Читать книгу Augenschön Das Ende der Zeit (Band 1) - Judith Kilnar - Страница 9

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Kapitel 4

Ich hätte gerne etwas Schlaues geantwortet. Etwas, das darauf schließen ließ, dass ich die gesamte Situation logisch überschauen konnte. Etwas Lockeres, wie: »Ach, jetzt wo Ihr es sagt. Selbstverständlich bin ich eine junge Göttin.« Leider war das Einzige, was ich herausbrachte nur ein »Hä?«

Tatjana wandte sich kurz an Mr Honk und Elvon. »Ich denke, ich werde Lucy einmal herumführen, die übliche Prozedur, und ihr alles erklären.«

Mr Honk nickte und steckte zeitgleich mit Elvon seine Hand in die Tasche seiner Jacke. Ein leises Klicken ertönte, Elvon erstrahlte in lilafarbenem Licht, Mr Honk in braunem und dann … waren beide verschwunden.

Ich starrte die Stellen, an denen sie Sekunden zuvor noch gestanden hatten, schockiert an.

»Atlas, du kannst ebenfalls zurück in die vierte Schleife«, wandte sich Tatjana unterdessen an den verbliebenen Mann. »Egal zu welchem Auftrag man eingeteilt ist, Übung kann niemals schaden.«

Der Jüngere, Atlas, nickte mürrisch, steckte seine Hand zurück in seine Tasche, ein Klicken ertönte, er leuchtete im Türkis seiner Augen auf und war ebenfalls verschwunden.

Ein leises Platschen, wie von verschüttetem Wasser, hallte in der Halle nach. Was ging hier vor sich? Waren das Magier wie eben jene, von denen mir die Zofe erzählt hatte?

Tatjana sah sich um. »Beginnen wir am besten direkt.«

Etwas Nebel wirbelte auf, als sie neben mich trat.

»Wie bereits erwähnt, ist das hier die Halle der Erkenntnis. Dieser Nebel ist magisch. Sein Einatmen wird dir helfen, die Dinge besser zu verstehen, mich besser zu verstehen. Doch erst einmal starten wir mit dem Ursprung all dessen.«

Das erleichterte mich ein wenig. Wenn alles der Reihe nach ging, konnte ich besser folgen.

»Du hast im 16. und 17. Jahrhundert gelebt, also gab es bereits Uhren. Somit ist dir Zeit ein Begriff?«

Ich nickte.

»Es gibt Sekunden, Minuten, Stunden, Tage, Wochen, Monate, Jahre, richtig?«, hakte Tatjana nach.

Ich nickte erneut.

»Und manchmal fragt man sich, wann das alles angefangen hat. Wann war der Beginn dieser Zeit? Wann wird das Ende sein?« Sie sah mich ernst an. »Hier, wo wir sind, das sind die Zeitschleifen. Doch sie sind nicht nur ein Wohnort für unseresgleichen. In den Zeitschleifen gibt es keine Zeit. Man ist in der Zeit, vor der Zeit, nach der Zeit. Das ist etwas verwirrend, nach und nach wird es klarer. Kennst du dich mit Geschichte aus?«

Bei Miss Lessing hatte ich so einiges gelernt, also nickte ich ein drittes Mal.

»Vor deiner Zeit haben viele Menschen gelebt und sind gestorben. Und auch nach deiner Zeit werden viele Menschen leben und sterben. Nun stell dir vor, man könnte durch die Zeit reisen. In die Vergangenheit wie auch in die Zukunft. Um ein paar Tage, ein paar Jahre, ein paar Jahrhunderte oder Jahrtausende. Stell dir vor, das würde so funktionieren, dass man in Zeitschleifen steigt, die dich in eine andere Zeit bringen können. Diese Schleifen sind Orte, die man von außen, der gewöhnlichen Zeit, nicht wahrnehmen kann. Diese Schleifen sehen unterschiedlich aus, jede anders und mit ihren eigenen angepassten Bewohnern. Wo wir uns befinden, ist die dritte Schleife. Wir stecken zwischen der richtigen Zeit fest. Man könnte es so sagen, dass gerade in den Äußeren Schleifen, der zeitlich gesteuerten Welt, alles passiert, bereits passiert ist und alles noch passieren wird.«

Ich starrte Tatjana an. Nur langsam sickerten ihre verwirrenden Worte und die darin enthaltenen Informationen in meinen Kopf. Die einzige Frage, die über all dem schwebte, war allerdings eine andere.

»Was habe ich mit all dem zu tun?«

Tatjana schmunzelte.

»Diese Zeitschleifen gibt es eigentlich schon immer. Jedenfalls seit die Erde existiert – das nehmen wir zumindest an. Und was es auch schon von jeher gab, war die Natur, mit all ihren Inhalten. Inklusive Himmel, Mond, Sonne und Sternen. Es gab auch schon seit Anbeginn der Zeit diejenigen, die diese Dinge innehatten. Im alten Griechenland oder in Rom hat man an viele Götter geglaubt. Besondere, mächtige Götter, die eine oder mehrere Aufgaben haben, die sie erfüllen müssen. Diese Götter – in gewisser Weise gibt es sie wirklich. Doch nicht nach der herkömmlichen Vorstellung, dass sie wie ein Mensch aussehen, meine ich. Sie bestehen stattdessen aus den Dingen, dessen Herr sie sind. Den Dingen, die sie repräsentieren. Es gibt zum Beispiel den Gott der Weisheit. Er ist überall dort, wo Weisheit herrscht, auf der ganzen Welt, durch die Zeit verteilt. Dann gibt es noch solche Götter, wie den Gott des Mondes. Er besteht nur aus dem Mond, der um die Erde kreist. Allerdings ist er ebenfalls dort anwesend, wo an ihn gedacht wird. Von Göttern gibt es Milliarden. Götter, die Gegenstände, Dinge, Gase, Flüssigkeiten, Gerüche und so viel mehr verkörpern. Götter, die Herrscher über ein Gefühl sind. Vielleicht kennst du ja ein paar alte Mythen über Götter?«

Wieder konnte ich guten Gewissens nicken.

»Fast immer spielen auch ihre Kinder eine große Rolle. Hier gehen Wirklichkeit und Mythos jedoch stark auseinander. Die wahren Götter können keine Kinder bekommen. Das überlassen sie den Menschen. Allerdings fügen sie ausgewählten Kindern ihre Gene ein. Diesen Prozess nennt man Cynierung. Die eingefügten Gene enthalten aber nicht das Aussehen des göttlichen Elternteils, sonst würden sich manche ihrer Kinder entmaterialisieren. Es sind nur die Kräfte des Gottes in einer abgewandelten Form. Die Kinder verändern sich auch nicht sehr. Sie unterscheiden sich von normalen Menschen lediglich durch die innere Magie und ein fortwährend tadelloses Aussehen, das sie nahezu perfekt erscheinen lässt. Nur ein Teil ihres Körpers verkündet deutlich, wer ihr göttlicher Elternteil ist.«

»Die Augen«, flüsterte ich rau. Endlich begriff ich. Tatjana, Mr Honk, Elvon und dieser Atlas waren Götterkinder. Tatjana hatte sie vorhin Augenschöne genannt … und ich war eine von ihnen.

»Genau, die Augen. Sie sind auch der Schlüssel zur Nutzung der Magie, die einem mit den Genen zugefügt wurde. Bei guter Übung und hartem Training kann man lernen, diese Kraft zu steuern. Sie den eigenen Willen erfüllen lassen. Das ist jedoch wie gesagt harte und schwere Arbeit.«

Ich beobachtete Tatjana, die gedankenverloren in den Nebel starrte.

Irgendwann schüttelte sie ihren Kopf und sprach weiter. »Die Magie tritt entweder durch gezielte, kontrollierte Steuerung des Willens aus oder durch sehr starke Gefühle. Hast du schon einmal die Redewendung gehört, in den Augen könne man die Gefühle der Menschen erkennen? Diese Redewendung kommt von uns. Bei großen, heftigen Gefühlsausbrüchen, die wir wie Wutausbrüche nicht wirklich kontrollieren können, tritt die Magie unaufgefordert und von selbst aus den Augen heraus.«

»Wodurch ich meine Schwester getötet habe«, flüsterte ich und meine Augen füllten sich erneut mit Tränen.

»Wie ich schon sagte, du konntest nichts dafür. Du hast noch nicht gelernt deine Kräfte zu kontrollieren.« Tatjana drückte mitfühlend meine Hand. »Viele von uns haben liebe Menschen auf diese Weise verloren in unserem früheren Leben in den Äußeren Schleifen. Irgendwann aber kommen wir hierher. Entweder während wir etwas ganz Normales machen, wie essen, schlafen … oder wenn wir als normale Menschen sterben würden, weil wir beispielsweise ertrinken oder erschossen werden. Selten passiert es auch, dass man durch einen heftigen Gefühlsausbruch hierher geschleudert wird, so wie du. Bei den meisten passiert das im Alter von fünfzehn bis fünfundzwanzig. Es gibt jedoch ein paar Ausnahmen, wie Elvon und mich, wir sind ein paar der Älteren. Der Jüngste bei uns ist dreizehn. Leider, denn wenn man in die Inneren Schleifen kommt, wird man nicht mehr älter.«

»I-ich bleibe für immer siebzehn?«, fragte ich schockiert.

»Ja, du wirst ab jetzt nicht mehr altern. Niemand von den zweihundert Augenschönen tut das«, antwortete Tatjana und zwirbelte zerstreut an einer ihrer Haarsträhnen.

Zum ersten Mal fiel mir auf, dass sie, bis auf die seltsame Kleidung, eigentlich ganz hübsch aussah. Ihre glatten braunen Haare trug sie in einem hohen Pferdeschwanz zusammengebunden und ihre Haut hatte einen leichten Olivstich, zu dem ihre grauen Augen wunderbar passten. Ich schätzte sie auf Anfang dreißig. Doch wenn man hier nicht alterte, wie alt war sie dann wirklich?

»Übrigens wohnen alle Augenschönen in der vierten Schleife«, unterbrach sie meine Gedanken. »Dort wirst du ebenfalls hinkommen, wenn ich dir alles erklärt und gezeigt habe. Wir leben dort zusammen und trainieren. Nicht nur, um die Kraft unserer Augen zu kontrollieren, sondern auch, um zu kämpfen.«

»Auch die Mädchen?«

»Auch die Mädchen. Kämpfen müssen wir alle lernen, da wir einen immerwährenden Krieg gegen die Nächtlichen Geschöpfe führen. Das sind schreckliche Monster, die danach trachten, uns auszulöschen. Du bist einem von ihnen in deiner Zeit begegnet. Sie leben ebenfalls in den Schleifen, und wir haben es uns zur Aufgabe gemacht, sie zu bekämpfen. Zum einen, um unser eigenes Leben zu schützen. Zum anderen aber auch, um die Zeit zu retten, denn die Nächtlichen Geschöpfe versuchen, Herr über Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit zu werden. Doch dazu später mehr. Jetzt rüsten wir dich erst einmal für dein neues Leben. Äußerlich sowie innerlich. Wir beginnen genau hier.«

Tatjana holte ein kleines gläsernes Fläschchen mit einer milchig trüben Flüssigkeit aus ihrem Mantel und ging in die Hocke. Sie machte eine kreisende Handbewegung in der Luft. Der Nebel ballte sich zusammen und schoss in das Fläschchen. Als es sich vollständig gefüllt hatte, schloss Tatjana den Deckel und richtete sich auf. Sie reichte mir das Gefäß, in dem der Nebel über der Flüssigkeit herumwirbelte. Ich nahm es vorsichtig in die Hand und betrachtete die weißgrauen Schlieren darin.

»Wie ich bereits sagte, der Nebel ist magisch. Bei uns nennt man ihn den Nebel der Erkenntnis. Erkenntnis hat immer etwas mit Worten zu tun, deshalb gehört das auch zur Magie des Nebels. Öffne den Deckel vom Fläschchen und halte es dir vor Mund und Nase. Atme den Nebel ganz tief ein und nimm die Magie darin in dich auf. Der Nebel wird dir alle Geheimnisse und Entwicklungen der Sprache mitteilen, sodass du auch die Worte verstehen kannst, die mehrere hundert Jahre nach deiner Geburt in deiner Sprache verwendet werden«, erläuterte mir Tatjana. »Da du ihn schon eine Weile eingeatmet hattest, bevor wir dich fanden, konntest du dich schon etwas unserer Sprache anpassen. Durch die Substanz in dem Fläschchen wird er extrem verstärkt. Wenn du das Gemisch jetzt einatmest und die ganze Magie des Nebels in dir hast, wirst du alles darüber wissen.«

Ich betrachtete den Nebel in dem Fläschchen. Magisch? Vorsichtig drehte ich an dem Verschluss und hielt es mir vor den Mund. Als ich den Deckel abnahm, holte ich tief Luft und sog den Nebel in meine Lungen. Geschockt torkelte ich, denn eine Flut von Gedanken drohte mich zu ersticken. Es fühlte sich an, als würde jemand gewaltsam Wissen in mich hineindrücken. Buchstaben a, b, c, d, die Worte bildeten. Realität, sagenhaft, Hallo. Worte, die Sätze formten. Monologe, Erklärungen, Texte, Bücher! Mein Kopf schwirrte und ich lehnte mich keuchend an Tatjana, die mich festhielt, bis ich wieder einigermaßen da war und sprechen konnte.

»W-was war d-das?«

»Du hast die Sprache gesehen, sie in dich aufgenommen. Jetzt kannst du dich auch mit Leuten unterhalten, die erst Jahrhunderte nach dir geboren wurden und mit anderen Worten und Ausdrucksarten aufgewachsen sind.« Sie stützte mich und ließ mich erst los, als ich wieder allein stehen konnte. »Jetzt machen wir mit der menschlichen Entwicklung weiter. Mit Technik, der Ernährung, der Geschichte und so weiter.«

Während sie sprach, ging sie einfach in den Nebel hinein. Ich beeilte mich, ihr zu folgen, damit ich sie nicht verlor. Wir liefen eine Weile schweigend nebeneinander her, bis wir zu einer großen, breiten Tür gelangten. Offensichtlich hatte die Halle doch Wände und Ausgänge.

Tatjana öffnete die Tür und ich kniff geblendet die Augen zusammen, denn nach dem schummerigen Licht in der Halle der Erkenntnis, war das hier, wie in die Sonne zu schauen. Vor uns erstreckte sich ein weiterer großer Saal, in dessen Mitte eine Tafel mit den merkwürdigsten Speisen stand, die ich jemals gesehen hatte. Auf riesigen silbernen Platten stapelten sich große sahneverzierte Kuchen, die einem das Wasser im Mund zusammenlaufen ließen. Daneben bog sich eine Schale unter dem Gewicht seltsam aussehender Früchte, die scharlachrot im hellen Licht glänzten. Der ganze Tisch war bedeckt mit Speisen auf Tellern, in Schüsseln und auf Tabletts. Der Boden um den Tisch herum war gepolstert mit großen weichen Kissen.

Wozu die wohl dienten?

Tatjana führte mich an der Tafel entlang, bis ungefähr zur Mitte. Dort stand ein weißer Teller mit saftigen Erdbeeren. Davor stand ein kleines hölzernes Schild, auf dem in schnörkeliger Schrift stand:

17. Jahrhundert, weiblich, 16 bis 17 Jahre

»17. Jahrhundert?« Ich sah Tatjana mit gerunzelter Stirn an. »Wie viele Jahrhunderte kommen denn danach noch?«

Tatjana lächelte amüsiert.

»Ganz genau wissen wir es nicht. Auch wir kennen die Zeit, zwischen der sich die Schleifen befinden, nicht genau. Wir haben Augenschönen aus dem 21. Jahrhundert bei uns. Zwei Mädchen stammen sogar aus dem 22. und 23. Jahrhundert. Allerdings sind sie sehr jung und konnten uns nicht viel Sinnvolles berichten. Außerdem wurden sie zu Lebzeiten gefangen gehalten.«

Ich starrte Tatjana entsetzt an. »Gefangen gehalten? Warum?«

»Wegen ihrer Augen«, seufzte Tatjana und wirkte auf einmal sehr müde und ausgelaugt. »Die eine ist ein Kind des Regenbogens, die andere ein Kind des Veilchens. Ihre Augen haben darum besonders auffällige Farben, zusätzlich zu den ohnehin schon vorhandenen Effekten. Welcher normale Mensch hat eine bunte oder violette Iris? Und wie so oft in der Geschichte der Menschheit zeigt sich auch in Fällen, die mit uns zu tun haben, dass der Mensch Neues und Unbekanntes fürchtet. Das Fremde wird als gefährlich eingestuft und eingesperrt. Es scheint für sie die einzige Möglichkeit zu sein, mit Andersartigkeit umzugehen.«

In meiner Angst vor dem Ungewissen war ich wohl nicht viel besser als diese Leute. Seit ich in dieser seltsamen Schleife gelandet war, waren das Misstrauen und die unterschwellige Furcht nicht von meiner Seite gewichen.

»Menschen tun manchmal schreckliche Dinge, weil sie sich nicht anders zu helfen wissen«, sinnierte Tatjana. »Ich wünschte, dass sie andere Wege fänden, als sich mit Gittern und Mauern ein Gefühl von Sicherheit zu verschaffen«, sie machte eine wegwerfende Handbewegung. »Aber lassen wir die Schattenseiten des Menschen und fahren mit deiner Vorbereitung fort.« Sie deutete auf den Tisch und die sich darauf befindenden knallroten Erdbeeren. »Du musst diese Erdbeeren essen. Sie dienen als Wissensüberbringer, da sie mit dem Gift der Dromeden gefüllt sind.«

Gift?! Ich wich vom Tisch zurück und alles in mir verkrampfte sich. Wurde ich letztendlich doch getötet? Verwirrt sah ich Tatjana an, als diese auf mein erschrockenes Verhalten hin nur lachte. Das ließ mich zusätzlich auch einige Schritte vor ihr zurückweichen.

»Du verstehst das falsch, Lucy. Es ist kein böses Gift. Es ist nur giftig, wenn du zu viel oder das falsche nimmst. So wie du es bekommst, handelt es sich eigentlich um flüssiges Wissen in Form eines Gifts. Wenn du die Erdbeere isst, wird das Wissensgift in dich einströmen, aber es wird dich nicht töten. Es funktioniert so wie bei dem Nebel in der Halle der Erkenntnis. Das Gift hat so wie der Nebel die Fähigkeit, dir Unmengen von Informationen innerhalb eines Bruchteils einer Sekunde zu vermitteln. Über den Fortschritt der Menschen, das Produkt aller Forschungen, die nach deinen Lebzeiten durchgeführt wurden.«

Ungläubig starrte ich sie an. Ich würde einfach nur eine Erdbeere essen und müsste nie wieder etwas lernen? Konnte so etwas wirklich möglich sein? Das wäre ja …

Doch Tatjana zerstörte meine schönen Gedanken: »Bedauerlicherweise können wir dir damit nicht alles beibringen. Es wird noch genug Dinge geben, die du später auf herkömmliche Weise lernen musst, aber das Gift wird dir helfen, dich zumindest einigermaßen in der vierten Schleife zurechtzufinden.« Sie schmunzelte. »In gewisser Weise erfährst du sogar etwas über dein eigenes Jahrhundert, denn in deiner Zukunft haben die Menschen viel über die Vergangenheit herausgefunden. Auch über die Jahrhunderte, Jahrtausende und Jahrmillionen davor.«

Ich beäugte noch immer unsicher die unschuldig daliegenden Erdbeeren, mit ihrem grünen Schopf und dem weichen Fruchtfleisch, in dem sich die kleinen Kerne tummelten. In diesem Moment kamen sie mir allerdings wie riesige starrende Augen vor. Ich schüttelte leicht den Kopf, um die Gedanken zu vertreiben. Da sah ich also bereits Monster auf Obsttellern!

Tatjana beobachtete noch immer amüsiert mein Mienenspiel, offenbar erheitert durch mein seltsames Verhalten.

Schließlich gab ich mir einen Ruck und nahm eine der Früchte in die Hand. Sie war schwerer, als sie aussah, verströmte aber einen süßen Duft.

»Stell dich besser etwas weiter weg vom Tisch auf«, empfahl Tatjana mir. »Die Erdbeere enthält viel mehr Informationen als der Nebel, und wie du selbst gespürt hast, hatte der bereits viel Kraft. Du konntest dich da schon kaum auf den Beinen halten, und wenn man deine Erschöpfung dazuzählt, ist dein Zustand nicht unbedingt ideal für die Erdbeere. Riskieren wir es also lieber nicht, dass du dich am Tisch verletzt.«

Ich nickte nachdenklich und drehte die Frucht zwischen den Fingern, während ich sie weiter misstrauisch betrachtete.

»Wie soll ich sie essen? Ganz normal, und dann fange ich irgendwann an zu torkeln?«

Die junge Frau grinste. »Es kommt ganz auf das Augenschön an und was es isst. Manche schlucken nur einen winzigen Bissen, andere schaffen einen ganzen Kuchen.« Sie musterte mich mit einem nahezu neugierigen Blick. »Ich bin gespannt, wie viel du schaffst. Vielleicht ist dir die Magie, von der anscheinend ein Haufen in dir steckt, von Vorteil.«

Wahrscheinlich wollte sie mir nur Mut machen, doch das Gerede über Magie machte mir große Angst. Ich hatte diverse Geschichten über sie gehört, die allesamt zwar recht unglaubwürdig waren, in einem entscheidenden Punkt jedoch übereinstimmten. Magie war böse. Gefährlich, schlecht, tödlich. Und sie kam direkt aus der Hölle. Ich schluckte die aufblühenden Gedanken von Geschichten über krummnasige Hexen und Spitzhüte tragende Zauberer herunter, hob die Beere an den Mund und biss hinein, bevor ich es mir anders überlegen konnte.

Das Fruchtfleisch war weich und saftig und schmeckte besser als alles, was ich je gegessen hatte. Ich kaute, schluckte, und biss ein weiteres Stück ab.

Tatjana beobachtete mich aufmerksam, während ich in Windeseile die Erdbeere verspeiste. Sie schmeckte fabelhaft. Ich aß das letzte Stück und hielt nur noch den grünen Blätterkranz in den Händen.

Tatjana zog nachdenklich die Augenbrauen zusammen, nachdem ich mir die letzten Fruchtsaftreste von den Lippen geleckt hatte. Sie hatte recht. Sollte nicht längst etwas passiert sein?

Ich öffnete den Mund, um sie zu fragen, ob ich etwas falsch gemacht hätte, als sie vor meinen Augen verschwamm und mein Kopf explodierte. Ein furchtbarer Schmerz überkam mich, als würde jemand Nägel in meinen Schädel schlagen, und ein durchdringender kreischender Laut hallte durch meine Ohren. Geisterhafte Bilder schwebten durch meinen Kopf, die ich durch all den Schmerz nicht ganz zu fassen bekommen konnte. Wie ein Wasserfall sprudelten sie durch mich hindurch, zusammen mit Stimmen, die mir Erklärungen dazu einzuflüstern schienen. Kleine Strudel bildeten sich, die mich ausfüllten, aber unter dem Schmerz kaum greifbar waren.

Ich erkannte Menschen, geteerte Straßen, auf denen sich seltsame Gefährte entlangbewegten, die in der Sonne metallen glänzten. Ein neues Bild glitt vorbei und ich sah Frauen, die wie Tatjana Hosen trugen. Ich staunte über riesige glitzernde Kästen, die bis in die Wolken reichten und plötzlich … wusste ich einfach, dass die seltsamen Metallgefährte Autos waren. Ich begriff, dass Hosen für Frauen ganz normal waren, und dass die glitzernden Kästen Hochhäuser waren, deren Fensterfassade alles um sie herum spiegelte, und dass sie auch Wolkenkratzer genannt wurden.

All das nahm ich nur nebenbei wahr, denn der größte Teil meines Verstands war damit beschäftigt, einen Ausweg zu finden, um den Schmerz zu bewältigen und das Kreischen nicht mehr mit anhören zu müssen, da mich beides zu erdrücken schien. Doch dann, plötzlich, flaute der Strom an Bildern ab. Auch der Schmerz zog sich zurück. Auf einmal fiel mir auch auf, dass ich so entsetzlich kreischte. Es drang gepeinigt aus mir hinaus, weil ich der Qual eine Stimme geben musste. Sofort verstummte ich und lauschte auf das dumpfe Pochen in meinem Kopf. Vorsichtig öffnete ich die Augen und bemerkte nicht wirklich überrascht, dass ich auf dem Boden lag.

Tatjana kniete neben mir, betrachtete mich ängstlich und bemühte sich, mir beim Aufrichten zu helfen.

Ein Stöhnen entfuhr mir, als ich ein heftiges Stechen in meinem Kopf spürte.

»Warum hast du mich nicht vor dem Schmerz gewarnt?« Ich sah Tatjana anklagend an.

Doch die schüttelte noch immer sichtlich beunruhigt den Kopf.

»Ich konnte dich nicht warnen, weil ich nicht wusste, dass das passieren würde. Es ist mir nämlich noch nie jemand untergekommen, dem die Wissensaufnahme wehgetan hat. Es war schon ungewöhnlich, dass du die ganze Erdbeere gegessen hast. Allerdings kommt das schon ab und zu vor. Dass bei dir aber etwas schiefgelaufen ist, habe ich erst bemerkt, als du kalkweiß geworden bist, die Augen verdreht und geschrien hast. Zum Glück wurdest du schnell wieder ruhig. Was hast du denn gesehen?«

Sie hielt mir ein Glas Wasser hin.

»Ich weiß nicht …« Ich trank einen Schluck. »Es fühlt sich merkwürdig an, so als ob ich jetzt alles wüsste. Ich habe Personen gesehen, Gebäude …« Ich verstummte, denn ich konnte nicht beschreiben, wie es gewesen war und was ich gerade erlebt hatte. Selbst wenn man es nüchtern betrachtete und meine Leiden abzog, dann war die Flut von Informationen einfach nur überwältigend gewesen.

Tatjana lächelte zufrieden. »Du weißt jetzt alles, was nötig ist. Zumindest hat das geklappt, auch wenn ich immer noch nicht verstehe, wieso es bei dir anders war. Wobei …« Ihre Augen wurden groß und sie verstummte.

Ich sah sie erwartungsvoll an, während ihr Blick in die Ferne glitt und ein seltsamer Ausdruck auf ihr Gesicht trat.

»Wobei, was?«, hakte ich nach, als sie keine Anstalten machte, fortzufahren.

Sie schaute mich kurz an, bevor sie abwesend den Kopf schüttelte.

»Nichts.«

Merkte niemand, dass, wenn man mit »nichts« antwortete, augenblicklich klar war, dass es nicht »nichts« war?

Tatjana ignorierte meine gerunzelte Stirn, stand auf und streckte mir ihre Hand entgegen, um mich hochzuziehen.

»Wir machen jetzt weiter mit deiner Einführung. Aber keine Angst«, sie lächelte, »du musst nichts mehr essen, und ich gebe dir mein Wort, dass ich darauf achten werde, dass dir nichts mehr passiert.«

Als ich ihre Hand ergriff, zog sie mit der anderen eine alte Taschenuhr aus ihrem Mantel hervor, die an einer goldenen Kette hing. Sie war breit wie ein Apfel und sah seltsamer aus, als jede Uhr, die ich zuvor gesehen hatte. Am oberen Rand waren neun kleine Knöpfe oder Rädchen angebracht, die man betätigen konnte. Irritiert musterte ich das Ziffernblatt, auf dem acht Zeiger, alle verschieden lang, ständig in Bewegung waren. Sie wiesen nicht auf Zahlen, sondern auf zwölf kreisrunde Bildchen, auf denen Symbole und Zeichen zu erkennen waren.

Tatjana warf einen kurzen Blick darauf – was vermochte sie in diesem Durcheinander zu erkennen? – und fuhr mit weiteren Erklärungen fort.

»Wir reisen jetzt eine Schleife weiter, in die vierte Schleife. Dort leben, wie schon gesagt, alle Augenschönen. Du wirst ein eigenes Zimmer bekommen, neue Kleidung, und was du sonst noch benötigst.«

Ich hörte ihr nur mit halbem Ohr zu, da ich nach wie vor fasziniert auf das Ziffernblatt der Taschenuhr blickte. Soeben hatte ein kleines Bildchen von einer Wolke zu einer Sonne gewechselt, auf die ein langer dünner Zeiger rückte. Was das wohl heißen sollte?

Auf einmal bemerkte ich, dass Tatjana aufgehört hatte zu reden und mich mit wissendem Gesichtsausdruck beobachtete. Sie nickte zur Uhr hin. »Offensichtlich findest du die hier interessanter, als mir zuzuhören.«

»Nein, nein, ich …«

»Du musst dich nicht rechtfertigen. Ich kann dich verstehen. Eigenartige Dinge, diese Taschenuhren, was? Sie werden übrigens Omunalisuhren genannt. Neben den verschiedenen Informationen, die sie uns liefern, können sie uns auch in eine andere Schleife bringen.« Sie fasste meine Hand fester und ein schelmisches Grinsen stahl sich auf ihr Gesicht. »Bist du bereit, das auszuprobieren?« Ohne meine Antwort abzuwarten, drückte sie auf den obersten Knopf ihrer seltsamen Uhr.

Ein leises Klicken ertönte, und der dickste Zeiger sprang auf das Feld, das anstelle der Ziffer Elf stand, dessen Bildchen sich soeben zur römischen Zahl IV gedreht hatte. Ein Rauschen ertönte. Ich sah, wie Tatjana und ich grau aufleuchteten, bevor ich in grelles weißes Licht getaucht wurde. Mich überkam ein eigenartiges Gefühl, ganz so, als würde ich fliegen. Schwerelos fühlte ich mich, wie eine Feder, die langsam zu Boden schwebt. Allerdings wurde ich ziemlich unsanft aus diesem träumerischen Gefühl gerissen, als meine Füße wieder festen Boden unter sich hatten. Stolpernd landete ich auf meinem Hintern.

Von Tatjana kam ein kurzes Kichern. Die junge Frau stand fest und ruhig auf dem Boden, ohne zu wanken, als hätte sie schon den ganzen Tag dort gestanden. Sie ließ meine Hand los und steckte ihre Uhr ein. Ihre, wie hieß sie noch gleich? Omunalisuhr?

Sie schmunzelte, während ich mein Kleid raffte und aufstand.

Verstohlen rieb ich mir mein schmerzendes Hinterteil. Meine lächerliche Bruchlandung war mir mehr als peinlich.

»So ergeht es den meisten beim ersten Mal«, tröstete Tatjana mich, als ich versuchte, mir etwas Dreck von dem ohnehin rettungslos beschmutzten Kleid abzuklopfen.

Wir waren auf einem breiten, gekiesten Pfad gelandet, der sich hell durch einen Laubwald schlängelte. Durch das luftige Blätterdach drang warmes Sonnenlicht, das tanzende grüne Punkte auf den Waldweg warf.

»Komm, wir müssen dort entlang«, wies Tatjana mich an und nahm den Weg nach links.

Ich beeilte mich, ihr nachzukommen, und stolperte prompt über ein paar am Boden liegende Stöcke.

Der Weg ging nur ein paar hundert Meter weiter, und als er dann langsam breiter wurde, erkannte ich vor uns eine große Wiese, auf der niedriges Gras neben bunten Frühlingsblumen wuchs. Hinter der Wiese konnte ich gegen das Licht Umrisse von ein paar Häusern ausmachen. Neugierig lief ich weiter.

Neben mir hörte ich Tatjana noch »Vorsicht!« rufen, doch da war ich schon auf ein Stück der Wiese getreten. Ich hatte nicht bemerkt, dass sie steil abfiel, bevor sie unten gerade weiterging, und verlor sofort den Boden unter den Füßen. Erschrocken ruderte ich mit den Armen in der Luft und erwartete, erneut hinzufallen und blaue Flecken zu bekommen oder mir, noch schlimmer, die Nase zu brechen.

Doch nichts davon geschah. Zwei starke Arme hielten mich fest, sodass ich mein Gleichgewicht wiederfand.

Ich blickte auf und sah in das Gesicht eines jungen Mannes, der etwa in meinem Alter sein musste. Er hatte kurze braune, fast schwarze Haare, durchdringende, strahlend grüne Augen und einen vollen Mund, der sich gerade zu einem neckischen Grinsen verzog.

»Da übt man an einem gewöhnlichen Nachmittag Bogenschießen, langweilt sich dabei und wünscht sich etwas Abwechslung, und als hätte der Himmel meinen Wunsch erhört, fällt mir plötzlich eine wunderschöne Prinzessin mit goldenem Haar und goldenen Augen in die Arme. Von dir, holde Maid, habe ich schon gehört. Du musst die ehrenwerte Lucy sein!«

Ich starrte ihn verdattert an und errötete unter seinen Komplimenten. Doch woher kannte er meinen Namen?

»Ja, das ist sie«, antwortete hinter dem jungen Mann eine andere männliche Stimme.

Ich befreite mich aus den Armen des Grünäugigen, drehte mich zur Seite und erkannte, wer dort stand. Es war der »Schön-wär’s-Mann« mit der türkisfarbenen Iris aus der Halle der Erkenntnis.

Er stand vor einer Gruppe von etwa fünf weiteren Burschen, alle in unserem Alter, die interessiert unserer Unterhaltung lauschten. Sie alle hielten Bogen in der Hand. Ich bemerkte auf der Wiese in fünfzehn Metern Entfernung etliche Zielscheiben, in denen Pfeile steckten.

»Da warst du ja mal zur richtigen Zeit am richtigen Ort, James«, ertönte Tatjanas belustigte Stimme und erleichtert wandte ich mich zu ihr um.

»Hallo, Tatjana«, begrüßte sie der, der mich aufgefangen hatte, grinsend.

»Wie du richtig erkannt hast, und wie Atlas es dir bestätigt hat, ist das hier Lucy de Mintrus. Unser Neuzugang«, stellte Tatjana mich korrekt vor. »Und? Wie geht das Training voran, James?«

»Es lief sehr gut, bis der Engel neben dir hereingepurzelt ist und uns alle mit seiner Schönheit erstarren ließ.« Er zwinkerte mir zu und ich spürte, wie die Röte meine Wangen hinaufkroch.

Der junge Mann aus der Halle der Erkenntnis gab ein Schnauben von sich, das James herumfahren ließ. »Was ist dein Problem, Atlas?«, zischte er verärgert.

Doch Atlas presste nur seine Kiefer zusammen, wandte sich ab und zog einen Pfeil aus einem am Boden liegenden Köcher. Er zielte auf eine der Scheiben und ließ den Pfeil los. Mit einem Surren zischte der nach vorn und traf die Scheibe genau in der schwarzen Mitte.

Ich starrte den Pfeil mit offenem Mund an.

James sah Atlas an und runzelte, offensichtlich verärgert, die Stirn, bevor er sich wieder mir zuwandte.

»Ich hoffe, wir werden uns bald wiedersehen, damit ich mich weiter an eurer Schönheit ergötzen kann, holde Maid.« Er deutete eine Verneigung an und stellte sich gemeinsam mit den anderen auf, um mit dem Bogenschießen fortzufahren, wobei er den am weitesten von Atlas entfernten Platz wählte.

Tatjana legte mir ihre Hand auf die Schulter und bugsierte mich zu einem kleinen Trampelpfad, der sich durch die Wiese zog.

»Da hast du aber ordentlich Verehrer gesammelt«, schmunzelte sie und überholte mich.

Verehrer? Das Wort klang seltsam schön in meinem Kopf nach. Ich hatte noch nie einen jungen Mann getroffen, der mich so mit Komplimenten überhäuft und mit gestelzten Worten meine Schönheit gepriesen hatte wie dieser James. Meine Andersartigkeit hatte auch die Männer von mir ferngehalten.

Ob er mich tatsächlich schön fand? Oder war es lediglich ein Spaß gewesen, den er aufgrund seiner selbst bekundeten Langeweile mit mir getrieben hatte?

Noch mehr Kopfzerbrechen bereitete mir allerdings Atlas’ Verhalten. War er immer so schlecht gelaunt? Oder bekam nur ich diese Seite von ihm zu spüren, weil er mich vielleicht aus einem mir noch unbekannten Grund nicht mochte? Hatte ich etwas Falsches gesagt oder getan? War er wütend, weil ich die Halle der Erkenntnis beschädigt hatte? Er war allerdings schon davor schlecht gelaunt gewesen. Ja, wenn ich es mir recht überlegte, hatte er mich von Anfang an so missbilligend angesehen.

»Nicht trödeln!«, ermahnte mich Tatjana und ich schloss hastig zu ihr auf.

Hinter der Wiese erstreckte sich ein gekiester Hof, um den mehrere Gebäude standen. Tatjana lief auf das am nächsten gelegene zu. Es war groß und weiß und hatte eine breite schwarze Tür, an die Tatjana klopfte. Das Pochen hallte dumpf dahinter nach. Wir hörten eilige Schritte und die Tür wurde von einem jungen Mädchen geöffnet. Sie hatte schulterlange, glatte brünette Haare und trug dunkelblaue enge Hosen und ein weißes T-Shirt, auf dem ein blaugraues Auge mit einer Wolke drumherum aufgedruckt war. Ihre echten Augen strahlten ebenfalls in einer blaugrauen Farbe und sie lächelte uns an. Sie musste wie alle anderen, die ich bisher getroffen hatte – mit Ausnahme der drei Älteren, Tatjana, Elvon und Mr Honk – ungefähr in meinem Alter sein.

»Hallo, Tatjana. Wen hast du denn da aufgegabelt?« Sie musterte mich höchst interessiert und hielt die Tür weit auf.

Tatjana trat ein und ich folgte ihr schüchtern.

»Das ist Lucy de Mintrus. Eine neue Augenschöne aus dem 17. Jahrhundert. Wir haben bereits die Halle der Erkenntnis und den Saal des Wissens aufgesucht.«

Das Mädchen blinzelte mir zu. »Guten Tag, Lucy. Mein Name ist Rosalie, aber du kannst mich Rose nennen. Hast du ebenfalls einen Spitznamen?«

Überrumpelt schüttelte ich den Kopf. »Nein, ich … ich werde nur Lucy genannt.«

»Das ist nicht schlimm«, lachte Rosalie hell auf, »ich werde schon noch einen für dich finden. Und falls nicht, dann ist das auch nicht der Weltuntergang.«

Sie zwinkerte mir erneut zu und ein warmes Gefühl durchströmte mich. Sie war wunderbar sympathisch, ich mochte sie auf Anhieb.

»Rosalie«, schaltete Tatjana sich ein, »kannst du Lucy mitnehmen und ihr beim Waschen und Anziehen helfen? Ich muss etwas Wichtiges mit Elvon und Mr Starrson besprechen.«

»Selbstverständlich!« Rosalie hakte sich bei mir ein. »Wo soll ich sie hinbringen, wenn wir fertig sind?«

»Zu Mr Starrsons Büro wäre nett. Sie soll davor warten.« Tatjana nickte uns zum Abschied kurz zu und verschwand um die nächste Ecke.

Rosalie grinste mich an. »Das wird ein Spaß mit uns zweien«, rief sie euphorisch.

Ich nickte nur, obwohl ich so gern etwas Kluges gesagt hätte, um einen guten Eindruck auf sie zu machen.

Doch offenbar konnte sie sich in mich hineinversetzen, denn sie erkundigte sich mitfühlend: »Ziemlich viel Neues auf einmal, was?«

»Ja, ziemlich. Außerdem verstehe ich nicht einmal die Hälfte des Ganzen.« Mein Blick glitt nachdenklich über die Wände, während wir langsam einen schmalen Gang entlangliefen. »Auch wenn bis jetzt alles recht … positiv klang.«

»Ach, das wird schon«, strahlte Rosalie mich an, »mit mir als bester Freundin.«

»Wirklich?« Es war erbärmlich, doch ich konnte einfach nicht verhindern, dass sich in meine Stimme Sehnsucht mischte. Ich hatte noch nie überhaupt eine Freundin gehabt, geschweige denn, eine beste Freundin, mit der ich hätte spielen, tratschen und Spaß haben können. Kurz und schmerzhaft durchzuckte mich die Erinnerung an Evie. Ich zwang mich, sie zu verdrängen. Die Trauer musste ich mir für später aufheben. Es wäre mir peinlich gewesen, vor Rosalie in Tränen auszubrechen.

»Wirklich was?« Das Mädchen musterte mich verblüfft. »Du wolltest mich doch gerade nicht echt fragen, ob wir wirklich beste Freundinnen sein könnten?«

Hoffnungsvoll nickte ich und verfolgte ihr Mienenspiel.

Sie zog mich grinsend weiter. »Das sind wir doch längst! «

Ich schaute verlegen zur Seite. »Nun ja, ehrlich gesagt hatte ich noch nie eine Freundin.«

»Tatsächlich?« Rosalie schob sich eine Strähne hinters Ohr.

Mir fiel auf, dass sie jeden Fingernagel in einer anderen Farbe bemalt hatte.

»Ich hatte ebenfalls noch nie eine Freundin, bis auf dich. Das passt doch perfekt. Bestimmt Schicksal.« Ihr linkes Auge zwinkerte mir wieder mal zu und ich lachte, erleichtert über ihre Offenheit und ihren Humor. Rosalie war toll!

Wir gingen weitere Flure entlang, einige Treppen hinauf und durch mehrere kleine Zimmer, bis wir zu einer weißen Tür gelangten, an der ein Schild mit der Aufschrift »Waschraum« hing.

Rosalie drückte die Klinke hinunter und ich trat hinter ihr in einen riesigen Raum, in dem sich Duschkabine an Duschkabine reihte. Der Boden und die Wände waren gekachelt. Direkt neben der Tür stand eine Bank, daneben ein Tischchen, auf dem verschiedene Tuben lagen.

Rosalie deutete auf die Bank. »Hier kannst du dein schmutziges Kleid ausziehen. Die Seifen auf dem Tisch da kannst du benutzen. Soll ich dir vielleicht helfen?« Sie betrachtete kritisch mein zerrissenes und völlig verschmutztes Kleid.

Ich nickte und hob entschuldigend die Schultern. »Allein komme ich aus dem Gewand wohl nicht heraus. Zu Hause hatte ich eine Zofe, die mir beim An- und Auskleiden geholfen hat.«

Erneut überkam mich Traurigkeit, als ich an mein altes Zuhause, das schöne Anwesen, dachte. Es tat weh, darüber in der Vergangenheitsform zu sprechen. Würde ich wirklich nie wieder dorthin zurückkommen? Würde ich für immer hier, in einer … Schleife, leben müssen?

»Du hattest eine Zofe?« Mit ehrfürchtig geweiteten Augen starrte Rosalie mich an. »Eine echte Zofe, wie in Büchern? Hast du auch in einem Schloss gewohnt?«, erkundigte sie sich neugierig und begann, die Knöpfe des Kleides an meinem Rücken zu öffnen.

»Nein, kein Schloss. Nur ein großes Anwesen auf dem Land.« Ich schlüpfte aus meinen ramponierten Schuhen.

Rosalie zog mir die Fetzen des Kleides über den Kopf und entdeckte meine beiden Unterkleider.

»Ist das nicht zu warm?«

»Doch, schon«, ich schälte mich aus einem der verschwitzten Ärmel, »aber heute Morgen war bei mir zu Hause noch tiefster Winter.« Dass ich mitten im Frühling landen würde, hatte ich ja nicht ahnen können.

Rosalie half mir aus den restlichen Kleidern, hängte sie sich über ihren Arm und reichte mir ein großes flauschiges Handtuch. Dabei musterte sie die kleinen Blutstriemen, die sich über meine Haut zogen, und die getrockneten Blutreste auf meinen Wangen, die die Überbleibsel meiner wunden Augen waren.

»Du siehst ziemlich mitgenommen aus. Am besten wäschst du auch deine Haare. Da klebt ziemlich viel Schmutz drin. Wie gesagt, die Seifen und Shampoos auf dem Tisch stehen dir zur Verfügung.«

»Danke, Rosalie.«

Sie lächelte und nickte in Richtung Tür. »Ich hole dir inzwischen etwas zum Anziehen. Bin gleich wieder da. Ach, und nicht vergessen, du kannst Rose zu mir sagen.«

Sie tänzelte durch die Tür, schloss sie leise hinter sich und ließ mich in dem gigantischen Duschraum allein zurück.

Bericht: Auftrag 312


Nach fünfzigstündiger Überschreitung der eingestellten Zeitfahrtdauer wird angenommen, dass Cara Shepden nicht mehr von ihrem Besuch im fünfzehnten Jahrhundert zurückkommen wird. Die Sucheskorte blieb erfolglos. Es wird angenommen, dass Cara bereits in die Inneren Schleifen zurückgeworfen wurde. Möge sie in Frieden ruhen.


Anmerkung:

Die Trauerfeier wird in einer Woche am Südwestwald abgehalten. Elvon hat sich erst einmal von seinen Aufgaben zurückgezogen. Ihm wird vollstes Verständnis entgegengebracht.


Aus den alten Berichtaufzeichnungen

Augenschön Das Ende der Zeit (Band 1)

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