Personen enden.


Wenn die Augen zum ersten Mal einen Magizismus produzieren, ist das für das Augenschön sehr schmerzhaft. In den meisten Fällen kommt es sogar zu Blutungen der Augen, da diese die große Kraft nicht gewohnt sind. Bei den später folgenden Magizismen sind die Augen bereits auf die Ballung der Magie eingestellt und mit steigender Häufigkeit sinkt die Anzahl der Nebenwirkungen.


Aus dem Bericht:

Der erste Magizismus von E. Shepden

Augenschön Das Ende der Zeit (Band 1)

Подняться наверх