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5. Ein Erlass in zwei Paragraphen

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Nischni-Nowgorod, Unter-Nowgorod, am Zusammenfluss der Wolga und der Oka gelegen, war die Hauptstadt des gleichnamigen Gouvernements. Dort musste Michael Strogoff die Eisenbahn verlassen, die damals nicht weiter als bis dorthin ging. Demnach verloren, je weiter er vordrang, die Verkehrsmittel zuerst an Schnelligkeit, nachher an Sicherheit. Nischni-Nowgorod, das zu gewöhnlicher Zeit bloss 30 000 bis 35 000 Einwohner zählte; beherbergte damals weit über 300 000; seine Bevölkerung hatte sich also verzehnfacht.

Diesen — nur vorübergehenden — Zuwachs verdankte die Stadt der berühmten Messe, die während voller drei Wochen in ihren Mauern abgehalten wurde. Vordem genoss Markajew die Vorteile dieses Zusammenlaufs von Kaufleuten, seit 1817 war die Messe aber nach Nischni-Nowgorod verlegt worden. Die für gewöhnlich ziemlich düstere Stadt zeigte also ein ausserordentliches Leben. Zehn verschiedene Rassen von Handelsleuten, europäische sowohl als asiatische, lebten dort brüderlich miteinander unter dem Einfluss von Handelsgeschäften.

Obwohl Michael Strogoff den Bahnhof zu stark vorgerückter Stunde verliess, herrschte doch noch grosser Zusammenlauf von Menschen in diesen beiden durch den Lauf der Wolga geschiedenen Städten, die Nischni-Nowgorod, in sich schliesst und deren obere, auf steilem Fels erbaute durch eines jener Befestigungswerke verteidigt wird, die man in Russland „Kreml“ nennt. Wenn Michael Strogoff zum Aufenthalt in Nischni-Nowgorod gezwungen gewesen wäre, so würde es ihm nicht leicht gefallen sein, ein Hotel oder nur ein Gasthaus zu finden, das einigermassen für ihn passend gewesen wäre. Die Stadt war überfüllt. Da er nun aber nicht auf der Stelle wegfahren konnte, sondern auf die Abfahrt des Wolgadampfers, den er benützen musste, zu warten hatte, blieb ihm nichts übrig, als sich nach einer Lagerstatt umzusehen. Vorher wollte er sich aber über die Abfahrtszeit vergewissern und verfügte sich deshalb nach der Anlegestelle der Dampfschiffahrtsgesellschaft, deren Schiffe den Verkehr zwischen Nischni-Nowgorod und Perm vermittelten. Dort erfuhr er zu seinem grossen Verdruss, dass der „Kaukasus“ — so hiess das Dampfschiff — erst am anderen Tage mittags abfuhr. Ganze 17 Stunden warten! Das war ärgerlich für einen Menschen, dem die Zeit so auf die Nägel brannte und doch nichts anderes übrigblieb, als sich dareinzuschicken — was er auch tat, denn müssige Beschwerden zu führen oder unzutreffende Beschuldigunzu erheben, war niemals seine Sache. Zudem hätte ihn unter den gegenwärtigen Umständen kein Wagen, gleichviel ob Telega oder Tarantass, Reisekutsche oder Postwagen, auch kein Pferd, gleichviel ob nach Perm oder nach Kasan, schneller befördert. Das beste war also, die Abfahrt des Dampfschiffs abzuwarten — das noch immer schneller fuhr als jedes andere Fuhrwerk und die verlorene Zeit schneller hereinbringen dürfte.

So lief denn Michael Strogoff in der Stadt herum und suchte sich, ohne sich allzusehr zu beunruhigen, irgendeine Herberge, um dort zu nächtigen. Aber daran war ihm eigentlich nicht viel gelegen, und hätte ihm der Hunger nicht stark zugesetzt, so würde er wahrscheinlich bis zum Morgen in den Strassen von Nischni-Nowgorod herumgeirrt sein. So war er also mehr auf der Suche nach einem Abendessen als nach einem Nachtlager. Indessen sollte er beides in der „Stadt Konstantinopel“ antreffen.

Dort bot ihm der Herbergsvater ein einigermassen passendes Zimmer an, das zwar nicht viel Mobiliar aufzuweisen hatte, dem aber weder die Jungfrau Maria im Bilde, noch einige Heilige im Porträt fehlten, denen goldene Bortenstoffe als Rahmen dienten. Eine mit gesäuerter Fleischmasse gefüllte Ente, die in einer dicken Mehltunke schwamm, Gerstenbrot, Buttermilch, Staubzucker mit Zimt vermischt, ein Krug Kwas, bekanntlich ein in Russland sehr gebräuchliches Bier, wurden ihm alsbald aufgetragen, und so viel brauchte er gar nicht, um satt zu werden. Aber er ass sich satt und weit satter sogar als sein Tischnachbar, der als „Altgläubiger“ der Raskolnikensekte das Enthaltsamkeitsgelübde abgelegt hatte, infolgedessen die Kartoffeln aus seiner Schüssel tat und sich stark hütete, Zucker in seinen Tee zu tun.

Nach eingenommenem Abendbrot setzte Michael Strogoff, statt in sein Zimmer hinaufzugehen, mechanisch seinen Spaziergang durch die Stadt fort. Aber obgleich sich die lange Dämmerzeit noch erheblich ausdehnte, zerteilte sich bereits die Menge, die Strassen wurden allmählich öde und leer, und jeder suchte seine Wohnung wieder auf. Warum hatte sich Michael Strogoff nicht bequem ins Bett gelegt, wie es nach einem ganzen, in der Bahn verlebten Tage doch wohl am Platze war? Dachte er etwa an das junge Mädchen aus Livland, das ein paar Stunden lang seine Reisegefährtin gewesen war? Da er nichts Besseres zu tun hatte, war er mit seinen Gedanken bei ihr. Befürchtete er, dass ihr, ohne Halt und Stütze in dieser geräuschvollen Stadt, Schimpf und Schande widerfahren könnte? Ja, das befürchtete er — und mit solcher Befürchtung hatte er recht. Hoffte er etwa, ihr zu begegnen und ihr im Notfall seinen Schutz angedeihen zu lassen? Nein. Sie zu treffen war schwierig, und sie zu schützen — besass er dazu ein Recht?

„Allein,“ sprach er bei sich, „allein inmitten dieser Horden! Und was bedeuten die Gefahren schliesslich neben jenen anderen Gefahren, die ihr die Zukunft vorbehält! Sibirien! Irkutsk! Was ich für Russland und den Zaren versuchen will, will sie vielleicht auch tun. Sie! Für — für wen? Wofür? Sie ist befugt, die Grenze zu überschreiten! Und das Land drüben ist im Aufstand! Tatarenbanden jagen durch die Steppen!“ Michael Strogoff hielt eine Weile inne und überlegte. „Ohne Zweifel ist ihr der Gedanke“, sagte er bei sich, „zu dieser Reise vor dem Einbruch der tatarischen Horden gekommen. Vielleicht weiss sie selber nicht einmal, was vorgeht . . . Aber nein, diese Kaufleute haben doch in ihrer Gegenwart von den Wirren, die in Sibirien herrschen, gesprochen — und sie hat gar nicht ausgesehen, als ob das sie wundere, sie hat nicht einmal nach Erklärung gefragt. Aber dann wusste sie doch — und ist doch gegangen, trotzdem? Das arme Kind! Es muss doch also ein mächtiger Beweggrund sein, der sie treibt. Aber so mutig sie sein mag — und mutig ist sie ganz gewiss — werden unterwegs doch die Kräfte sie im Stich lassen und, von Gefahren und Hindernissen gar nicht zu reden, wird sie die Strapazen solcher Reise doch nicht ertragen können — Irkutsk wird sie nun und nimmer erreichen können!“

Michael Strogoff ging inzwischen immer aufs Geratewohl weiter; da er aber die Stadt genau kannte, konnte es ihm keine Verlegenheit bereiten, seinen Weg wiederzufinden. Nach einem etwa halbstündigen Marsch setzte er sich auf eine an einer grossen Holzbude, die in der Mitte von vielen anderen auf einem sehr grossen Platz stand, angebrachte Bank. Fünf Minuten sass er etwa dort, als ihn eine Hand kräftig packte: „Was treibst du hier?“ fragte ihn ein grosser Mann, den er nicht hatte kommen sehen, mit rauher Stimme.

„Ich ruhe mich aus,“ versetzte Michael Strogoff.

„Denkst wohl gar die Nacht hier auf der Bank zu verschlafen?“ rief der Mann wieder.

„Warum nicht — wenn es mir passt?“ erwiderte Michael Strogoff in einem für den einfachen Handelsmann, der er sein musste, etwas zu scharf markierten Ton.

„Dann tritt näher, dass man dich sieht,“ sagte der Mann.

Michael Strogoff besann sich, dass es vor allem nötig sei, die Klugheit nicht ausser acht zu lassen, und wich instinktiv zurück. „Mich braucht niemand sich anzusehen,“ antwortete er und brachte mit Kaltblütigkeit zwischen den Mann, der ihn angesprochen hatte, und sich einen Zwischenraum von einem Dutzend Schritte. Nun kam es ihm, als er ihn schärfer ansah, ganz so vor, als ob er es mit einer Art von Zigeuner zu tun habe, wie man sie auf allen Messen antrifft, mit denen man aber nicht gern in physische oder moralische Berührung kommt. Und wie er dann aufmerksam auf den Schatten sah, der sich zu verdichten anfing, bemerkte er neben der Holzbude einen grossen Wagen, die gewöhnliche Reisewohnung dieser „Tsingari“ oder „Tsiganen“, die sich in Russland überall, wo es ein paar Kopeken zu verdienen gibt, scharenweise anfinden.

Unterdessen hatte der Zigeuner ein paar Schritte vorwärts getan und schickte sich an, Michael Strogoff energischer auf den Leib zu rücken, als sich die Tür der Hütte öffnete. Ein Weib, kaum sichtbar, trat rasch vor und rief in einer ziemlich rauhen Mundart, die Michael Strogoff als ein Gemisch von Mongolisch und Sibirisch erkannte: „Schon wieder ein Spion! Lass ihn und komm essen! Die Papluka wartet.“

Michael Strogoff konnte sich des Lächelns über den Titel, mit dem man ihn beehrte, nicht erwehren. Er, der gerade die Spione wie Gift fürchtete, sollte ein Spion sein!

Aber in derselben Sprache, wenn auch der Akzent des Mannes, der sich ihrer bediente, von dem Akzent des Weibes stark verschieden war, erwiderte der Zigeuner mit ein paar Worten, die den Sinn hatten von: „Du hast recht, Sangarre, zudem werden wir morgen ja über alle Berge sein.“

„Morgen?“ versetzte halblaut das Weib mit einer Stimme, aus der eine gewisse Verwunderung herausklang.

„Jawohl, Sangarre,“ versetzte der Zigeuner, „morgen — und Väterchen selber ist es, der uns schickt, wohin wir gehen wollen!“ Darauf traten Mann und Weib in die Hütte, deren Tür behutsam geschlossen wurde.

„Gut,“ sagte sich Michael Strogoff, „wenn dieses Zigeunerpack nicht verstanden sein will, wenn sie in meiner Gegenwart sprechen, so rate ich ihnen schon, sich einer anderen Sprache zu bedienen.“ In seiner Eigenschaft als Sibirier, und weil er seine Kindheit in der Steppe verlebt hatte, verstand Michael Strogoff, wie gesagt, fast alle von der Tatarei bis zum Eismeer hinauf gebräuchlichen Mundarten. Was die genau Bedeutung der zwischen dem Zigeuner und seiner Gefährtin gewechselten Worte sein mochte, beschäftigte ihn nicht weiter — inwiefern konnte ihr das auch kümmern?

Da die Stunde schon stark vorgerückt war, fiel es ihm nun ein, nach der Herberge zurückzukehren, um sich dort ein bisschen auszuruhen. Er ging dem Laufe der Wolga entlang, deren Fluten unter der düsteren Masse zahlloser Fahrzeuge verschwanden. Die Richtung des Flusses machte ihm nun den Ort kenntlich, den er soeben verlassen hatte. Diese Ansammlung von Wagen und Buden befand sich genau auf dem grossen, weiten Platz, auf dem alljährlich der Hauptmarkt von Nischni-Nowgorod abgehalten wurde — hieraus erklärte sich die Anwesenheit all dieser Schifferleute und Zigeuner, die aus allen Ecken der Welt herbeigekommen waren.

Michael Strogoff schlief eine Stunde später in einem jener russischen Betten, die den Fremden so hart vorkommen, nicht ohne Aufregung, und am anderen Tage, dem 17. Juli, erwachte er, als es schon hell wurde. Fünf Stunden noch in Nischni-Nowgorod zu verleben, das erschien ihm ein Jahrhundert. Was konnte er tun, um diesen Morgen auszufüllen, wenn nicht wie abends vorher durch die Strassen der Stadt irren? Wenn er sein Frühstück verzehrt, seinen Reisesack geschnürt hatte, wenn er sein Podaroschna auf dem Polizeiamt hatte beglaubigen lassen, wäre nichts weiter nötig gewesen, als abzureisen. Aber da es seine Sache nicht war, erst aufzustehen, wenn schon die Sonne am Himmel stand, so stieg er aus seinem Bett, kleidete sich an, legte fürsorglich den Brief mit dem kaiserlichen Wappen in eine im Futter seiner Tunika angebrachte Tasche — über die Tunika schnürte er seinen Leibgurt, dann schloss er seinen Reisesack und warf ihn über den Rücken. Als dies geschehen war, zahlte er, da es nicht in seiner Absicht lag, nach der „Stadt Konstantinopel“ zurückzukehren, er vielmehr am Wolgaufer sein Frühstück einnehmen wollte, bei dem Gasthofswirt seine Rechnung und verliess die Herberge. Aus übermässiger Vorsicht begab sich Michael Strogoff zuerst nach dem Dampfschiffahrtsbüro und vergewisserte sich dort, dass der „Kaukasus“ zur bezeichneten Stunde abfuhr. Da kam ihm zum ersten Male der Einfall, dass es sehr wohl möglich sein könnte, die junge Livländerin, die ja auch den Weg über Perm nehmen musste, sei gleich ihm willens, sich auf dem „Kaukasus“ einzuschiffen, in welchem Falle es ja nicht hätte ausbleiben können, dass Michael Strogoff die Reise mit ihr zusammen machte.

Die obere Stadt mit ihrem Kreml, deren Umfang zwei Werst beträgt, und die der von Moskau ähnlich ist, war zur Zeit sehr leer. Nicht einmal der Gouverneur residierte noch dort. Aber so ausgestorben die obere Stadt war, so voller Leben war die untere. Nachdem Michael Strogoff auf einer von berittenen Kosaken bewachten Brücke die Wolga überschritten hatte, gelangte er auf denselben Platz, wo er tags vorher auf irgendein Zigeunerlager gestossen war. Kurz vor der Stadt draussen wurde jene Nischni-Nowgoroder Messe abgehalten, mit der selbst die Leipziger Messe nicht in Wettstreit zu treten vermöchte. Auf einer weiten, jenseits der Wolga befindlichen Ebene erhob sich der provisorische Palast des Generalgouverneurs, und dort residierte zufolge kaiserlichen Befehls dieser hohe Staatsbeamte während der ganzen Dauer der Messe, die infolge der Elemente, aus dener sie sich zusammensetzt, eine beständige Überwachung notwendig machte.

Diese Ebene war zur Zeit mit hölzernen Bauten in symmetrischer Anordnung bedeckt, so dass Wege dazwischen blieben, breit genug, um der Volksmenge einen bequemen Fussverkehr zu ermöglichen. In den Gassen längs dieser Wege war der Menschenzulauf, da die Sonne, die heute schon vor vier Uhr aufgegangen war, hoch am Himmel stand, schon sehr beträchtlich. Russen, Sibirier, Deutsche, Kosaken, Turkmenen, Perser, Georgier, Griechen, Ottomanen, Hindus, Chinesen — ein ausserordentliches Gemisch von Europäern und Asiaten schwatzte; zankte, prahlte, schacherte. Alles, was verkauft oder gekauft wird, schien an dieser Stätte aufgetürmt worden zu sein. Lastträger, Pferde, Kamele, Esel, Kähne, Karren, alles was zum Transport von Waren dienen kann, war auf diesen Messfeld gestaut; Pelze, Juwelen, Seidenstoffe, indische Kaschmire, türkische Teppiche, kaukasische Waffen, Gewebe aus Smyrna oder Ispahan, Beschläge aus Tiflis, Karawanentee, europäische Bronzen, Uhrwaren aus der Schweiz, Samt- und Seidenstoffe aus Lyon, englische Kattune, Fuhrgeschirre und dazugehörige Artikel, Obst, Gemüse, Gestein vom Ural, Malachite, Lapislazuli, aromatische Stoffe, Parfüms, Arzneipflanzen, Hölzer, Teere, Seile, Hörner, Zitronen, Kürbispflanzen, Wassermelonen und so weiter, sämtliche Produkte Indiens, Chinas, Persiens, solche vom Kaspischen und solche vom Schwarzen Meer, von Amerika und von Europa waren an diesem Punkt des Erdteils vereinigt. Es war ein Leben und Treiben, eine Aufregung, ein Trubel, ein Tohuwabohu, von dem man sich keine Vorstellung machen könnte, zumal die Eingeborenen der unteren Klassen von höchst aufdringlichem. Wesen waren und die Ausländer es ihnen gern möglichst gleichtaten. Kaufleute aus dem mittleren Asien waren darunter, die ein Jahr gebraucht hatten, um ihre Wagen unter Schutzbegleitung durch die langen Ebenen bis hierher zu schaffen, und die vor Ablauf eines weiteren Jahres ihre Handelsbuden oder Büros nicht wiedersehen sollten. Kurz, die Bedeutung dieser Messe von Nischni-Nowgorod war derart, dass sich die Ziffer des Warenumschlags auf mindestens 100 Millionen Rubel belief.

Sodann hatte sich auf den Plätzen und zwischen den Quartieren dieser hervorgezauberten Stadt ein förmliches Heer von Gauklern aller Art angesammelt: Seiltänzer und Akrobaten, die mit ihrer Musik und mit dem Ausschreien ihrer Aufführung einen ohrenbetäubenden Lärm machten; Zigeuner, die aus den Gebirgen herabgekommen waren und den einfältigen Seelen eines immer wechselnden Publikums die Zukunft weissagten; die ihnen verwandten Tsingaris oder Tsiganen, wie die Russen die Zigeuner im allgemeinen nennen — die uralten Abkömmlinge der Kopten — die ihre buntesten Weisen sangen und ihre seltsamsten Tänze aufführten; Komödianten von Jahrmarktsbühnen, die Shakespeares Dramen, zugestuzt für den Geschmack der in Scharen herbeiströmenden Zuschauer, darstellten. In den langen Gängen führten Bärenführer ihre viertatzigen Künstler in Freiheit vor; aus Tierbuden erscholl rauhes Gebrüll von Bestien, die durch den scharfen Stachel oder das Brandeisen ihres Bändigers gereizt wurden; schliesslich mitten auf dem grossen Hauptplatz, umstanden von einem vierfachen Ring begeisterter Kunstfreunde, ein Chor von „Wolgaschiffern“, der auf dem Boden sass wie auf dem Deck ihrer Barken und nach dem Taktstock eines Musikmeisters, im Grunde genommen nichts weiter als der Steuermann dieses in der Phantasie gedachten Schiffes, die Tätigkeit des Ruderns nachahmte. Wunderlicher und allerliebster Brauch — über all dieser Menschheit entwich eine Wolke von Vögeln aus Käfigen, in denen sie hergebracht worden waren. Gemäss einer auf der Messe von Nischni-Nowgorod streng festgehaltenen Sitte öffneten für ein paar Kopeken, die von milden Seelen gespendet wurden, die Kerkermeister ihren Gefangenen die Käfigtür, und zu Hunderten flatterte die kleine Schar, ihr lustiges Geschnatter ertönen lassend, auf und davon.

Dies war das Bild, dass die Fläche bot, so sollte es sechs Wochen lang — die gewöhnliche Dauer der berühmten Messe — in Nischni-Nowgorod bleiben. Dann würde nach dieser betäubenden Zeit das ungeheure Tohuwabohu wie durch Zauberschlag erlöschen, die obere Stadt würde ihren alten Charakter wieder annehmen, die untere Stadt würde in ihr eintöniges Einerlei zurückverfallen, und von dieser ungeheuren Zusammenkunst von Kaufleuten aus allen Gegenden Europas und Mittelasiens würde nicht ein einziger Verkäufer oder Einkäufer, gleichviel welcher Ware, noch übrigbleiben.

Hier ist es am Platze hinzuzufügen, dass diesmal wenigstens Frankreich und England auf dem grossen Weltmarkt von Nischni-Nowgorod vertreten waren durch zwei der hervorragendsten Produktionszweige der modernen Kultur, durch die Herren Harry Blount und Alcide Jolivet. Die beider Berichterstatter befanden sich hier auf der Suche nach Eindrücken zum Vorteil und Nutzen ihrer Leser und verwendeten nach besten Kräften die paar Stunden, die sie zu verbringen hatten, denn auch sie gedachten mit dem Kaukasus“ zu fahren. Sie trafen einanderdirekt auf dem Messeplatz und waren darüber nur in mittelmässiger Verwunderung, denn es verstand sich ja eigentlich von selbst, dass der gleiche Instinkt sie auf die gleiche Fährte bringen musste; aber diesmal sprachen sie nicht miteinander und beschränkten sich auf den Austausch eines ziemlich kühlen Grusses. Alcide Jolivet, von Haus aus Optimist, schien übrigens zu finden, dass sich alles so abspielte, wie es am Platze sei, und da ihm der Zufall Tisch und Lager in glücklicher Form verschafft hatte, hatte Alcide Jolivet einige für die Stadt Nischni-Nowgorod ganz besonders nette Zeilen in sein Notizbuch eingetragen. Dagegen hatte sich Harry Blount nach vergeblicher Suche eines Abendessens gezwungen gesehen, unter freiem Himmel zu nächtigen. Er hatte die Dinge also unter einem ganz anderen Gesichtspunkt betrachtet und brütete über einem zermalmenden Artikel gegen eine Stadt, in der sich die Gastwirte weigerten, Reisenden Aufnahme zu gewähren, die nicht von vornherein dazu bereit schienen, sich, „in physischer und in moralischer Hinsicht“ abschlachten zu lassen.

Wie Michael Strogoff, so dastand, mit der einen Hand in seiner Tasche, in der anderen seine lange Pfeife mit dem Rohr aus Vogelkirsche haltend, schien er von allen Menschen auf Erden das höchste Mass von Gleichgültigkeit und das allergeringste Mass von Ungeduld zu besitzen. Und doch wäre es leicht gewesen, für jeden, der zu beobachten weiss, an einer gewissen Zusammenziehung der Augenbrauenmuskeln zu erkennen, dass es ihm auf den Nägeln brannte, von der Stelle zu kommen. Seit etwa zwei Stunden rannte er durch die Strassen der Stadt, um immer und immer wieder zu dem Messeplatz zurückzukehren. Auf seinem öfteren Rundgang zwischen den Gruppen machte er die Wahrnehmung, dass sich bei allen aus den angrenzenden Landstrichen Asiens gekommenen Kaufleuten eine wirkliche Beunruhigung zeigte. Die Geschäftsabschlüsse litten sichtlich darunter. Verschiedene Taschenspieler, Seiltänzer und Jongleure machten vor ihren Schaubuden grossen Lärm — eine Sache, die sich von selbst versteht, denn diese armen Teufel hatten bei einem Handelsgeschäft ja nichts zu verlieren, aber die Geschäftsleute besannen sich, Verbindungen mit den Händlern aus dem mittleren Asien einzugehen, deren Heimat durch den Einfall der tatarischen Horden bedroht war.

Noch ein anderes Kennzeichen verdiente Beachtung. In Russland trat die Militäruniform bei allen Gelegenheiten in Sicht. Die Soldaten mischten sich gern unter die Volksmenge, und gerade in Nischni-Nowgorod wurden während der Dauer dieser Messe die Polizeibeamten in der Regel durch zahlreiche Kosaken unterstützt, die mit der Lanze über der Schulter in dieser Ansammlung von dreimalhunderttausend Fremden Ruhe und Ordnung aufrechterhielten. An diesem Tage war aber auf dem Hauptplatz von Militär, Kosaken oder anderem nichts zu sehen. Jedenfalls waren sie in Voraussicht eines plötzlichen Abmarsches in ihren Kasernen zusammengezogen worden. Wenn nun aber auch Soldaten nicht zu sehen waren, so verhielt es sich doch nicht ebenso mit den Offizieren. Seit dem verflossenen Tage jagten aus dem Palast des Generalgouverneurs Adjutanten nach allen Richtungen. Es herrschte also ein ungewöhnliches Leben und Treiben, wofür sich eine Erklärung einzig und allein in der ernsten Natur der Ereignisse fand. Auf den Strassen der Provinz wimmelte es förmlich von Eilboten, sowohl in der Richtung nach Wladimir wie in der Richtung nach dem Uralgebirge. Unaufhörlich flogen Telegramme zwischen Moskau und Sankt Petersburg hin und her. Die Lage von Nischni-Nowgorod unweit der sibirischen Grenze erforderte offenbar die ernstesten Vorsichtsmassregeln. Dass die Stadt im 14. Jahrhundert von den Vorfahren dieser Tataren, die jetzt Feofar-Khans Ehrgeiz durch die kirgisischen Steppen führte, zweimal gestürmt worden war, konnte nicht in Vergessenheit geraten. Ein weiterer hoher Herr, der nicht weniger in Anspruch genommen war und zu tun hatte als der Generalgouverneur, war der Polizeioberst. Seinen Kommissaren, denen vor allen Dingen oblag, die Ordnung aufrechtzuerhalten, die Beschwerden entgegenzunehmen, über die Befolgung der Erlasse und Verordnungen zu wachen, war gleich ihm keine Freizeit beschieden. Die Verwaltungsbüros waren bei Tag und Nacht geöffnet und unaufhörlich belagert, sowohl von den städtischen Einwohnern als auch von den Fremden, Europäern oder Asiaten.

Nun befand sich Michael Strogoff gerade auf dem Hauptplatz, als sich das Gerücht verbreitete, der Polizeioberst sei durch Eilboten in den Palast des Generalgouverneurs beordert worden. Ein aus Moskau eingetroffenes Telegramm von hoher Wichtigkeit sei, hiess es, Ursache zu diesem Befehl. Der Polizeioberst begab sich also in den Palast des Gouverneurs, und alsbald lief, gerade als ob die Ahnung hiervon in der Luft läge, die Neuigkeit unter der Bevölkerung herum, es sei irgendeine wichtige Massregel, deren sich niemand versehen hätte oder hätte versehen können, eine Massregel von höchst ungewöhnlichem Charakter, verhängt worden. Michael Strogoff hörte zu, was unter den Leuten gesprochen wurde, um nötigenfalls Nutzen hieraus für sich ziehen zu können.

„Man will die Messe schliessen!“ rief der eine.

„Das Regiment von Nischni-Nowgorod hat soeben Marschbefehl erhalten,“ versetzte ein anderer.

„Die Tataren sollen, wie es heisst, Tomsk bedrohen,“ erklärte ein dritter.

„Da kommt der Polizeioberst!“ rief es von allen Seiten. Ein gewaltiger Lärm war plötzlich entstanden. Allmählich legte er sich, und dann folgte allgemeine Stille. Jeder ahnte irgendeine wichtige Mitteilung von seiten des Gouvernements.

Der Polizeioberst war, seine Beamten ihm voraus, aus dem Palast des Generalgouverneurs getreten. Ein Kommando Kosaken bildete seine Begleitung und drängte die Menge mit Lanzenstössen beiseite, die mit rücksichtsloser Gewalt versetzt und mit beispielloser Geduld hingenommen wurden. Der Polizeioberst langte in der Mitte des Hauptplatzes an. Für alle sichtbar, schwenkte er ein Telegramm in der Hand. Mit lauter, überall verständlicher Stimme verlas er die folgende Bekanntmachung: „Erlass des Gouverneurs von Nischni-Nomgorod. Paragraph 1: Jedem russischen Untertan wird hierdurch verboten, den Fuss aus der Provinz zu setzen, gleichviel aus welcher Ursache. Paragraph. 2: Allen Nichtrussen asiatischer Abkunft wird hierdurch befohlen, die Provinz binnen 24 Stunedn zu verlassen.“

Der Kurier des Zaren

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