Читать книгу Augenschön Das Ende der Zeit (Band 1) - Judith Kilnar - Страница 7
ОглавлениеKapitel 2
»Evie!« Ich wusste, dass es sinnlos war, doch ich redete weiter auf sie ein. »Evie, alles wird gut werden. Bewahre deine Kräfte noch kurz. Ich werde dich zum Medicus bringen.«
Ich mühte mich, sie hochzuheben, und legte ihren Arm um meine Schulter. Unter ihrem schweren Gewicht keuchte ich leise und wankte zwei Schritte vor zur Tür. Ich drückte die quietschende Klinke herunter und taumelte in den Gang. Bei der nächstbesten Tür, die aus den Dienstbotengängen hinausführte, hielt ich an und drückte sie ebenfalls auf. Ich zog Evie hinter mir hinaus auf den Flur und sah mich um.
Wir waren in einem der Spiegelgänge gelandet, die sich durch das gesamte Schloss zogen. Ich schaute den Gang entlang und suchte nach Hinweisen, wo wir uns genau befanden. Vor lauter Angst hatte ich nicht auf den Weg geachtet und war vollkommen orientierungslos. Mein Blick blieb an einem der großen Spiegel hängen.
Ich ließ Evie sanft zu Boden gleiten und trat auf die gegenüberliegende verspiegelte Wand zu. Ich sah zwei Mädchen. Eines auf dem Boden hinter mir und eines, das mich entsetzt anstarrte.
Aber das konnten nicht Evie und ich sein, denn die Kleider der Mädchen waren an einigen Stellen zerrissen und schmutzig. Über die Gesichter und die Arme waren Rußspuren verteilt, als hätten sie sich in einem Kamin gewälzt. Rote Striemen und Kratzer zogen sich über die Haut. Doch das Verrückteste war das goldene Leuchten.
Ich trat noch näher an den Spiegel und musterte mein Gegenüber, das wohl ich sein musste. Meine Augen bestanden aus einem goldsilbernen, tanzenden Feuer. Die Flammen leckten an meinen Pupillen und an den äußeren Rändern der Iris, als wollten sie alles verbrennen. Sie leuchteten heller als Kerzenschein und warfen glitzernde Punkte an die Spiegelränder.
Ich hatte meine Augen schon oft im Spiegel betrachtet, um besser verstehen zu können, was alle anderen daran so abstieß. Sie waren schon immer ungewöhnlich gewesen, mit ihrer intensiven goldenen Farbe und dem leichten Glitzern, besonders wenn ich sie bei Sonnenschein betrachtete. Doch so ein Leuchten wie jetzt hatte es noch nie gegeben.
»Interessant, nicht wahr?«, vernahm ich eine hohe kalte Stimme.
Ich fuhr herum und hätte am liebsten laut geschrien. Es war der Earl. Er stand etwa vier Meter von mir entfernt und lächelte mich kühl an.
»Was … was wollt Ihr?«, stotterte ich unsicher.
Er ließ sich mit seiner Antwort Zeit. Sein Blick wanderte zu Evie.
Ich stellte mich schnell schützend vor sie und versuchte, ruhig zu bleiben.
»Diesmal musste also die eigene Schwester dran glauben.« Er schüttelte missbilligend den Kopf, ohne den Blick von ihr zu lösen. »Wer war es davor?«
»Was meint Ihr mit davor?«, fragte ich und wich ängstlich einen Schritt in den Gang zurück. Es behagte mir überhaupt nicht, Evie allein auf dem Boden zwischen mir und diesem Mann liegen zu sehen, der mir Angst machte.
»Ach Engelchen«, sagte er gespielt entrüstet, »ich weiß doch ohnehin alles. Mit siebzehn begeht kein Augenschön seinen ersten Mord.«
»M-mord?« Ich hatte nicht einmal die Hälfte von dem verstanden, was er gesagt hatte, doch dieses Wort schon. Stimmte das, was er sagte? Hatte ich meine eigene Schwester ermordet?
Der Mann schaute wieder zu mir auf. Kurze Verunsicherung huschte über sein Gesicht, dann war es erneut unbewegt und ausdruckslos.
»Ja, meine Süße, Mord. Du hast dein hübsches Schwesterchen getötet, so wie all die anderen, die du mit deinen Augen ausgebrannt hast.«
Mit meinen Augen ausgebrannt? Was schwafelte dieser seltsame Earl da nur?
»Ich habe noch nie jemanden ausgebrannt«, widersprach ich mutiger, als ich mich fühlte. Außerdem hatte ich keine Ahnung, was ausbrennen bedeutete.
»Also Herzchen …«
Ich zuckte zusammen, als er mich mit dem Kosenamen anredete, den meine Mutter immer benutzte.
»… so belügen kannst du mich nicht«, fuhr er fort und machte einen Schritt in meine Richtung. »Eine hast du mindestens umgebracht.« Er wies mit dem Finger auf Evies leblosen Körper. »Du sagst, es war die Einzige?« Er schaute mir fragend ins Gesicht und ich nickte schnell.
»Hmm … dann bist du wohl eine Schwache? Oder eine besonders Mächtige? Die Augen leuchten immer noch«, murmelte er leise. »Sonne auf jeden Fall, aber was noch? Nun ja, wen interessiert das schon? Niemand wird es je herausfinden.«
Er hatte kurz geistesabwesend gewirkt, doch nun wandte er seine Aufmerksamkeit wieder mir zu. »Für dich macht das keinen Unterschied.«
Als ob ich überhaupt irgendetwas von dem verstanden hätte, was er gesagt hatte!
»Tot ist tot«, fauchte er in veränderter Stimmlage.
Tot? Das verstand ich. Entsetzt stolperte ich zurück.
Auch der Earl trat einen halben Schritt zurück und kauerte sich auf den Boden. So wie eine Katze, die sich bereit zum Sprung machte. Er stieß ein unmenschliches Knurren hervor, das mir die Haare zu Bergen stehen ließ und meinen Fluchtinstinkt wachrief.
Der Earl fing an, sich zu verändern. Seine Finger wurden länger und länger, bogen sich wie die Klauen eines Adlers.
Sein Gesicht schien aufzureißen, Fellbüschel sprossen aus der Haut. Seine schwarzen Augen wurden größer und zogen sich in die Breite. Sein Bauch hingegen zog sich in die Länge. Als sein Hemd aufplatzte, konnte ich runde, matschbraune Schuppen erkennen. Die Beine wuchsen in seinen Körper hinein und die Arme immer weiter hinaus, bis er auf ihnen zu stehen schien.
Er riss sich den Mantel herunter und ich konnte erkennen, warum er ihn die ganze Zeit getragen hatte. Aus seinem Rücken entfalteten sich zwei lederne Flügel, die zwischen den Gangwänden kaum Platz hatten, sodass er sie nicht ganz ausbreiten konnte. Die Nase und der Mund wuchsen zusammen zu einem braunen, krummen Schnabel, den das Geschöpf jetzt öffnete, wobei es einen grellen Schrei hervorstieß. Es war ein Knurren, Zischen und Krähen zugleich.
Es war der unpassendste Moment, aber beim Anblick der Kreatur fiel mir die alte Henne unseres Gärtners ein, die voriges Jahr gestorben war. Nur hatte das Huhn keinen schuppigen Schlangenkörper mit einem Hundegesicht gehabt. Außerdem war diese Kreatur leider äußerst lebendig. Gerade legte sie den Kopf in den Nacken, stieß ein weiteres keckerndes Knurren aus und schlängelte sich auf mich zu. Es war närrisch, da ich diesem Monster nie entkommen würde, doch mein Fluchtinstinkt gewann die Oberhand. Ich drehte mich um und rannte panisch los. Ein hämisches Zischeln erklang hinter mir, als würde das Monster mich für meinen erbärmlichen Fluchtversuch auslachen. Ich rannte trotzdem weiter, so schnell ich konnte. Nur war ich nicht besonders erfolgreich damit, da ich ein schweres Kleid mit mehreren Unter- und Überröcken trug.
Ein schleifendes Geräusch hinter mir informierte mich, dass der Schlangenkörper mir folgte. Ich strengte mich in panischer Angst bis zum Äußersten an und meine Augen fingen erneut an zu brennen. Es war ein quälender Schmerz, der mir fast den Verstand raubte. Diesmal hielt ich meine Augen geöffnet, da es zuvor ohnehin nichts genutzt hatte, sie zu schließen, und rannte einfach weiter. Vor mir konnte ich eine Biegung im Gang sehen, und auf dem Spiegel, der dort die Wand schmückte, sah ich mich und das Monster. Mich mit strahlenden goldenen Augen, die Blitze in alle Richtungen abschossen.
Instinktiv duckte ich mich, als einer von dem Spiegel abprallte und zurückkam. Der Blitz zischte über mich hinweg und ein ohrenbetäubender Knall ertönte. Ich wirbelte herum und sah eine große Staubwolke. Das Monster war verschwunden.
Verwirrt schaute ich mich um. Meine Augen schossen brennende Pfeile umher, deren flackerndes Licht den Gang golden erhellte. Was war nur los mit mir?
Da hörte ich plötzlich das leise Zischeln von Flammen direkt vor mir. Ich konnte den Blick nicht schnell genug abwenden und ein goldener Feuerblitz, der von einem Spiegel zurückgeworfen wurde, traf mich mitten in den Augen. Es war ein Schmerz, wie ich ihn noch nie verspürt hatte, als würde ich innerlich verbrennen, als wäre alle Peinigung in meinen Körper übertragen worden und wollte mich zerstören.
Mein gellender Schrei hallte durch die Gänge, bevor alles schwarz wurde, und ich fiel. Immer tiefer. Doch gleichzeitig schien ich in Millionen Stücke zerrissen zu werden und meine Schreie konnten die gefühlte Qual nicht mehr ausreichend ausdrücken.
Ich spürte und roch warmes Blut, das mir die Wangen hinunterlief. Es tropfte aus meinen Augen und verklebte meine Wangen, wie Tränen. Dann war alles schwarz.
Aus den Lexika der Augenschönen
(Band 1, Kapitel 6)
Das erste Zeichen dafür, dass jemand ein Augenschön ist, ist die Veränderung der Augenfarbe innerhalb der ersten sieben Lebensjahre. Meist ereignen sich in der Zeit danach viele Unfälle, die erst nach und nach seltener werden. Bei solchen Gefühlsausbrüchen kann es auch zum Tod einer oder mehrerer Personen kommen. Die Erste Fahrt in die Inneren Schleifen ereignet sich in der Regel zwischen dem sechzehnten und dem zwanzigsten Lebensjahr während gewünschten Zauber in Beibehaltung eines Gefühlsausbruchs. Beim gewöhnlichen Tode fährt das Augenschön sofort in die Inneren Schleifen. (So ist auch die Erste Fahrt mit nur dreizehn Jahren möglich.)
Aus dem Bericht:
Die Erste Fahrt von E. Shepden