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7. Die Wolga stromab

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Kurz vor zwölf Uhr zog die Dampferglocke eine grosse Menschenmenge an die Dampfschiffanlegestelle der Wolga; denn sowohl solche, die abreisten, als auch solche, die gern abgereist wären, hatten sich dort eingefunden. Die Kessel des „Kaukasus“ waren schon voll geheizt; aus seinem Schornstein drang bloss leichter Rauch, während die Spitze des Ablassrohrs und die Ventilklappe sich mit weissem Dunst krönten. Dass die Polizei die Abfahrt des „Kaukasus“ überwachte und sich gegen alle solche Reisenden unerbittlich zeigte, die sich ausserstande fanden, den vorgeschriebenen Bedingungen zu genügen, versteht sich von selber. Zahlreiche Kosaken schritten auf dem Kai auf und ab, in steter Bereitschaft, den Polizisten mit kräftigem Arm beizuspringen, aber sie fanden hierzu nicht den geringsten Anlass, sondern alles vollzog sich ohne Widerstand. Zur vorgeschriebenen Stunde erscholl der letzte Glockenschlag, die Taue wurden losgemacht, die mächtigen Räder des Dampfschiffs schlugen mit ihren senkrecht gegliederten Schaufeln das Wasser, und der „Kaukasus“ flog zwischen den beiden Städten einher, aus denen Nischni-Nowgorod sich zusammensetzt.

Michael Strogoff und die junge Livländerin hatten sich an Bord des „Kaukasus“ begeben. Ohne alle Behinderung hatten sie das Schiff betreten dürfen. Der Leser weiss, dass der auf den Namen Nikolaus Korpanoff ausgestellte Ausweis „dem Handelsmann“ Michael Strogoff die Berechtigung gab, sich auf seiner Reise nach Sibirien Begleitung zu nehmen. Demnach reiste unter den Schutz der kaiserlichen Polizei jetzt ein Geschwisterpaar. Sie hatetn Platz genommen auf dem Hinterschiff und sahen die Stadt an ihren Blicken vorübergleiten, die durch den Erlass des Gouverneurs in so tiefe Wirrnis gestürzt worden war. Michael Strogoff hatte dem jungen Mädchen nichts gesagt, und er hatte sie nicht gefragt. Er wartete, dass sie sprechen möge, wenn es ihr zu sprechen belieben würde. Sie konnte es nicht erwarten, diese Stadt hinter sich zu bekommen, in der sie ohne die ihr von der Vorsehung gesandte Hilfe solches unvermuteten Beschützers gefangen gewesen wäre. Sie sagte nichts, aber aus ihrem Auge sprach ein Dank, kaum weniger deutlich, als ihr Mund ihn hätte aussprechen können.

Die Wolga, bei den Völkern des Altertums Rha oder Oaros, wird als der bedeutendste Fluss von ganz Europa angesehen. Ihr Lauf beträgt nicht weniger als 4000 Werst. Ihre im unteren Laufe ziemlich ungesunden Gewässer werden durch diejenigen der Oka verändert, eines schnell fliessender Stromes, der sich aus den mittleren Provinzen Russlands ergiesst. Man hat die Gesamtheit der russischen Kanäle und Flüsse mit einem Riesenbaum verglichen, dessen Zweige sich über sämtliche Teile des Russenlandes verästeln. Die Wolga bildet den Stamm dieses Baumes und zu Wurzeln hat er 70 Mündungen, die sich über das Gestade des Kaspischen Meeres erstrecken. Sie ist schiffbar von Rjef ab, einer Stadt des Gouvernements Twer, nämlich auf dem grössten Teil ihres Laufes. Die Schiffe der Transportgesellschaft zwischen Perm und Nischni-Nowgorod legten die 350 Werst (373 Kilometer), die letztere Stadt von der Stadt Kasan scheiden, ziemlich schnell zurück. Diese Dampfboote brauchten ja allerdings bloss die Wolga hinunterzufahren, die ja der eigenen Geschwindigkeit der Schiffe etwa zwei Strommeilen beigesellt. Aber wenn sie, kurz unterhalb von Kasan, an den Zusammenfluss der Wolga mit der Kama gelangten, waren sie genötigt, den Strom zu verlassen und den Fluss weiterzufahren, dessen Lauf sie nunmehr bis Perm folgten. Alles in Rechnung gezogen, liess sich also, trotzdem seine Maschine Gewaltiges leistete, vom „Kaukasus“ eine stärkere Leistung als über 16 Werst in der Stunde nicht erreichen. Eine Stunde Aufenthalt in Kasan einbezogen; stand also zu erwarten, dass die Reise etwa 60 bis 62 Stunden dauern würde. Im übrigen war dieses Dampfschiff vorzüglich eingerichtet, und je nach ihrer Stellung oder ihren Geldverhältnissen nahmen die Fahrgäste dort drei verschiedene Klassen ein. Michael Strogoff hatte dafür Sorge getragen, zwei Kabinen erster Klasse mit Beschlag zu belegen, so dass seine, junge Gefährtin in der Lage war, sich in ihre eigene Kabine zurückzuziehen und abzuschliessen, sobald es ihr angemessen erscheinen sollte.

Der „Kaukasus“ war dicht besetzt mit Fahrgästen aller Gattungen. Eine gewisse Zahl von asiatischen Marktleuten hatte es für richtig erachtet, auf der Stelle Nischni-Nowgorod den Rücken zu wenden. In dem für die erste Klasse belegten Teil des Dampfschiffs sah man Armenier in langen Roben, mit einer Art Mitra als Kopfbedeckung; Juden, kenntlich an ihren kegelförmigen Mützen; reiche Chinesen in ihrem traditionellen Gewande: grosses langes Kleid von blaner, violetter aber schwarzer Farbe, vorn und hinten offen, und darüber ein zweites weitärmeliges Kleid, dessen Schnitt an den von Popen getragenen Amtsrock erinnerte; Türken, die noch den nationalen Turban trugen; Hindus mit viereckiger Mütze, statt Gürtel eine blosse Schnur um den Leib tragend, von denen manche, bekannter unter dem Namen Shikarpuri, den ganzen Handel Zentralasiens in ihren Händen hatten; endlich Tataren, die mit buntfarbigen Schnüren besetzte Stiefel und die Brust mit gestickten Lätzen geschmückt trugen. All diese Handelsleute hatten ihr zahlreiches Gepäck im Schiffsraum und auf dem Verdeck verstauen müssen, dessen Beförderung ihnen schweres Geld kosten musste, denn sie hatten nach den Schiffsvorschriften bloss Anrecht auf ein Frachtgewicht von zehn Kilogramm für die Person. Im Vorderschiff des „Kaukasus“ waren die Fahrgäste in zahlreicherer Menge gruppiert, nicht bloss Fremde, sondern auch Russen, denen der Erlass nicht verbot, die Provinzstädte wieder aufzusuchen. Es waren Muschiks darunter, mit weichen sowohl als steifen Mützen, die unter ihrem weiten Pelzrock ein kleinkarriertes Hemd trugen, und Wolgabauern, deren blaue Hosen in hohen Stiefeln staken, die das rosa Kattunhemd mit einem Strick schnürten und eine flache steife Mütze oder eine weiche Filzmütze aufhatten, auch einige Frauen in Hemden aus geblümtem Kattun, die hellfarbige Schürzen und um den Kopf ein rotgemustertes Taschentuch trugen. Es waren vorwiegend Fahrgäste dritter Klasse, die zum grossen Glück nicht mit der Aussicht auf eine lange Rückreise zu rechnen hatten. Im grossen und ganzen war dieser Teil des Verdecks von Menschen stark überfüllt. Darum wagten sich die Hinterschiffsfahrgäste nicht so leicht unter diese stark gemischten Gruppen, denen ihr Platz auf dem Radkastenvordergehäuse vorgezeichnet war.

Mittlerweile fuhr der „Kaukasus“ mit aller Geschwindigkeit seiner Schaufeln zwischen den Wolgaufern hin, an zahlreichen Kähnen vorbei, die mit Schleppdampfern stromauf führen und allerhand Waren nach Nischni-Nowgorod schafften. Dann glitten zahlreiche Flösse vorüber von gewaltiger Länge, und dazwischen Frachtschiffe mit solcher Last, dass sie tief bis zum Dollbord im Wasser gingen — eine zur Zeit überflüssige Fahrt, da die Messe schon zu ihrem Beginn so jäh abgebrochen worden war. Die vom Kielwasser des Dampfschiffes bespritzten Wolgaufer waren von Entenschwärmen besetzt, die unter betäubendem Beschrei aufflogen. Ein kurzes Stück hinter ihnen, auf den dürren, mit Erlen, Weiden, Espen gesäumten Ebenen, weideten ein paar tiefrote Kühe, Hammelherden mit braunem Fell, zahlreiche Schweine- und Ferkelherden von bald weisser, bald schwarzer Färbung. Ein paar mager mit Buchweizen und Roggen bestandene Felder erstreckten sich bis zur Rückseite halb angebauter Hügel, die aber, alles in allem, keinerlei bemerkenswerten Blick eröffneten. In diesen eintönigen Landschaften hätte kein Zeichner, der auf der Suche nach malerischen Gegenden war, für seinen Zeichenstift ein schickliches Vorbild finden können.

Zwei Stunden nach Abfahrt des „Kaukasus“ richtete die junge Livländerin an Michael Strogoff das Wort. „Du fährst nach Irkutsk, Bruder?“

„Jawohl, Schwester,“ antwortete der junge Mann; „wir fahren beide die gleiche Strecke. Demnach wirst du überall hinkommen, wo ich hinkommen werde.“

„Morgen, Bruder, wirst du erfahren, warum ich die Ufer des Baltischen Meeres verlassen und mich über das Uralgebirge hinausbegeben habe.“

„Ich frage dich nichts, Schwester.“

„Du sollst alles wissen,“ erwiderte das junge Mädchen, auf dessen Lippen ein trauriges Lächeln spielte. „Eine Schwester soll ihrem Bruder nichts verborgen halten. Aber heute wäre ich nicht dazu imstande — die Anstrengung, die Verzweiflung haben mich schwer angegriffen.“

„Willst du in deiner Kabine ausruhen?“ fragte Michael Strogoff.

„Ja — ja — und morgen . . .“

„So komm . . .“ Er zögerte mit der Beendigung seines Satzes, als ob er ihn durch den Namen seiner Reisegefährtin hätte ergänzen wollen, den er noch nicht wusste.

„Nadia,“ sagte sie, ihm die Hand reichend.

„Komm, Nadia,“ antwortete Michael Strogoff, „und gebiete ohne Umstände über deinen Bruder Nikolaus Korpanoff.“ Mit diesen Worten führte er das junge Mädchen in die Kabine, die für sie beim Hinterdeckssaal belegt worden war.

Michael Strogoff kehrte auf das Verdeck zurück und mischte sich hier, begierig nach Neuigkeiten, die vielleicht seinen Reiseplan ändern konnten, unter die Gruppen der Fahrgäste, denen er zuhörte, ohne sich aber an den Gesprächen zu beteiligen. Sollte der Zufall es fügen, dass er gefragt würde, und ihn in die Notwendigkeit zu antworten setzen, so würde er sich zudem als den Handelsmann Nikolaus Korpanoff ausgeben, der mit dem „Kaukasus“ an die Grenze zurückführe, denn er wollte nicht den Argwohn aufkommen lassen, dass ihn ein besonderer Auftrag zur Reise nach Sibirien anwies.

Die Fremden, die das Dampfschiff beförderte, konnten wohl kaum über etwas anderes als über die Tagesvorkommnisse, über den Erlass uns über die von ihm gezeitigten Folgen sprechen. Diese armen Leute, die sich kaum von den Anstrengungen einer Reise quer durch Mittelasien erholt hatten, sahen sich zur Rückkehr gezwungen, und wenn sie ihrem Zorn und ihrer Verzweiflung nicht laut Ausdruck gaben, so war der Grund einzig und allein darin zu suchen, dass sie es sich nicht getrauten. Furcht, mit Respekt gemischt, hielt sie ab. Es war ja nicht ausgeschlossen, dass sich Polizeikommissare, mit dem Befehl, die Fahrgäste zu beobachten, insgeheim an Bord des „Kaukasus“ eingeschifft hatten, und besser war es deshalb den Mund zu halten, denn schliesslich war die Landesverweisung der Einsperrung in einer Festung noch immer vorzuziehen. Darum verhielt man sich unter diesen Gruppen entweder mucksstil oder tauschte, was man sich mitteilen wollte, mit solcher Vorsicht aus, dass es kaum möglich war, irgendwelchen nützlichen Fingerzeig, zu bekommen. Wenn aber Michael Strogoff von dieser Seite her keine Aussicht hatte, etwas in Erfahrung zu bringen, wenn sogar mehr denn einmal bei der geringsten Annäherung von ihm begreiflicherweise die Unterhaltung abgebrochen wurde — denn man kannte ihn ja gar nicht — so traf statt dessen seine Ohren bald der klang zweier Stimmen, die sich wenig darum zu kümmern schienen, ob sie gehört wurden oder nicht.

Der eine Mann, mit der heiteren Stimme, sprach russisch, aber mit fremdem Akzent, und der andere, mit dem er sich unterhielt, der aber zurückhaltender war, antwortete ihm in gleicher Sprache, die ihm aber auch nicht angeboren war.

„Wie kommen denn Sie hierher“, sagte der erstere, „auf dieses Schiff, lieber Kollege? Ich habe Sie doch auf dem kaiserlichen Fest zu Moskau und jüngst wieder in Nischni-Nowgorod gesehen.“

„In eigenster Person,“ antwortete der andere in ziemlich trockenem Ton.

„Nun, offen gesagt, dass Sie mir unmittelbar, gewissermassen stehenden Fusses folgen würden, dessen habe ich mich nicht versehen.“

„Ich folge Ihnen doch gar nicht, mein Herr, sondern eile Ihnen voraus!“

„Eilen mir voraus — mir voraus? Sagen wir, wir marschieren in gleicher Front, im gleichen Tempo, wie zwei Soldaten der Parade. Einigen wir uns also dahin, dass wenigstens vorläufig, wenn Sie wollen, keiner den anderen überholen soll.“

„Im Gegenteil! Ich will Sie überholen — und werde Sie überholen!“

„Das werden wir ja sehen, wenn wir auf dem Kriegsschauplatz sein werden. Aber bis dahin — Teufel auch — lassen Sie uns Reisegefährten sein. Später werden wir Zeit genug finden, einander als Nebenbuhler gegenüberzutreten.“

„Als Nebenbuhler? Als — Feinde!“

„Meinetwegen als Feinde. Sie lieben in Ihrer Rede eine Schärfe, teurer Kollege, die mir äusserst angenehm ist. Bei Ihnen weiss man wenigstens, woran man sich zu halten hat.“

„Wem schadet’s?“

„Niemand, meines Ermessens. Deshalb möchte ich eigentlich um Erlaubnis bitten, unsere beiderseitige Lage klarzustellen.“

„Tun Sie’s!“

„Sie reisen, wie ich, nach — Perm?“

„Wie Sie, nach — Perm.“

„Und werden sich wahrscheinlich von Perm nach Jekaterinburg begeben, da dies die beste und sicherste Strecke ist, durch das Uralgebirge zu kommen?“

„Wahrscheinlich.“

„Haben wir die Grenze hinter uns, werden wir uns in Sibirien, nämlich mitten im Aufruhr befinden.“

„Allerdings.“

„Nun, dann — aber auch erst dann — wird der Augenblick gekommen sein zu der Phrase: Jeder für sich und Gott für —“

„Mich!“

„Gott für Sie, für Sie allein? Sehr gut! Aber da wir acht neutrale Tage vor uns haben, und da es doch ganz gewiss nicht Neuigkeiten regnen wird, so lassen Sie uns Freunde sein bis zu dem Augenblick, da wir wieder Nebenbuhler werden.“

„Nebenbuhler? Feinde!“

„Jawohl, ganz richtig, Feinde. Aber bis dahin wollen wir einmütig handeln und einander nicht auffressen. Ich verspreche Ihnen übrigens, alles für mich zu behalten, was sich meinen Blicken zeigen sollte . . .“

„Ich alles, was sich meinen Ohren bieten sollte . . .“

„Abgemacht?“

„Abgemacht!“

„Ihre Hand darauf?“

„Meine Hand darauf!“

Die Hand des ersten, der die drei Worte sprach, nämlich fünf weitgespreizte Finger, schüttelte kräftig die beiden Finger, die der andere, der die drei Worte bestätigte, ihm phlegmatisch reichte.

„Apropos,“ sprach der erste wieder, „heute morgen habe ich meiner Cousine den genauen Text des Erlasses von 10 Uhr 17 Minuten ab drahten können.“

„Und ich habe ihn dem Daily-Telegraph ab 10 Uhr 13 Minuten gedrahtet.“

„Bravo, Herr Blount!“

„Zu gütig, Monsieur Jolivet!“

„Revanche vorbehalten!“

„Wird Ihnen nicht leicht fallen.“

„Soll aber versucht werden!“

Mit diesen Worten grüsste der französische Berichterstatter den englischen verbindlichst, der sich verneigte und ihm mit echt britischer Steifheit den Gruss erwiderte. Diese beiden „Nachrichtenjäger“ wurden durch den Erlass des Gouverneurs nicht betroffen, da sie weder Russen noch Ausländer asiatischer Herkunst waren, sie waren deshalb weitergereist, und wenn sie Nischni-Nowgorod zusammen verlassen hatten, so war der Grund hierfür in dem nämlichen Instinkt zu suchen, der sie vorwärtstrieb. Demnach war es natürlich, dass sie das nämliche Beförderungsmittel gewählt hatten und die nämliche Strasse bis zu den sibirischen Steppen verfolgten. Als Reisegefährten hatten sie, „bevor die Jagd eröffnet wurde“, acht volle Tage vor sich. Gleichgültig war hierbei, ob sie als Reisegefährten einander freund oder feind Waren. Waren die acht Tage herum, dann hiess es: Wer zuerst kommt, mahlt zuerst! Alcide Jolivet hatte das erste Entgegenkommen bewiesen und so fühl es auch war, so hatte es Harry Blount doch eben angenommen. Kurz und gut, als es an diesem Tage zum Essen ging, sassen der Franzose, nach wie vor offen, ja sogar ein wenig schwatzhaft, und der Engländer, nach wie vor zugeknöpft, nach wie vor steif, an der gleichen Tafel, einen „echten“ Cliquot vor sich, zu sechs Rubel die Flasche, der freilich nur aus den frischen Saft der nachbarlichen Birken gewonnen war.

Michael Strogoff hatte, als er aus Alcide Jovilets und Harry Blounts Munde dieses Zwiegespräch vernahm, bei sich gesagt: „Sieh da! Ein paar neugierige und zugleich indiskrete Herren, die ich wahrscheinlich auf meiner Reise öfter treffen werde. Sie sich vom Leibe zu halten, scheint mir ein Gebot der Klugheit zu sein.“

Die junge Livländerin kam nicht zum Essen. Sie ruhte noch in ihrer Kabine, und Michael Strogoff mochte sie nicht wecken. Es wurde also Abend, ehe sie sich auf dem Verdeck des „Kaukasus“ wieder hatte sehen lassen.

Die lange Dämmerzeit führte nur der Atmosphäre eine Frische zu, die die Fahrgäste nach der erdrückenden Tageshitze gierig einsogen. Sogar bei vorgerückter Nachtstunde dachten die meisten noch gar nicht daran, die Säle oder die Kabinen wieder aufzusuchen. Auf die Bänke ausgestreckt, schluckten sie mit Behagen die Brise ein, die durch die Geschwindigkeit des Dampfers entwickelt wurde. Um diese Jahreszeit herum und unter dieser Breite stand eine erhebliche Verfinsterung des Himmels zwischen Abend und Morgen kaum zu erwarten, und dem Steuermann machte es dieser Umstand sehr leicht, sich mitten durch die zahlreichen Fahrzeuge, die die Wolga stromauf und stromab fuhren, hindurch zu bugsieren. Zwischen elf und 12 Uhr nachts trat aber Neumond ein, und nun wurde es doch fast Nacht. Fast alle Deckfahrgäste schliefen nun, und die Stille wurde nur noch durch das Geräusch, das die Schaufeln mit ihrem regelmässigen Schlagen des Wassers verursachten, gestört.

Etwas wie Unruhe hielt Michael Strogoff munter. Er ging noch immer auf und ab, aber nach wie vor auf dem Hinterdeck des Dampfers. Einmal indessen geschah es ihm, dass er über das Maschinenhaus hinaustrat und sich unvermuteterweise auf dem Deckteil befand, der für die Fahrgäste zweiter und dritter Klasse vorbehalten war. Dort wurde nicht bloss auf Bänken geschlafen, sondern auch auf den Ballen und Kollis, ja sogar auf den Deckplanken. Bloss die Matrosen, die die Wache hatten, standen auf dem Vorderkastell. Zwei Lichter, ein grünes und ein rotes, die von der Steuer- und Backborbseite ausgingen, warfen einige schräge Strahlen auf die Seitenwände des Dampfers. Es gehörte eine gewisse Aufmerksamkeit dazu, um die hier und dort, wie es ihnen gerade einfiel, auf dem Boden ausgestreckt liegenden Schläfer nicht mit dem Fuss zu stossen. Zumeist waren es Muschiks, die daran gewöhnt sind, auf hartem Lager zu schlafen, und denen die Planken eines Schiffsdecks gut genug zu solchem Zweck vorkommen mochten. Nichtsdestoweniger würden sie es höchstwahrscheinlich dem Tölpel, der sie mit Stiefeltritten hätte wecken wollen, böse heimgezahlt haben. Michael Strogoff gab also Obacht, dass er niemand stiess. Ans Schiffsende durch diesen Spaziergang gelangt, wusste er, da ihn nicht nach Schlaf verlangte, nichts Besseres zu tun, als seinen Rundgang noch weiter auszudenen. Da er sich nun gerade auf dem vorderen Verdeckteil befand, war er schon mit dem Fuss auf die Vorderkastelltreppe getreten, als er dicht neben sich sprechen hörte. Er blieb stehen. Die Stimmen schienen ihm aus einer Gruppe Fahrgäste zu dringen, die in Schals und Decken gehült lagen und die sich im Schatten unmöglich erkennen liessen. Aber zuweilen, wenn der Schornstein des Dampfers sich inmitten von Rauchschlangen mit rötlichen Flammen umhüllte, schien es doch, als drängten Funken durch die Gruppe hin, ganz als ob plötzlich Tausende von Blättchen oder Flittern unter einem leuchtenden Strahl in Brand gerieten.

Michael Strogoff wollte eben den Fuss auf die nächste Treppenstufe setzen, als er gewisse Worte deutlicher hörte, und zwar in jener wunderlichen Sprache, die schon während der Nacht auf dem Messeplatz an sein Ohr gedrungen war. Unwillkürlich kam ihm der Gedanke, zu horchen. Durch den Schatten des Vorderkastells geschützt, konnte er nicht gesehen werden. Die in Unterhaltung begriffenen Fahrgäste zu sehen, war aber auch ihm unmöglich; er musste sich also darauf beschränken, dem Gespräch zu lauschen, das hier geführt wurde. Die ersten Worte, die gewechselt wurden, waren von keinerlei Bedeutung — wenigstens nicht für ihn — aber sie liessen ihn genau erkennen, dass es die beiden Stimmen, eine Frauen- und eine Männerstimme, waren, die er in Nischni-Nowgorod gehört hatte. Infolgedesser verdoppelte Michael Strogoff seine Aufmerksamkeit. Es war ja wirklich nicht unmöglich, dass diese Tsiganen, von deren Gespräch er ein Stück erlauscht hatte, und die jetzt mit ihren. Gefährten aus Nischni-Nowgorod ausgewiesen worden waren, sich an Bord des „Kaukasus“ befanden — und gut für ihn war es, dass er lauschte, denn was er ziemlich deutlich in tatarischer Mundart hörte, das waren die beiden Sätze:

„Es heisst, ein Kurier sei von Moskau unterwegs nach Irkutsk.“

„So heisst es, Sangarre. Aber entweder wird er zu spät antikommen, dieser Kurier, oder gar nicht ankommen!“

Michael Strogoff zitterte unwillkürlich, als diese ihn so unmittelbar berührende Erwiderung an sein Ohr schlug. Er versuchte zu erkennen, ob der Mann und das Weib auch wirklich diejenigen seien, auf die er Verdacht hatte, aber der Schatten, der sie deckte, war gerade zu dicht, und es war ihm nicht möglich.

Ein paar Augenblicke später hatte Michael Strogoff, ohne dass er bemerkt worden war, wieder das Hinterdeck des Dampfers gewonnen, und den Kopf in die Hände stützend, setzte er sich abseits — man hätte meinen können, er schliefe. Er schlief nicht und dachte nicht an Schlaf. Worüber er sann, und zwar nicht ohne ziemlich lebhafte Befürchtung, war folgendes: „Wer weiss etwas von meiner Abreise? Und wem bloss ist daran gelegen, darüber etwas zu wissen?“

Der Kurier des Zaren

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