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1. Ein Fest im Neuen Palais

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„Sire, ein neues Telegramm!“

„Woher?“

„Aus Tomsk.“

„Jenseits dieser Stadt sind die Drähte zerschnitten?“

„Seit gestern, jawohl.“

„Telegraphieren Sie alle Stunden nach Tomsk, General, ich wünsche, auf dem laufenden zu bleiben.“

„Zu Befehl, Sire,“ antwortete General Kissoff.

Diese Worte wurden um zwei Uhr morgens gewechselt, eben als das Fest im Neuen Palais auf den Höhepunkt seines Glanzes gelangt war. Während des Essens hatten ununterbrochen die Regimenter Preobraschensky und Pawlowsky gespielt: Polkas, Masurkas, schottische Tänze — ihre besten Musikstücke. Unzählbar schienen die Tänzer und Tänzerinnen, wie sie dahinschwebten durch die prunkvollen Säle dieses Palastes, der nur wenige Schritte entfernt lag vom alten Steinbau, wo dereinst so viele Schreckensdramen sich abgespielt hatten, deren Echo in dieser Nacht aus den Motiven von Quadrillen herauszutönen schien.

Der Oberhofmeister fand übrigens in seinen heiklen Obliegenheiten treffliche Unterstützung. Die Grossfürsten und ihre Adjutanten, die Kammerherren vom Dienst, die Schlossoffiziere leiteten selbst die Anordnung der Tänze. Die Grossfürstinnen, mit Diamanten übersät, und die Hofdamen, in Galakleidern, gingen den Frauen der hohen Militär- und Zivilbeamten aus der alten „Stadt der weissen Steine“ mit gutem Beispiel voran. Als daher das Zeichen zur Polonaise ertönte, als die Hofgäste jedes Ranges an diesem rhythmischen Rundgang teilnahmen, der bei derartigen Feierlichkeiten die hohe Bedeutung eines Nationtltanzes hat — da bot das Durcheinander der langen Spitzenroben und der mit Orden geschmückten Uniformen unter dem Licht von hundert Kronleuchtern, das die rückstrahlenden Spiegel noch vervielfältigten, ein unbeschreibliches Bild, eine blendende Augenweide. Es war ein Meer von Glanz und Prunk. Der grosse Saal, der schönste von allen, die das Neue Palais besass, war für diesen Aufzug von prunkvoll herausgeputzten Herren und Damen ein seines Glanzes würdiger Rahmen. Die reiche Deckenwölbung mit den schweren Vergoldungen, die schon etwas blind waren vom Rost der Zeit, erschien mit ihren einzelnen leuchtenden Flecken wie gestirnt. Die Brokatstoffe der Vorhänge und Portieren, die in stolzen Falten herniederfielen, waren von tiefem Purpur, der nur da, wo der schwere Stoff zu Ecken sich knickte, leuchtender erstrahlte. Die hohen, grossen Bogenfenster trübten nur wenig das Licht, das die Säle durchflutete, und es drang nach aussen wie der Widerschein einer Feuersbrunst, grell die Nacht durchstrahlend, die schon seit Stunden diesen flimmernden Palast finster umhüllte. Dieser Kontrast fiel auch wirklich denjenigen der Gäste auf, die nicht bloss für das Tanzen schwärmten. Wenn sie dann und wann an den Fensterkreuzen stehenblieben, konnten sie hier und dort im Dunkel der Nacht die Schattenrisse von Türmen sehen. Unter den mit Bildhauerarbeit verzierten Balkonen sahen sie zahlreiche Posten, die schweigend hin- und hergingen, das Gewehr auf die Schulter gelegt. Im Schein des nach aussen strahlenden Lichtes blitzte die Spitze des Helms hin und wieder flüchtig auf. Sie hörten auch die Patrouillen, die in abgerissenem Takt über die Steinfliesen stampften und die Beine jedenfalls korrekter aufsetzten als die Tänzer auf dem Parkett des Saales. Von Zeit zu Zeit erklang ein Ruf, der sich von Posten zu Posten fortpflanzte, und bisweilen übertönten die Klänge des Orchesters einen Trompetenstoss, dessen heller Ton in die allgemeine Harmonie hineinschmetterte. Noch tiefer, vor der Fassade, zeichneten sich in den Lichtstreifen, die von den Fenstern des Neuen Palais ausgingen, düstere Massen ab. Das waren Boote, die den Lauf eines Flusses hinabglitten, dessen Wasser, vor dem flimmernden Licht mehrerer Leuchtfeuer erhellt, die äussersten Grundquadern der Terrassen bespülte.

Die Hauptperson des Balles — der Mann, der dieses Fest veranstaltete und den General Kissoff mit einem den Untertanen zukommenden Titel angeredet hatte — trug die schlichte Uniform eines Offiziers der Gardejäger. Das war keine absichtlich zur Schau getragene Einfachheit seinerseits, sondern lediglich die Gewohnheit eines Mannes, der für Prunk und Pomp nicht viel übrig hatte. So stand seine Erscheinung auch in scharfem Gegensatz zu den prächtigen Kostümen, die ihn bunt umgaben, und ebenso zeigte er sich auch in der Regel inmitten seiner Leibgarde von Georgiern, Kosaken und Lesghiern, der prächtigen Schwadronen, die die prunkvollen Uniformen vom Kaukasus trugen. Diese hochgewachsene Person mit leutseliger Miene, ruhigem Gesichtsausdruck und doch sorgenvoller Stirn ging von einer Gruppe zur anderen, sprach aber wenig. Den launigen Worten junger Gäste oder den ernsteren Worten hoher Beamten oder der Mitglieder des diplomatischen Korps, die am Hofe die Hauptstaaten Europas vertraten, schien er nur wenig Aufmerksamkeit zu schenken. Einige dieser scharfsinnigen Politiker — geborene Physiognomiker — hatten auf dem Antlitz ihres Gastgebers einige Anzeichen von Unruhe wahrzunehmen geglaubt, über deren Ursache sie jedoch nichts erfuhren. Jedenfalls war es der Wille des Offiziers der Gardejäger, dass seine geheimen Besorgnisse dieses Fest in keiner Weise beeinträchtigen sollten, und da er zu den seltenen Fürsten zählte, denen — selbst in Gedanken — eine ganze Welt zu gehorchen gewohnt war, so erlitt die Ballfestlichkeit keinen Augenblick Störung.

Inzwischen wartete General Kissoff, dass der Offizier, dem er das von Tomsk gesandte Telegramm übermittelt hatte, ihm den Befehl zum Gehen erteilen würde, dieser jedoch verharrte schweigend. Er hatte das Telegramm genommen und gelesen, und seine Stirn verdüsterte sich noch mehr. Die Hand fuhr unwillkürlich nach dem Griff des Degens und hob sich dann nach den Augen, die sie ein Weilchen bedeckte. Man hätte meinen mögen, das grelle Licht blende ihn und er suche das Dunkel, um besser in sein Inneres schauen zu können.

„Also“, sagte er, nachdem er General Kissoff in eine Fensternische geführt hatte, „seit gestern sind wir ohne Verbindung mit meinem Bruder, dem Grossfürsten?“

„Ohne Verbindung, Sire, und es ist zu befürchten, dass die Telegramme bald nicht mehr über die sibirische Grenze hinüberkommen werden.“

„Aber die Truppen der Provinzen Amur und Jakutsk sowie von Transbaikalien haben doch Befehl erhalten, unverzüglich auf Irkutsk zu marschieren?“

„Dieser Befehl ist gegeben worden in dem letzten Telegramm, das über den Baikalsee hinaus befördert werden konnte.“

„Aber mit den Bezirken Jenisseisk, Omsk, Semipalatinsk und Tobolsk stehen wir doch noch immer in direkter Verbindung seit dem Beginn des Einfalls?“

„Jawohl, Sire, dorthin gelangen unsere Telegramme noch, und wir haben bis zur Stunde die Gewissheit, dass die Tataren noch nicht über den Irtysch und Obi hinaus vorgedrungen sind.“

„Und über den Verräter Iwan Ogareff liegt noch keine Nachricht vor?“

„Noch keine,“ antwortete General Kissoff. „Der Polizeidirektor kann nicht bestimmt sagen, ob er die Grenze überschritten hat oder nicht.“

„Sein Signalement soll sofort nach Nischni-Nowgorod, Perm, Jekaterinburg, Kassimoff, Tjumen, Ischim, Omsk, Jelamsk, Koliwan, Tomsk und allen Telegraphenplätzen gesandt werden, mit denen noch Verbindung besteht.“

„Die Befehle Eurer Majestät sollen augenblicklich befolgt werden,“ antwortete General Kissoff.

„Stillschweigen über dies alles!“

Nach einer Gebärde ehrfurchtsvoller Anhänglichkeit verneigte sich der General, mischte sich noch zunächst in die Menge und verliess dann die Säle, ohne dass sein Verschwinden aufgefallen wäre. Der Offizier blieb noch ein Weilchen träumerisch stehen, und als er wieder unter verschiedene Gruppen von Militärs und Politikern trat, die sich an verschiedenen Stellen in den Sälen gebildet hatten, war sein Angesicht so ruhig wie zuvor.

Inzwischen war der schwerwiegende Umstand, der diese rasch gewechselten Worte verursacht hatte, nicht so unbekannt, wie der Offizier der Gardejäger und General Kissoff es glauben konnten. Man sprach nicht offiziell davon, allerdings, nicht einmal offiziös, da der Gegenstand noch nicht auf allerhöchsten Befehl freigegeben war, aber einige hohe Personen waren mehr oder minder genau über die Ereignisse unterrichtet, die sich jenseits der Grenze vollzogen. Was sie vielleicht nur vom Hörensagen wussten, worüber sich nicht einmal die Mitglieder des diplomatischen Korps besprachen, darüber unterhielten sich jedenfalls zwei Gäste, an denen keine Uniform und keine Auszeichnung verriet, woraufhin sie im Neuen Palais empfangen worden waren, mit leiser Stimme und schienen ziemlich genaue Auskunft zu besitzen. Auf welchem Wege oder durch welchen Zwischenhandel hatten diese einfachen Sterblichen erfahren, was so viele weit bedeutendere Persönlichkeiten kaum vermuteten? Das liess sich nicht sagen. Beruhte es bei ihnen auf einer Gabe der Vorahnung oder Voraussicht? Besassen sie einen Sinn mehr, der sie befähigte, über den begrenzten Horizont hinauszublicken, auf den jeder menschliche Blick beschränkt ist? Hatten sie eine besondere Witterung, um die geheimsten Neuigkeiten aufzuspüren? Dank der bei ihnen zur zweiten Natur gewordenen Gewohnheit, von der Erkundigung und durch die Erkundigung zu leben, hatte ihre Natur sich vielleicht in dieser Weise umgeformt. Man wäre versucht gewesen, dies zuzugeben.

Von diesen zwei Männern war der eine ein Engländer, der andere ein Franzose, beide gross und mager, dieser braun wie die Leute aus der Provence, jener rot wie einer aus Lancashire. Abgemessen, kalt, phlegmatisch, sparsam mit Worten und Gebärden, schien der Anglo-Normanne nur zu sprechen oder zu gestikulieren auf die Wirkung einer Feder hin, die in bestimmten Zwischenzeiten in Tätigkeit trat. Dagegen war der Gallo-Romane lebhaft und ungestüm, redete zugleich mit Lippen, Augen und Händen und hatte zwanzig Arten, seine Gedanken wiederzugeben, während sein Widerpart nur eine einzige unlösbar in seinem Gehirn versteifte Methode besass. Diese physischen Verschiedenheiten hätten leicht auch dem ungeübtesten Menschenbeobachter auffallen müssen; aber wenn ein Physiognomiker diese beiden Fremden aus der Nähe betrachtet hätte, so würde er wohl den physiologischen Unterschied, der sie charakterisierte; mit den Worten ausgedrückt haben, dass der Franzose „ganz Auge“, der Engländer „ganz Ohr“ wäre. In der Tat hatte sich der Gesichtssinn des einen durch den Gebrauch eigentümlich vervollkommnet, die Empfindlichkeit seiner Netzhaut war ebenso gewandt in Augenblickswahrnehmungen wie die eines Taschenspielers, der eine Karte beim Schlag des schnellsten Mischens oder lediglich an einem, jedem anderen nicht wahrnehmbaren Merkmal erkennt. Der Franzose besass also im höchsten Grade, was man das, „Gedächtnis des Auges“ nennt. Der Engländer dagegen schien besonders geschaffen für das Lauschen und Hören. Wenn der Klang der Stimme einmal sein Ohr getroffen hatte, dann konnte er sie nicht wieder vergessen, und nach zehn, zwanzig Jahren hätte er sie unter Tausenden wieder herausgekannt. Seine Ohren waren freilich nicht beweglich wie die der Tiere, die mit grossen „Hörlöffeln“ ausgestattet sind; aber wenn die Gelehrten festgestellt haben, dass die menschlichen Ohren immerhin eine gewisse Beweglichkeit haben, so hätte man mit Recht behaupten können, dass die des besagten Engländers sich aufzurichten, zu verdrehen und zu neigen suchten, um in einer auch für den Naturwissenschaftler kaum auffälligen Weise die Töne zu erhaschen. Es darf bemerkt werden, dass diese Vervollkommnung des Gesichts und des Gehörs den beiden Männern in ihrem Beruf von grossem Nutzen war; denn der Engländer war Berichterstatter für den Daily-Telegraph und der Franzose Berichterstatter für den . . ., welcher Zeitung oder welcher Zeitungen, das sagte er nicht, und wenn man ihn fragte, antwortete er launig, er korrespondiere mit seiner „Cousine Madeleine“. Im Grunde war dieser Franzosn bei aller Ungezwungenheit seines Äusseren sehr scharfsinnig und höchst klug. Wenn er vom hundertsten ins tausendste schwatzte — vielleicht nur, um sein Verlangen, etwas zu erfahren, besser zu verbergen — so verriet er sich doch nie. Seine Geschwätzigkeit diente ihm vielmehr zum Schweigen, und er war vielleicht verschlossener und verschwiegener als sein Kollege vom Daily-Telegraph.

Wenn diese beiden nem Fest im Neuen Palais in der Nacht vom 15. zum 16. Juli beiwohnten, so geschah es in ihrer Eigenschaft als Journalisten und zur grössten Erbauung ihrer Leser. Es braucht nicht besonders betont zu werden, dass diese beiden Männer ihrer Mission auf dieser Welt leidenschaftlich zugetan waren, dass sie sich mit Vorliebe wie Spürhunde auf die Suche nach den unerwartetsten Neuigkeiten, begaben, dass nichts sie zurückschreckte oder vom Erfolge abbrachte, dass sie die ganze unerschütterliche Kaltblütigkeit und den wahren. Mut der Berufsjournalisten besassen. Wahre Jockeis in dieser Schnitzeljagd, in dieser Jagd nach Nachrichten, setzten sie über Hecken, nahmen die Flüsse und sprangen über die Hürden mit dem unvergleichlichen Feuer der echten Vollblutpferde, die lieber sterben, als dass sie nicht als „gute Erste“ einlaufen. Übrigens hielten ihre Zeitungen sie auch nicht knapp an Geld — dem sichersten, schnellsten und vollkommensten Mittel, etwas zu erfahren, das man bis heutigentags kennt. Auch muss — und zwar zu ihrer Ehre — hinzugefügt werden, dass sie niemals über die Mauern des Privatlebens hinweg horchten oder spähten, und dass sie nur da tätig waren, wo politische oder soziale Belange im Spiel waren. Mit einem Wort, sie besorgten, um einen seit einigen Jahren üblichen Ausdruck zu gebrauchen, „die Hauptberichte über Politik und Wehrmacht“. Man wird jedoch, wenn man sie näher beobachtet, erkennen, dass sie in der Regel eine eigentümliche Art hatten, die Tatsachen und vor allem ihre Folgen anzusehen, da ein jeder sein ganz besonderes Verfahren hatte, zu betrachten und zu beurteilen. Da sie jedoch immer den Grundsatz hegten, „leben und leben lassen“, und bei keiner Gelegenheit sich knauserig zeigten, so dürfte man unrecht tun, ihnen daraus einen Vorwurf zu machen. Der französische Berichterstatter hiess Alcide Jolivet, der Name des englischen war Harry Blount. Sie hatten sich zum erstenmal getroffen auf dieser Feierlichkeit im Neuen Palais, über die in ihrem Blatte zu berichten sie beauftragt worden waren. Die Verschiedenheit ihrer Charaktere und ein gewisser Berufsneid waren Grund, dass sie einander wenig sympathisch waren. Indessen gingen sie sich nicht aus dem Wege, im Gegenteil, sie suchten einander, um sich gegenseitig über die Neuigkeiten des Abends auszuforschen. Es waren eben zwei Jäger, die auf dem gleichen Revier, im gleichen Bannforst jagten. Was der eine fehlte, konnte vom anderen vorteilhaft abgeschossen werden, und ihr eigenes Interesse verlangte, dass sie in Seh- und Hörweite voneinander verblieben.

An diesem Abend waren sie also beide auf dem Anstand. Es lag wirklich etwas in der Luft. „Wenn es auch bloss ein Schwarm Enten sein sollte,“ sprach Alcide Jolivet bei sich, „einen Büchsenschuss lohnt es schon.“

Die beiden Berichterstatter wurden also während des Balles, kurze Zeit nach General Kissoffs Weggang, in Gespräch miteinander geführt und führten es zunächst behutsam und vorsichtig.

„Das muss man sagen, mein Herr, diese kleine Festlichkeit ist ganz allerliebst,“ sagte mit verbindlichster Miene Alcide Jolivet, der durch diese echt, französische Redensart die Unterhaltung eröffnen zu sollen meinte.

„Ich habe schon gedrahtet: splendid!“ versetzte kühl Harry Blount, indem er jenes Wort gebrauchte, das beim Bürger des Vereinigten Königreichs als Ausdruck jeglicher Bewunderung den Anstrich besonderer Weihe hat.

„Indessen meinte ich,“ setzte Alcide Jolivet seinen vorigen Worten hinzu, „zur selben Zeit meiner Cousine schreiben zu —“

„Ihrer Cousine?“ wiederholte Harry Blount mit Erstaunen, seinem Kollegen ins Wort fallend.

„Jawohl,“ versetzte Alcide Jolivet, „meiner Cousine Madeleine. Ich stehe nämlich mit ihr in Briefwechsel; sie ist gern schnell und genau unterrichtet, meine Cousine. Deshalb meinte ich ihr mitteilen zu sollen, dass es während dieser Festlichkeit den Anschein habe, als zöge ein finsterer Schatten über die Stirn des Landesherrn.“

„Mir aber ist es vorgekommen, als sei dies kein Schatten, sondern ein Sonnenstrahl gewesen,“ erwiderte Harry Blount, der vielleicht seine Gedanken über diesen Fall verschleiern wollte.

„Und selbstverständlich haben Sie auch ,Sonnenstrahl‘ in die Spalten des ,Telegraph‘ setzen lassen!“

„Ganz, wie Sie sagen.“

„Besinnen Sie sich noch darauf, Herr Blount,“ fragte Alcide Jolivet, was sich Anno 1812 in Zakret ereignete?“

„Als ob ich dabei gewesen wäre, mein Herr,“ antwortete der englische Berichterstatter.

„Dann wissen Sie auch,“ erwiderte Alcide Jolivet, „dass mitten in einem dem Zaren Alexander zu Ehren veranstalteten Fest ihm mitgeteilt wurde, Napoleon habe soeben mit der französischen Vorhut den Njemen überschritten. Der Zar verliess jedoch das Fest nicht, und trotz der ausserordentlichen Wichtigkeit einer Nachricht, die ihm sein Reich kosten konnte, liess er keine Spur von Beunruhigung merken . . .“

„. . . die auch auf seiten unseres Gastgebers nicht zu bemerken war, als ihm General Kissoff mitteilte, die Telegraphendrähte seien soeben zwischen der Grenze und dem Regierungsbezirk Irkutsk zerschnitten worden.“

„Ach! Dieser besondere Vorfall ist Ihnen bekannt?“

„Er ist mit bekannt.“

„Was mich angeht, möchte es freilich seine Schwierigkeit haben, nichts davon zu wissen, denn mein letztes Telegramm ist bis Udinsk gelangt,“ bemerkte mit gewisser Genugtuung Alcide Jolivet.

„Das meinige bloss bis Krasnojarsk,“ erwiderte Harry Blount in einem Ton, aus dem kein geringeres Mass von Genugtuung klang.

„Dann wissen Sie auch, dass schon Befehle an die Truppen von Nikolajewsk ergangen sind?“

„Jawohl, mein Herr, und zwar gleichzeitig mit dem Telegramm an den Regierungsbezirk Tobolsk, die Kosakenregimenter zusammenzuziehen.“

„Stimmt wie eine böhmische Orgel, Herr Blount. Diese Massnahmen sind mir gleichfalls bekannt geworden — Sie dürfen mir schon glauben, dass meine liebenswürdige Cousine morgen verschiedenes davon erfahren wird.“

„Genau so, wie es auch den Lesern des Daily-Telegraph bekannt sein wird, Herr Jolivet.“

„Ja, sehen Sie, wenn man für alles Augen hat, was vorgeht . . .“

„Und Ohren für alles, was gesprochen wird . . .“

„Wird einen interessanten Feldzug geben, Herr Blount.“

„Den ich mir nicht entgehen lassen werde, Herr Jolivet.“

„Dann kann es ja der Fall sein, dass wir uns auf einem Boden wiedertreffen werden, der wesentlich weniger Sicherheit aufweist als das Parkett dieses Saales.“

„Weniger Sicherheit schon, aber —“

„— aber auch weniger Glätte,“ versetzte lachend Alcide Jolivet und fasste seinen Kameraden noch gerade rechtzeitig, als er beim Kehrtmachen das Gleichgewicht zu verlieren drohte. Hierauf trennten sich die beiden Berichterstatter, im grossen und ganzen recht zufrieden, dass keiner dem anderen vorausgeeilt war. Tatsächlich waren sie einander wert.

Im selben Augenblick taten sich die Türen der mit dem grossen Saal zusammenhängenden Gemächer auf. Dort standen mehrere grosse Tafeln, herrlich gedeckt und verschwenderisch mit kostbarem Porzellan und goldenen Geschirr beladen. Auf der mittleren Tafel, sie für die Fürstlichkeiten und für die Mitglieder des diplomatischen Korps bestimmt war, strahlte ein Tafelaufsatz von unschätzbarem Wert, der aus Londoner Werkstätten stammte, und um dieses Meisterwerk der Goldschmiedekunst funkelten unter dem Lichtfeuer der Kronleuchter die tausenderlei Bestandteile des herrlichsten Services, das je seinen Weg aus der Porzellanmanufaktur von Sèvres gefunden hat.

Die Gäste des Neuen Palais begannen nun sich nach den Sälen zu verfügen, wo zum Essen gedeckt war. In diesem Augenblick trat General Kissoff, der eben wieder eingetreten war, rasch zu dem Offizier der Gardejäger. „Nun?“ fragte ihn dieser lebhaft, ganz wie er es zum erstenmal gemacht hatte.

„Weiter als bis Tomsk laufen die Telegramme nicht mehr, Sire.“

„Auf der Stelle einen Kurier!“

Der Offizier verliess den grossen Saal, um in ein anstossendes geräumiges Gemach zu treten. Es war ein Arbeitskabinett, sehr schlicht mit altem Eichenmobiliar ausgestattet und auf der Eckseite des Neuen Palais gelegen. Einige Gemälde, darunter mehrere mit Horace Vernet gezeichnete Ölbilder, hingen an der Wand. Der Offizier riss das Fenster auf, als wenn es seinen Lungen an Sauerstoff gefehlt hätte, und schlürfte auf einem grossen und breiten Balkon die reine, klare Luft einer herrlichen Julinacht ein. Unter seinen Augen dehnte sich, in Mondschein gebadet, ein befestigter. Wall, in dessen Bereich sich zwei Kathedralen, drei Paläste und ein Arsenal erhoben. Um diesen Wall herum dehnten sich drei scharf unterschiedene Städte: Kitaj-Gorod, Hjeloj-Gorod und Semljanoj-Gorod, ungeheure Stadtviertel europäischen, tatarischen und chinesischen Charakters, überragt von Spitz- und Glockentürmen und Minaretts, von den Kuppeln von 300 Kirchen, von grünen Domen, auf deren Spitzen silberne Kreuze strahlten. In einem kleinen Fluss mit gewundenem Lauf spiegelte sich das Mondlicht wider. Dieses ganze Bild stellte ein merkwürdiges Mosaik aus buntscheckigen Häusern dar, die sich in einem mächtigen Rahmen von zehn Meilen im Umfang eingefasst fanden. Dieser Fluss war die Moskwa, diese Stadt war Moskau, dieser befestigte Wall war der Kreml und der Offizier der Gardejäger, der mit übereinandergeschlagenen Armen, mit träumerischer Stirn dem von dem Neuen Palais über die alte Moskowitenstadt zitternden Lärm flüchtig lauschte, war der Zar.

Der Kurier des Zaren

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