Читать книгу Augenschön Das Ende der Zeit (Band 1) - Judith Kilnar - Страница 8

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Kapitel 3

»… ist einfach so hier reingeplatzt.«

»In die dritte Schleife?«

»Ja … ist ungewöhnlich … wohl eine mächtige Magie.«

»Welches Alter?«

»Ich schätze so sechzehn, siebzehn.«

»Ehrlich? Ganz schön spät für so eine Kraft.«

»Ja, … die anderen kommen meistens früher. Der normale Durchschnitt kommt eher in diesem Alter.«

»Könnte das womöglich eine Titanin sein? … mehrere … Elternteile?«

»Die letzten Titanen … schon eine Weile her …«

»Die Möglichkeit kann bei so einer Kraft durchaus bestehen.«

»Ja, aber … schaut! Sie bewegt sich.«

Verschwommene Gesprächsfetzen sickerten langsam in meinen Kopf, der pochte, als wollte er die Trommeln am Hofe des Königs übertönen. Ein leises Stöhnen drang über meine Lippen und ich drehte den Kopf herum, sodass meine Wange kühlen Boden berührte. Marmor vielleicht? Ich öffnete die Augen und sah in ein schummrig waberndes Licht, das aus der Luft selbst zu kommen schien. Leicht hob ich eine Hand an und fuhr durch den weißen Nebel, der den Boden bedeckte. Ja, er war aus Marmor. Hatte ich es doch gewusst! Wo war ich hier?

»Bin ich tot?«, flüsterte ich mit brüchiger Stimme zu niemand Bestimmtem.

»Schön wär’s«, antwortete eine fremde männliche Stimme hinter mir.

»Pssst«, zischte ein weiterer Mann.

Ich richtete mich ein Stück auf und dachte angestrengt nach. Was war passiert? Evie!, durchschoss es mich. Das seltsame Leuchten, das von meinen Augen auszugehen schien, der Mann im Mantel. Die Blitze, die das Monster getötet hatten, das zuvor noch der Earl gewesen war. Der eine Blitz, der auf mich zugekommen war, die Schmerzen und das Gefühl, innerlich zerrissen zu werden.

Unwillkürlich fuhr ich mit meiner Hand zu meinen Augen und betastete sie. Als ich den Finger vor mein Gesicht hielt, glänzte er blutrot. Geschockt und verwirrt sah ich mich aus meiner halb liegenden Position weiter um. Ich befand mich in einem riesigen Raum, dessen Decken ich ebenso wie die Wände nur schemenhaft erkennen konnte. Einige Schritte von mir entfernt waberte der Nebel um vier Gestalten, die im aufsteigenden Dunst ebenfalls nicht richtig zu sehen waren.

Noch immer wackelig setzte ich mich richtig auf und stellte fest, dass es sich bei den Gestalten um drei Männer, einer davon noch ziemlich jung – nur wenige Jahre älter als ich – und um eine Frau handelte. Entgeistert starrte ich sie an. Sie trug Hosen. Eine seltsam enge Hose, wie ich sie noch nie gesehen hatte – und ich hatte auch noch nie davon gehört, dass es Frauenhosen gab. Doch nicht nur die Frau trug andersartige Kleidung, alle vier sahen seltsam aus.

Einer der Männer trat auf mich zu.

»Ich bin Mr Honk und sehr erfreut, dich kennenzulernen«, sagte er mit angenehm warmer Stimme. »Kann ich dir aufhelfen?« Er streckte eine Hand aus und ich ergriff sie erleichtert. Mr Honk zog mich hoch und stützte mich, als ich etwas benommen schwankte. Der andere ältere Mann und die Frau betrachteten mich mit kaum verhohlenem Interesse. Der junge Mann starrte nur missmutig zu Boden.

Die Frau lächelte mich an. »Ich bin Tatjana«, stellte sie sich vor und deutete auf den Mann neben sich, »und das ist Elvon.«

Der Mann nickte mir ebenfalls lächelnd zu, bevor er zu dem jüngeren Mann hinübersah. Der hatte die Hände in seinen Taschen vergraben und starrte noch immer nach unten. Doch zumindest brummte er nun eine undeutliche Begrüßung.

»Und wer bist du?«, fragte mich der Mann, der sich mir als Mr Honk vorgestellt hatte.

»Lucy Elizabeth de Mintrus.« Obwohl mich niemand darum gebeten hatte, nannte ich meinen vollen Namen, der mir hier irgendwie angebracht schien. Verlegen strich ich über mein Kleid, das zerrissen und rußverschmiert an mir herabhing.

Die zwei älteren Männer und die Frau tauschten schnelle Blicke aus. Und da fiel es mir auf. Ihre Augen.

Mr Honk hatte kastanienbraune, die Frau, Tatjana, graue und die des Mannes namens Elvon waren violett. Doch das war nicht das Seltsamste an ihnen. Alle waren von einer genauso strahlenden farbigen Intensität wie meine. Sie schienen zu leuchten, ohne einen einzigen Lichtfunken abzusenden.

Der junge Mann blickte kurz auf, sah mich an und mein Mund blieb offen stehen. Er hatte Augen in einem so wunderschönen Türkis wie das Meer. Winzige Wellen schienen durch seine Iris zu wogen und sich an seiner Pupille zu brechen. Als sich Mr Honk an mich wandte, drehte ich mich hastig um und klappte schnell meinen Mund wieder zu.

»Also … Lucy, ist es in Ordnung, wenn wir dir ein paar Fragen stellen?«

Ich nickte vorsichtig. Diese Leute wirkten nicht bösartig. Womöglich war ich ja doch tot und die Fragen waren eine Art Aufnahmeprüfung für den Himmel.

Tatjana und Elvon stellen sich neben Mr Honk, während der Jüngere blieb, wo er war.

»Dann fangen wir mal an.« Mr Honk musterte mich mit seinen leuchtenden braunen Augen. »Wie alt bist du?«

»Siebzehn.« Wozu wollte er das wissen?

»Wo wohnst … hast du gewohnt?«

»In dem Anwesen meiner Familie, im Südosten Englands.«

»Mit wem hast du dort gewohnt?«

Ich runzelte die Stirn. Wieso redete er immer in der Vergangenheit? »Mit meinen Eltern, meinen beiden älteren Schwestern und unseren Bediensteten.«

Die drei tauschten abermals Blicke aus.

»In welchem Jahr wurdest du geboren?«, übernahm nun Elvon.

»I-ich glaube, 1586.«

»Und wo?«

Seine violette Iris irritierte mich. »Bei uns auf dem Anwesen.«

»Und seit wann hast du deine Augen?«

»Ähm … schon immer?« Jeder Mensch hatte Augen, von Geburt an. Hatte ich die Frage falsch verstanden?

»Ich glaube, ich habe meine Frage falsch formuliert«, bestätigte mir Elvon und faltete die Hände zusammen. »Ich wollte eigentlich wissen, seit wann deine Augen diese ungewöhnliche goldene Färbung haben.«

Empörung machte sich in mir breit. Er bezeichnete meine Augenfarbe als ungewöhnlich, dabei hatte er selbst noch ungewöhnlichere Augen. Dennoch antwortete ich wahrheitsgemäß. »Meines Wissens habe ich diese Augenfarbe schon immer. Jedenfalls so lange ich mich zurückerinnern kann.«

Elvon runzelte die Stirn. »Und deine Eltern? Haben sie diesbezüglich mal irgendwann etwas erwähnt?«

Ich war gerade dabei, den Kopf zu schütteln, als eine uralte Erinnerung in mir aufstieg, die ich zu verdrängen versucht hatte. Die Erinnerung handelte von einem Tag, an dem mein Unterricht bei Miss Lessing, meiner Lehrerin, früher geendet hatte, und ich, keine sieben Jahre alt, auf dem Weg zu meinem Zimmer am Studierzimmer meines Vaters vorbeigekommen war und ein leises Schluchzen gehört hatte.

Leise schlich ich näher an die Tür und lauschte der Stimme meines Vaters, die durch das Holz etwas dumpf klang. »Celine, Schatz, beruhige dich bitte.«

Ein Stuhl knarzte und eine weibliche Stimme jammerte leise eine Antwort, die ich jedoch nicht verstehen konnte.

»Was bedrückt dich, Liebling?«, wollte mein Vater mit seiner beruhigenden dunklen Stimme wissen.

»Ach, es ist nur …«, vernahm ich dann die Stimme meiner Mutter deutlich, die sich darum bemühte, sich zusammenzureißen. »Oh Ferris! Ich bin so schrecklich in Sorge. Wegen Lucy.«

Eigentlich wollte ich gar nicht hören, worüber sie sich sorgte. Doch ich war wie gelähmt und blieb stehen.

»Sie ist so furchtbar einsam, ohne jegliche Freunde. Alle Kinder finden sie seltsam, befremdlich. Und weshalb? Wegen dieser abscheulichen goldenen Augen.«

»Celine! Gerade du solltest nicht so von ihr sprechen.« Mein Vater klang verärgert. »Sie ist ein wundervolles, kluges Kind. So schön und makellos …«

»Das ist es doch gerade«, unterbrach ihn meine Mutter aufgebracht. »Merkst du das nicht, Ferris? Jeder, der sie sieht, hält sie für perfekt.«

»Ja …«

»Eben! Sie ist einfach zu perfekt. Hat keinen einzigen Fleck auf ihrer glatten, pfirsichfarbenen Haut, keinen einzigen krummen Nagel an ihren zarten Händen oder Zehen, und kein einziges stumpfes Haar in ihrer prachtvollen, wallenden Mähne. Sie ist zu hübsch. Zu makellos, zu perfekt. Sie ist nicht normal, und obwohl das eigentlich gute Eigenschaften sind, macht es den Leuten Angst, weil sie so anders ist.« Ein Seufzen drang durch die Tür. »Und als Krönung von alledem, die goldenen Augen. Warum konnten sie nicht die schöne grüne Färbung, die sie hatten, behalten? Warum haben sich ihre Augen wenige Tage nach ihrer Geburt in diese goldenen Monster verwandelt? Warum …?«

Ich stolperte von der Tür weg und Tränen liefen mir über die Wangen. Meine Mutter hatte es mit ihren Worten geschafft, dass ich mich selbst hasste.

Von dem Tag erschien mir meine Schönheit wie ein Fluch und noch etwas veränderte sich. Evie wurde noch wichtiger für mich. Sie wurde so etwas wie meine Mutter, während mich meine richtige Mutter nach ihren Worten für immer verloren hatte.

Ich blinzelte den Schleier der Erinnerung von meinen Augen und kehrte zurück in die Gegenwart.

»Ich habe einmal bei einem Gespräch meiner Eltern gehört, dass ich die goldene Färbung wenige Tage nach meiner Geburt bekommen habe.«

»Wenige Tage? Bist du sicher?« Elvons Falten auf seiner Stirn vertieften sich.

Ich nickte.

Jetzt trat Tatjana vor, sodass ich ihre Damenhose besser betrachten konnte. Sie war aus einem blauen, engen Stoff, fast wie eine Strumpfhose. Vielleicht war dies die neueste Mode aus Paris, die nur noch nicht ihren Weg zu uns gefunden hatte?

»Ich stelle dir nun eine Frage, die möglicherweise etwas unangenehm ist, auf die ich mir aber dennoch eine ehrliche Antwort wünsche.« Ihre grauen Augen glitzerten auf eine geheimnisvolle Weise und ließen sie irgendwie weise erscheinen, als sie mich mit ernster Miene fragte: »Wie viele Menschen hast du in deinem Leben schon umgebracht?«

Da war es wieder, das Wort. Umgebracht. Getötet. Ermordet. Etwas Ähnliches hatte mich bereits der Earl gefragt, bevor er sich in einen Dämon verwandelt hatte.

Dass es Dämonen gab, hatte mir eine meiner Zofen erzählt, die recht abergläubisch war. Sie war sich sicher gewesen, dass diese Wesen in den Schatten lauerten. Dort warteten sie, nachdem sie aus der Hölle emporgestiegen waren, wo sie dem Teufel dienten, um Sünder in die qualvollen Tiefen zu ihresgleichen zu ziehen. Am schlimmsten würde es die Hexen und Magier treffen, die versteckt in der Menschenwelt lebten und die Leute in ihrer Umgebung verfluchten. Später hatte sich herausgestellt, dass die Zofe in mir eine Hexe vermutet und mir die Geschichte erzählt hatte, um mich von meinen finsteren Zaubereien abzuhalten, von denen sie annahm, dass ich sie mit der Kraft meiner goldenen Augen zelebrierte. Wie so viele war sie keinen Monat geblieben und ich hatte wieder eine neue Dienerin gebraucht.

Ich wich drei Schritte zurück. Wenn Tatjana mir dieselbe Frage wie der Dämon stellte, dann waren sie und die anderen womöglich auch welche? Vorsichtig sah ich mich um auf der Suche nach einer Tür, einem Ausgang, der mich retten konnte. Doch dieser Raum schien keinen Anfang und kein Ende zu haben, keine Wände und Decken. Es gab nur den kalten Marmorboden und den allgegenwärtigen Nebel.

»Du hast keine andere Möglichkeit, außer unsere Frage zu beantworten. Ohne Hilfe findest du hier nicht hinaus.« Es war die Stimme des jungen Mannes, der zuvor »Schön wär's« gesagt hatte.

»Ruhe«, wies Tatjana ihn zurecht und trat mit halb ausgestreckter Hand einen Schritt auf mich zu, den ich mit erneutem Zurückweichen ausglich.

»Bitte, Lucy, es ist wichtig, dass wir eine Antwort von dir bekommen.«

»Weshalb?« Meine Stimme zitterte leicht. »Geht das Umbringen so schneller?«

Tatjana wirkte irritiert und sah hilfesuchend zu Mr Honk und Elvon, die allerdings genauso verwirrt wirkten. Da trat der jüngere Mann vor und sah mich aufmerksam an. Mein Herz begann, schneller zu klopfen.

»Ist dir denn bereits jemand begegnet, der vorhatte, dich umzubringen?«

Tatjana sah ihn fragend an, bevor sich langsames Verstehen auf ihrem Gesicht ausbreitete.

Ich verstand immer noch nichts. Misstrauisch beäugte ich ihn, bis ich rot wurde und den Blick senkte. »Ja … einmal«, flüsterte ich, »gerade eben erst. Es war der Earl of Holeweavers. Ein seltsamer Mann. Das heißt, er war einer, bevor er sich plötzlich in ein Monster verwandelt hat. Ein seltsames hundeköpfiges Schlangenhuhn. Er wollte mich töten.«

Tatjana sog scharf die Luft ein und der Mann mit den türkisblauen Augen trat zurück in den dichteren Nebel.

»Um eines klarzustellen, Lucy, wir wollen dich nicht töten.« Die Frau kam abermals näher.

Ich blieb abwartend stehen.

»Genau genommen wollen wir dir helfen. Über dieses Monster sollten wir uns später noch unterhalten, doch erst einmal solltest du unsere Frage beantworten. Lucy, wie viele Menschen hast du umgebracht?«

»Mit deinen Augen«, ergänzte Mr Honk.

»Mit meinen Augen? Ich …« Meine Stimme versagte. »Meint Ihr damit, dass sie … anfangen zu brennen? Zu leuchten? Strahlen zu erzeugen und goldene Blitze um sich zu werfen?«

»So in etwa, ja. Nur die Blitze … sind … sind außergewöhnlich.«

Ich schauderte und wich den erwartungsvollen Blicken der vier aus. Sollte ich ihnen tatsächlich von Evie erzählen? Was würden sie dann mit mir machen? Und woher wussten sie überhaupt, dass ich jemanden umgebracht hatte?

Ich schluckte schwer. »I-ich habe …«, setzte ich an und fuhr zitternd fort, »… nur eine Person getötet. Und es war ein … ein Versehen.« Ich musste ihnen nicht die ganze Geschichte sofort erzählen, richtig? Dass es meine Schwester gewesen war?

Evie … bei dem Gedanken traten mir Tränen in die Augen und ich musste heftig schlucken, um nicht zu weinen.

Die vier musterten mich gleichermaßen skeptisch und Tatjana fragte vorsichtshalber nach. »Nur eine?«

Auf einmal wurde ich wütend und ich funkelte Tatjana an. »Was glaubt Ihr denn, wie viele ich ermordet habe? Zehn? Fünfzig? Vielleicht auch hundert? Habt Ihr das erwartet?«

Tatjana blickte betreten zur Seite und auch die Mimik der beiden Männer sprach Bände. Ich hatte ins Schwarze getroffen. Verletzt zerknüllte ich den zerrissenen Samtstoff meines Kleides in den Händen und starrte zornig zu Boden.

Nun passierten so viele Dinge so schnell hintereinander, dass ich ihnen fast nicht folgen konnte.

Der junge Mann lachte leise, und der höhnische Ton machte mich noch wütender.

In meine Augen kehrte das wilde Brennen zurück, zwei goldene Blitze schossen daraus hervor, ein ohrenbetäubendes Krachen hallte in meinen Ohren und ich wurde ruckartig zurückgeschleudert. Mein Kopf schlug hart auf den Boden auf, durch meine Schultern ging ein Ruck und ein leiser Schrei entfuhr mir. Stöhnend richtete ich mich auf, musste husten von der Rauchwand, die sich langsam von der Stelle entfernte, an der ich bis vor einem Augenblick noch gestanden hatte. Dahinter erkannte ich, wie Tatjana, Mr Honk, Elvon und der Jüngere händewedelnd versuchten, aus dem Aschegrau aufzutauchen.

Ich torkelte ein paar Schritte, bevor ich sicher stand und den Boden entsetzt betrachtete. Einen halben Meter vor mir, wo die goldenen Blitze eingeschlagen waren, zog sich ein breiter Riss durch den Marmorboden, aus dem feiner Rauch emporstieg. War das etwa ich gewesen? Mit meinen Augen?

»Verzeihung«, brachte ich stockend hervor. »Das war keine Absicht.«

Rechtfertigte ich mich tatsächlich für das Zerspalten eines Marmorbodens?

»Es tut uns leid, dass wir dich … aufgeregt haben« Mr Honk lächelte leicht. »Könntest du dennoch versuchen, unsere Halle der Erkenntnis nicht noch weiter zu zerstören?«

»So eine starke Kraft und nur ein großer Ausraster?«, hörte ich Elvon murmeln und seine Worte jagten mir einen eisigen Schauer über den Rücken.

»Du sagtest, du hast mit deiner Familie und eurer Dienerschaft zusammengelebt«, führte Tatjana ihre Befragung fort. »Hattest du häufig Kontakt zu anderen Leuten?«

»Ich … ja, aber ich war nie sonderlich willkommen bei Fremden«, gab ich zu. »Meine Andersartigkeit war schon immer abstoßend. Besucher kommen natürlich trotzdem zu uns. Ich versuche, ihnen aus dem Weg zu gehen, auf meinem Zimmer zu bleiben. Besuchen wir jemanden, genieße ich lieber das Alleinsein im Garten oder, falls möglich, die Abgeschiedenheit in der Kutsche. Das … ist mir lieber als die geheuchelte Freundlichkeit der Leute, die damit ihre Abscheu verbergen wollen.«

Tatjana warf Elvon einen Blick zu, als wäre in meiner Erzählung die Antwort auf seine vorige Frage zu finden. Sie richtete ihre klugen grauen Augen abermals auf mich. »Wie war dein Verhältnis zu den Menschen auf dem Anwesen? Standen sie dir nahe? Nicht nur deine Familie, auch die Bediensteten?«

Ich wusste nicht, welchem Zweck ihre Frage diente, antwortete aber weiterhin bereitwillig.

»Mit meinen älteren Schwestern verstehe ich mich vorzüglich. Vor allem …«, meine Kehle wurde trocken und ich musste schlucken. »Vor allem mit der jüngeren der beiden. Sie stand mir sehr nahe. Meine Eltern liebe ich ebenso. Mein Vater ist am besten für lange Unterhaltungen zu haben, ich habe viel von ihm gelernt. Meine Mutter … ich fürchte, ich bin ihr etwas unheimlich, deshalb vermeide ich es, mit ihr länger allein zu sein. Doch obwohl sie mich anders sieht, hat sie ein gutes Herz und ich weiß das auch.« Wieder musste ich schlucken, und diesmal dauerte es einen Augenblick, bis ich weitersprechen konnte.

»Meine Zofe ist noch neu bei uns, allerdings nehme ich nicht an, dass sie länger bleibt als die anderen. Sie haben sich bisher alle vor mir gefürchtet. Aber mit meiner Lehrerin Miss Lessing verstehe ich mich blendend. Bei unserer übrigen Dienerschaft … nun ich kenne nur unseren neuen Koch Monloe. Er ist ein leidenschaftlicher Märchenerzähler. Ach, und dann ist da noch Stefan, unser Kutscher, mit dem ich mich unterhalte, wenn wir zu einem auswärtigen Besuch mit ihm aufbrechen. Er ist allerdings recht schüchtern. Alle anderen kenne ich höchstens vom Sehen. Sie sind eben Bedienstete. Das kennt Ihr doch gewiss.«

Als ich Tatjanas Gesichtsausdruck bemerkte, war ich mir da nicht mehr so sicher. Sie wirkte eigentlich nicht wie jemand, der mit einer Dienerschaft zusammenlebte.

»Oder auch nicht«, ergänzte ich deshalb schnell und führte erklärend hinzu: »Ich meine, sie bewegen sich hauptsächlich in den Dienstbotengängen und sind eigentlich wie Geister. Man bemerkt sie gar nicht und sieht nur das Resultat ihrer verrichteten Dienste. Das gemachte Bett, der gefegte Hof …«

»Dann verstehst du dich mit allen Leuten, mit denen du am häufigsten zu tun hast, gut?«, vergewisserte sich die Frau.

Ich nickte.

»Und wer war die Person, die du versehentlich umgebracht hast?«

Ich zuckte zusammen. Einen Moment überlegte ich, auf die Frage, von der ich gehofft hatte, sie würde sie nicht stellen, keine Antwort zu geben. Doch ich riss mich zusammen. »Wie gesagt, es war … es war ein Unfall! So wie der Riss im Marmorboden. Ich wollte das alles nicht, ich hatte keine Ahnung, was ich da tat …«, brach es aus mir heraus, und während ich mich zwang, weiterzusprechen, schaute ich auf meine Schuhspitzen, als würden dort plötzlich interessante, kleine rote Blumen wachsen. »Die Person … war meine … meine Schwester.« Ich stockte. »Evie. Sie war immer für mich da. Und ich? Ich habe sie getötet!«, stieß ich voller Selbsthass hervor.

Tatjana zögerte kurz, bevor sie den Meter, der uns trennte, mit zwei schnellen Schritten überbrückte und mich tröstend in den Arm nahm. Ich schluchzte auf und lehnte mich erschöpft gegen ihre Schulter.

»Das war aber nicht deine Schuld«, murmelte sie beruhigend, während ihre warme Hand über meinen Rücken strich. Schließlich nahm sie ihren Arm weg und brachte wieder Abstand zwischen uns, um mich weiter zu befragen.

»Was ist danach passiert? Wie haben deine Eltern ihren Tod aufgenommen? Übrigens kannst du gern du zu mir sagen.«

Ich räusperte mich, um den weinerlichen Klang aus meiner Stimme zu vertreiben und ihr normal antworten zu können. »Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Das Ganze … ist erst gerade passiert, bevor ich … gestorben bin?«

Tatjana verschränkte grüblerisch die Arme vor der Brust. »Wie wäre es damit, Lucy? Bevor du uns mit deinen Antworten nur noch weitere Fragen in den Kopf scheuchst, erzählst du uns die ganze Geschichte. Von deiner Schwester, dem Licht aus deinen Augen, dem … Monster und, wie du glaubst, hierhergekommen zu sein. Und für dich zum Verständnis: Du bist nicht gestorben!«

Ich wusste nicht, ob ich über ihre Mitteilung erleichtert sein sollte oder nicht. Also beschloss ich, die Entscheidung auf später zu verschieben, holte tief Luft und begann mit einer detailreichen Schilderung des vergangenen Abends. Dabei verschränkte ich die Finger ineinander, was ich immer tat, wenn ich mich zu konzentrieren versuchte.

Ich erzählte ihnen von den Besuchern, die zu unserem Fest gekommen waren und unter denen sich der Earl befunden hatte, gekleidet in seinen langen Mantel, der so gar nicht zu den sommerlichen Temperaturen gepasst hatte. Ich verschwieg auch nicht die Schmerzen, das Brennen meiner Augen und wie Evie mir hatte helfen wollen, bevor ich erstarrt war und der Strahl aus meinen Augen in sie eingedrungen war. Wie ich sie dann auf den Gang geschleppt hatte und dort dem schwarzäugigen Mann begegnet war. Auch von seiner unheimlichen Verwandlung berichtete ich, und dass ich Evie hatte zurücklassen müssen, um vor dem Monster zu fliehen.

Als ich die Goldblitze erwähnte, sah ich wie Tatjana Mr Honk zunickte. Doch bei der Schilderung, wie die Blitze von den Spiegeln abgeprallt waren und einer schließlich das Monster getroffen hatte, das daraufhin zu Staub zerfallen war, fühlte ich erneut ihre Blicke auf mir. Ich endete mit dem Strahl, der mir in die Augen geschossen war und wie ich geglaubt hatte, innerlich zerrissen zu werden und mit blutenden Augen zu sterben. Als ich endlich fertig war, herrschte einen Augenblick lang Stille.

»Und … bei deinem Ausbruch, was für Gefühle hattest du da?«, unterbrach schließlich Tatjana das Schweigen mit einer weiteren seltsamen Frage.

»Ähm … ich glaube, dass ich vor allem Angst und Panik hatte, wegen des Monsters. Ich war verzweifelt wegen Evie und ziemlich verwirrt, weil aus meinen Augen dieses Leuchten und die goldenen Blitze kamen.«

Mr Honk ergriff das Wort. »Und vor diesem einen Mal, genauer gesagt, vor heute, hast du noch nie das Leuchten aus deinen Augen schießen sehen? Noch nie ein schmerzhaftes Brennen verspürt?«

Ich schüttelte den Kopf. »Dürfte ich nun ebenfalls Fragen stellen?« Ich wartete ihre Antwort gar nicht erst ab. »Wo bin ich, wenn ich nicht tot bin? Und wer seid Ihr und was wollt Ihr von mir? Und … verzeiht bitte, wenn es unhöflich klingt, warum tragt Ihr eine Hose, Mylady?«

Tatjana sah an sich herab und, als sie dann wieder aufblickte, lächelte sie mich an. »Lucy, sicherlich hast du bemerkt, dass das alles sehr kompliziert ist. Wir vier, dieser Raum und der Grund, warum du den Boden aufgespalten hast, das ist alles erst der Anfang. Wie du gerade sicherlich zu verstehen beginnst, gibt es zwischen Himmel und Erde mehr, als du geahnt hast. Wir werden versuchen, dir nach und nach alles zu erklären und dir helfen, dich bei uns einzugewöhnen. Du bist zwar nicht tot, aber das Leben, das du bisher geführt hast, kannst du nicht mehr so weiterleben. Du wirst in den Inneren Schleifen bleiben müssen.«

»Innere Schleifen?« Geschockt starrte ich sie an. Ich verstand zwar nicht alles, was sie sagte, aber eines begriff ich: Ich würde nie wieder nach Hause zurückkehren.

»Die Inneren Schleifen sind Zeitschleifen.« Tatjana lächelte mich mitleidig an. »Sie existieren neben und zwischen der Welt, aus der du stammst. Es ist unsere Heimat und nun auch deine, Lucy, denn du bist eine von uns. Du bist eine Augenschöne. Eine junge Göttin.«


Wer herausfordert die Zeit,

der führt einen verlorenen Kampf.


(Silvana Gustani, Augenschöne, zu Lebzeiten eine Nele)

Augenschön Das Ende der Zeit (Band 1)

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