Читать книгу Der Kurier des Zaren - Jules Verne, Jules Verne - Страница 5

2. Russen und Tataren

Оглавление

Wenn der Zar so unvermutet — in dem Augenblick, als das Fest, das er den Zivil- und Militärbehörden und hervorragenden Persönlichkeiten von Moskau gab, in seinem vollen Glanz stand — sich aus den Sälen des Neuen Palais entfernte, so war der Grund dafür in dem Umstand zu suchen, dass sich jenseits der Grenzen des Urals zur Zeit sehr ernste Ereignisse abspielten. Es liess sich nicht mehr daran zweifeln, dass ein feindlicher Einfall dem russischen Zepter die sibirischen Provinzen zu entreissen drohte. Das asiatische Russland oder Sibirien bedeckt eine Oberfläche von 560 000 Meilen und zählt ungefähr zwei Millionen Einwohner. Es erstreckt sich vom Uralgebirge, das Russland von Europa scheidet, bis zu den Küsten des Stillen Ozeans. Im Süden wird es von Turkestan und China, stellenweis freilich in ziemlich unbestimmter Weise, begrenzt, und im Norden erstreckt sich, vom Karischen Meer bis zur Beringstrasse, das Eismeer. Das asiatische Russland war in Gouvernements oder Provinzen geteilt, und zwar in die von Tobolsk, Jenisseisk, Irkutsk, Omsk und Jakutsk; es umfasste zwei Distrikte, die von Ochotsk und von Kamtschatka, und besass zwei Landbereiche, die auch der moskowitischen Herrschaft unterworfen waren: die Kirgisensteppe und das Tschuktschenland. Dieses ungeheuer grosse Steppengebiet, das von Westen nach Osten über 110 Grade in sich einschliesst, war zugleich Deportationsstätte für Verbrecher und Verbannungsstätte für solche Personen, über die Landesverweis verhängt worden war.

Zwei Generalgouverneure waren die Vertreter höchster Zarengewalt in diesem weiten Landgebiet. Einer von ihnen residierte in Irkutsk, der Hauptstadt des östlichen Sibirien, der andere in Tobolsk, der Hauptstadt des westlichen Sibirien. Der Tschuma, ein Nebenfluss des Jenissei, scheidet beide Sibirien. Noch zog keine Eisenbahn ihren Strang durch diese unermesslichen Flächen, unter denen sich Gebiete von tatsächlich erstaunlicher Fruchtbarkeit befinden. Noch schaffte kein Förderwagen auf eiserner Schiene Riesenschätze aus den Bergwerken, die auf weite Strecken hin den sibirischen Boden reicher unter als auf seiner Oberfläche machen. Des Sommers reiste man dort im Tarantass oder in der Telega, des Winters im Schlitten. Eine einzige Verbindung, aber eine elektrische, bestand zwischen der West- und Ostgrenze Sibiriens, nämlich ein Draht von über 8000 Werst Länge (8536 Kilometer). Jenseits des Uralgebirges lief er durch Jekaterinburg, Kassimow, Tjumen, Ischim, Omsk, Jelamsk, Kolywan, Tomsk, Krasnojarsk, Nischni-Udinsk, Irkutsk, Werkne-Nertschinsk, Strelinsk, Albasin, Blagowstensk, Radde, Orlowskaja, Alexandrowskoj, Nikolajewsk. Für jedes bis an seinen Endpunkt laufende Wort mussten 6 Rubel und 19 Kopeken bezahlt werden. Von Irkutsk zweigte sich ein Sonderdraht ab nach Kjachta an der mongolischen Grenze, und von da, zu 30 Kopeken das Wort, schaffte die Post die Telegramme in 14 Tagen nach Peking. Dieser Draht von Jekaterinburg nach Nikolajewsk war es, der zuerst vor Tomsk und einige Stunden nachher zwischen Tomsk und Kolywan zerschnitten worden war — und darum hatte der Zar nach General Kissoffs zweiter Meldung bloss mit den Worten: „Auf der Stelle einen Kurier!“ geantwortet.

Der Zar stand seit einiger Zeit schon unbeweglich am Fenster seines Kabinetts, als die Pförtner von neuem die Tür öffneten. Der erste Chef der Polizei erschien auf der Schwelle. „Tritt ein, General,“ sprach der Zar kurz, „und sage mir alles, was du von Iwan Ogareff weisst!“

„Es ist ein äusserst gefährlicher Mensch, Sire,“ antwortete der erste Chef der Polizei.

„Er stand im Oberstenrang?“

„Zu Befehl, Sire!“

„War ein intelligenter Offizier?“

„Höchst intelligent, aber jeder Unterordnung abhold und von einem zügellosen Ehrgeiz, der vor nichts zurückschreckte. Er hat sich sehr bald in geheime Intrigen gestürzt, und auf Grund dessen ist er durch Seine Hoheit den Grossfürsten entlassen, dann nach Sibirien verbannt worden.“

„Zu welcher Zeit?“

„Vor zwei Jahren. Nach sechsmonatiger Verbannung wurde er durch Eure Majestät begnadigt und kehrte nach Russland zurück.“

„Und seit dieser Zeit ist er nicht wieder nach Sibirien gekommen?“

„Doch, Sire, diesmal jedoch freiwillig,“ versetzte der erste Chef der Polizei. Dann setzte er mit leicht gesenkter Stimme hinzu: „Es gab eine Zeit, Sire, wo man aus Sibirien nicht zurückkehrte, wenn man den Weg dahin gefunden hatte.“

„Nun, solange ich lebe, ist Sibirien ein Land und wird ein Land bleiben, aus dem man wiederkehrt!“

Der Zar war berechtigt, diese Worte mit wahrhafter Hoheit zu sprechen, denn er hatte durch seine Milde oft bewiesen, dass die russische Justiz auch Gnade kannte. Der erste Chef der Polizei gab keine Erwiderung, aber dass er kein Freund halber Massregeln war, war klar. Seiner Meinung nach sollte kein Mensch, der zwischen Gendarmen das Uralgebirge überschritten hatte, jemals den Fuss wieder rückwärts setzen. Solcher Grundsatz galt nun aber unter dem neuen Regiment nicht mehr, und das beklagte der erste Chef der Polizei aufrichtig. Wie? Keine Verbannung auf Lebenszeit mehr für andere Verbrechen als solche gegen gemeines Recht? Wie? Politische Verbannte kamen aus Tobolsk, Jakutsk, Irkutsk wieder? Fürwahr, diesem ersten Chef der Polizei, der an die selbstherrlichen Entscheidungen, die von Gnade nie etwas wussten, sattsam gewöhnt war, konnte solche Herrscherweise nicht behagen. Aber er schwieg, denn er wartete auf neue Fragen aus dem Munde des Zaren. Diese liessen auch nicht lange auf sich warten.

„Iwan Ogareff“, fragte der Zar, „ist zum zweiten Male nicht wieder nach Russland zurückgekehrt nach dieser Reise in die sibirischen Provinzen, über deren eigentlichen Zweck nichts bekannt geworden ist?“

„Er ist nach Russland zurückgekehrt.“

„Und seit seiner Rückkehr hat die Polizei seine Spuren verloren?“

„Nein, Sire, denn ein Verbannter wird wirklich gefährlich erst vom Tage seiner Begnadigung an.“

Des Zaren Stirn zog sich einen Augenblick in Falten. Vielleicht durfte der erste Chef der Polizei fürchten, zu weit gegangen zu sein — trotzdem die Verbohrtheit in seine Ideen in keiner Weise der grenzenlosen Hingabe, die er gegen seinen Herrn im Herzen trug, Abbruch tat. Aber der Zar, für dergleichen verblümte Vorwürfe gegen seine innere Politik nicht zugänglich, setzte die Reihe seiner Fragen kurz und bündig fort.

„Wo hielt sich Iwan Ogareff zuletzt auf?“

„Im Gouvernement Perm.“

„In welcher Stadt?“

„In Perm selbst.“

„Was trieb er dort?“

„Dem Anschein nach war er ohne Arbeit, und seine Aufführung gab zu Verdacht keinen Anlass.“

„Unter Polizeiaufsicht stand er nicht?“

„Nein, Sire.“

„Zu welcher Zeit hat er Perm verlassen?“

„Etwa im März.“

„Um sich wohin zu begeben?“

„Das ist nicht bekannt.“

„Und seitdem weiss niemand, was aus ihm geworden ist?“

„Niemand.“

„Nun, ich weiss es!“ antwortete der Zar. „Nachrichten, Winke, ohne Unterschrift, die den Weg nicht durch die Polizeibüros genommen haben, sind an mich gerichtet worden, und in Anbetracht der Dinge, die jetzt jenseits der Grenze vorgehen, habe ich allen Grund zu glauben, dass diese Nachrichten genau sind.“

„Ist der Sinn dieser Worte, Sire,“ rief der erste Chef der Polizei, „dass Iwan Ogareff die Hand bei diesem Einfall von Tataren im Spiel hat?“

„Jawohl, General, und ich will dir, was dir nicht bekannt ist, sagen. Iwan Ogareff hat, nachdem er dem Gouvernement von Perm den Rücken gewandt, das Uralgebirge überstiegen, hat sich nach Sibirien in die Kirgisensteppen begeben und hat dort, nicht ohne Erfolg, die nomadischen Völker aufzuwiegeln versucht. Er ist dann weiter nach Süden gegangen, bis hinunter ins freie Turkestan. Dort hat er in den Khanaten von Bochara, Khokhand und Kundus Häuptlinge willig gefunden, ihre tatarischen Horden in die sibirischen Provinzen zu werfen und in ganz Asien einen gemeinsamen Aufstand gegen das russische Reich zu entflammen. Die Bewegung ist im geheimen genährt worden, aber sie ist wie ein Blitzschlag hereingebrochen, und jetzt sind die Verbindungswege und Verkehrsmittel zwischen West- und Ostsibirien abgeschnitten. Zudem will Iwan Ogareff, von Rachedurst getrieben, sich an dem Leben meines Bruders vergreifen.“

Der Zar war warm geworden beim Reben und ging mit grossen Schritten auf und ab. Der erste Chef der Polizei gab keine Antwort, aber abseits für sich sprach er, dass damals, als die russischen Zaren gegen einen Verbannten niemals Gnade walten liessen, solche Pläne wie diejenigen Iwan Ogareffs niemals hätten zur Ausführung kommen können. Ein paar Minuten lang herrschte Schweigen. Dann trat der erste Chef der Polizei zu dem Zaren, der sich in einen Sessel geworfen hatte, und sagte: „Majestät haben zweifellos Befehle erteilt, dass dieser Aufstand schleunigst unterdrückt werde?“

„Ja,“ versetzte der Zar. „Das letzte Telegramm, das nach Nischni-Udinsk gelangen konnte, hat die Truppen der Gouvernements Jenisseisk, Irkutsk, Jakutsk, auch die der Provinzen Amur und vom Baikalsee alarmieren müssen. Gleichzeitig marschieren die Regimenter von Perm und Nischni-Nowgorod und die Grenzkosaken in Gewaltmärschen nach dem Uralgebirge. Leider werden sie aber mehrere Wochen Zeit brauchen, ehe sie sich den Kolonnen der Tataren werden gegenüberstellen können.“

„Und der Bruder Eurer Majestät, der Grossfürst, der zur Zeit im Gouvernement Irkutsk eingeschlossen ist, hat mit Moskau keine Verbindung mehr?“

„Nein.“

„Aber aus den letzten Telegrammen muss ihm doch bekannt sein, welche Massregeln von Eurer Majestät getroffen worden sind, und welche Hilfe er von den Irkutsk zunächst gelegenen Gouvernements erwarten darf?“

„Das weiss er,“ erwiderte der Zar, „aber was er nicht weiss, ist dies: dass Iwan Ogareff neben seiner Rebellenrolle die Berräterrolle spielt, und dass er in ihm einen persönlichen und blutdürftigen Feind hat. Dem Grossfürsten hat Iwan Ogareff zuzuschreiben, dass er in Ungnade fiel, und was von noch grösserem Ernst ist, der Grossfürst kennt den Menschen nicht. Iwan Ogareffs Plan ist, sich nach Irkutsk zu begeben und dort unter falschem Namen dem Grossfürsten seine Dienste anzubieten. Wenn er dann sein Vertrauen gewonnen hat, und wenn die Tataren in Irkutsk eingedrungen sein werden, wird er die Stadt und mit ihr meinen Bruder ausliefern, dessen Leben damit bedrohtv ist. Das sind die Dinge, die ich aus meinen Berichten weiss — das ist es, was der Grossfürst nicht weiss — und das ist es, was der Grossfürst wissen muss!“

„Nun denn, Sire, ein kluger, mutiger Kurier . . .“

„Auf ihn rechne ich.“

„Und beeilen soll er sich,“ setzte der erste Chef der Polizei hinzu, „denn, geruhen Sire, mir die Bemerkung zu erlauben, diese sibirische Erde ist ein günstiger Boden für Rebellionen.“

„Meinst du, General, dass die Verbannten mit den Verbrechern gemeinsame Sache machen könnten?“ rief der Zar, der angesichts solcher Andeutung des Polizeichefs die Herrschaft über sich verlor.

„Majestät geruhen zu entschuldigen,“ stotterte der erste Chef der Polizei, denn wirklich war dies der Gedanke, den ihm sein unruhiger und misstrauischer Geist eingegeben hatte.

„Ich traue den Verbannten doch mehr Patriotismus zu,“ erwiderte der Zar.

„Es gibt andere als politische Verbannte in Sibirien,“ bemerkte der Polizeichef.

„Die Verbrecher! O, General, die überlasse ich dir. Das ist der Abschaum des menschlichen Geschlechts, die haben kein Vaterland. Aber der Aufstand oder die Rebellion vielmehr ist nicht gegen den Kaiser gerichtet, sondern gegen Russland, gegen dieses Land, auf dessen Wiedersehen die Verbannten nicht völlig Verzicht geleistet haben — und das sie wiedersehen werden . . .! Nein, niemals wird sich ein Russe mit einem Tataren verbünden, und wäre es bloss auf eine Stunde, um die moskowitische Macht zu schwächen!“

Der Zar glaubte mit Recht an den Patriotismus derjenigen, die seine Politik zeitweilig des Landes verwiesen hatte. Die Milde war die Grundlage seiner Justizpflege, und solange es in seiner Hand lag, sie zu ermessen und zu üben, verbürgten ihm die erheblichen Vergünstigungen, die er bei der Ausführung der ehedem so schrecklichen Urteile walten liess, dass er auf falschem Wege sich nicht befinden konnte. Aber selbst wenn dem tatarischen Einfall diese mächtige Hilfe nicht zuteil wurde, blieben die Dinge noch immer äusserst ernst, denn es stand zu befürchten, dass ein grosser Teil der kirgisischen Bevölkerung sich zu den eindringenden Haufen schlagen würde.

Die Kirgisen zerfielen in drei Horden, die grosse, die kleine und die mittlere, und zählten etwa 400 000 Zelte oder zwei Millionen Seelen. Von diesen verschiedenen Stämmen waren manche unabhängig, andere erkannten die russische Oberhoheit an oder diejenige der Khanate von Khiwa, Khokhand und Bochara, also der gefürchtetsten Häuptlinge von Turkestan. Die mittlere Horde, die reichste, war zugleich die bedeutendste, und ihre Lagerplätze nahmen den ganzen Raum ein zwischen den Wasserläufen des Sara-Su, des Irtysch, des oberen Ischim, des Hadisangund des Aksakal-Sees. Die grosse Horde, die die östlich von der mittleren Horde gelegenen Gegenden besetzt hielt, erstreckte sich bis zu den Gouvernements Omsk und Tobolsk. Wenn sich also diese kirgisischen Völker erhoben, so bedeutete das die Überflutung von Russisch-Asien und in erster Linie die Abtrennung Sibiriens östlich vom Jenissei. Allerdings waren diese Kirgisen in der Kriegskunst noch grosse Neulinge und plünderten lieber nächtlicherweile oder überfielen Karawanen, als dass sie regulären Kriegsdienst verrichteten. Wie Lewschin von ihnen gesagt hat: „Eine geschlossene Front oder ein tüchtiges Infanteriekarree widersteht einer zehnmal zahlreicheren Kirgisenmasse, und eine einzige Kanone kann ihrer eine schreckliche Menge vernichten.“ Das mochte wohl sein, aber vorerst musste solch tüchtiges Infanteriekarree in dem aufständischen Lande sein, und die Feuerschlünde mussten aus den Artillerieparks der russischen Provinzen die 2000 bis 3000 Werst Entfernung zurückgelegt haben. Bis auf die direkte. Linie Jekaterinburg—Irkutsk waren nun aber die häufig sumpfigen Steppen nicht leicht passierbar, und es würden ganz sicher mehrere Wochen verstreichen, bevor sich die russischen Truppen in die Lage gesetzt sehen konnten, die tatarischen Horden zurückzudrängen.

Omsk war der Mittelpunkt des westlichen Sibirien, dessen Aufgabe es war, die Kirgisenbevölkerung in Respekt zu halten. Dort lagen die Grenzbezirke, die diese nur teilweise unterjochten Nomaden mehr als einmal verwüstet hatten, und im Kriegsministerium hatte man allen Grund zu der Annahme, dass Omsk bereits stark bedroht würde. Die Kette der Militärkolonien, nämlich jene Kosakenposten, die von Omsk bis Semipalatinsk staffelweise verteilt waren, musste an mehreren Punkten bereits überrumpelt worden sein. Nun stand aber zu befürchten, dass die über die kirgisischen Distrikte herrschenden „Grosssultane“ der Herrschaft der gleich ihnen muselmanischen Tataren entweder sich freiwillig gefügt hatten oder sich unfreiwillig hatten fügen müssen, und dass sich dem durch die Unterjochung wachgerufenen Hass jener andere Hass beigesellen würde, der aus dem Gegensatz zwischen griechisch-orthodoxer und muselmanischer Religion geboren wird. Seit langer Zeit suchten nämlich die Tataren Turkestans, und hauptsächlich diejenigen der Khanate von Bochara, Khokhand und Kundus, sowohl im Wege der Gewalt als durch Überredung, die kirgisischen Horden der moskowitischen Herrschaft abtrünnig zu machen.

Nur ein paar Worte über diese Tataren. Das Volk der Tataren gehört, genauer gesagt, zwei unterschiedlichen Rassen an, nämlich der kaukasischen und der mongolischen Rasse. Die kaukasische Rasse vereinigt unter ein und derselben Bezeichnung die Türken und die Eingeborenen persischen Ursprungs. Die rein mongolische Rasse begreift die Mongolen, die Mandschu und die Tibetaner. Die Tataren, die damals das russische Reich bedrohten, waren kaukasischer Rasse und Hausten vorwiegend in Turkestan. Dieses geräumige Land war in verschiedene Staaten abgeteilt, die durch Khans beherrscht wurden, woher die Benennung Khanat rührt. Die hauptsächlichsten dieser Khanate waren: Bochara, Khiwa, Khokhand, Kundus und so weiter. Zu dieser Zeit war das bedeutendste und gefürchtetste dieser Khanate Bochara. Mit dessen Fürsten oder Häuptlingen hatte Russland schon wiederholt Kämpfe führen müssen. Teils aus persönlichem Interesse, teils um die Kirgisen unter ein anderes Joch zu beugen, hatten sie die Unabhängigkeit derselben gegen die Herrschaft der Moskowiter aufrechterhalten. Der gegenwärtige Fürst oder Häuptling, Feofar-Khan, wandelte in den Bahnen seiner Vorgänger. Dieses Khanat von Bochara erstreckte sich von Norden nach Süden zwischen dem 37. und dem 41. Breitengrad, und von Ost nach West zwischen dem 61. und 66. Längengrad, das heisst, über eine Fläche von etwa 10 000 Quadratmeilen. Man zählte in diesem Staate eine Bevölkerung von 2½ Millionen Einwohnern, ein Heer von 60 000 Mann Fussvolk (Sarbassen), das zu Kriegszeiten verdreifacht war, und von 30 000 irregulären Reitern. Im Schutze seiner Gebirge, bei der durch seine Steppen bewirkten Abgeschlossenheit bildete es ein furchtbares Staatswesen, und Russland würde sich gezwungen sehen, ihm ganz bedeutende Streitkräfte gegenüberzustellen.

Feofar-Khan, ruhmsüchtig und blutdürstig, hatte sich an die Spitze des Aufstandes gestellt, dessen Seele Iwan Ogareff war. Unter seinem Einfluss hatte der Emir — so lautete der Titel, den die Khans von Bochara führten — seine Horden über die russische Grenze geworfen. Er war in das Gouvernement Semipalatinsk eingefallen, und die Kosaken, die sich an diesem Punkt in zu schwacher Anzahl befanden, hatten vor ihm zurückweichen müssen. Er war über den Balkasch-See vorgedrungen und hatte die kirgisischen Völker auf seinem Zuge mit sich fortgerissen.

Wo weilte er in diesem Augenblick? Bis wohin waren seine Krieger zu der Zeit gedrungen, als die Nachricht von dem Einfall in Moskau eintraf? Bis zu welchem Punkte Sibiriens hatten die russischen Truppen zurückweichen müssen? Das zu sagen, war nicht möglich. Die Verbindungen waren unterbrochen. War der Draht zwischen Kolywan und Tomsk von Plänklerkolonnen des tatarischen Heeres zerschnitten worden, oder war der Emir bis in die Provinzen des Jenisseisk vorgedrungen? Stand das ganze westliche Unterland von Sibirien in Flammen? Erstreckte sich der Aufstand schon bis in die östlichen Regionen? Auch das liess sich nicht sagen. Der einzige Bote, der weder Kälte noch Feuer fürchtet, den weder die Strenge des Winters noch die Hitze des Sommers aufhalten kann, der mit der Geschwindigkeit des Blitzes fliegt, der elektrische Strom war nicht mehr durch die Steppe zu leiten, und den in Irkutsk eingeschlossenen Grossfürsten von der Gefahr zu benachrichtigen, die ihm durch Iwan Ogareffs Verrat drohte, war nicht mehr möglich. Bloss ein Kurier konnte den unterbrochener Strom ersetzen. Solcher Mann würde, um die 5200 Werst (5523 Kilometer) zu bezwingen, die zwischen Moskau und Irkutsk liegen, einer gewissen Zeit benötigen. Um sich durch die Kolonnen der Aufständischen und feindlichen Eindringlinge den Weg zu bahnen, würde er einen Mut und eine Intelligenz aufbieten müssen, die gewissermassen ans Übermenschliche streifen würden . . . Aber wer Kopf und Herz auf dem rechten Fleck hat, der kommt weit in der Welt!

„Werde ich solchen Mann mit Kopf und Herz auf dem rechten Fleck finden?“ Diese Frage stellte sich der Zar.

Der Kurier des Zaren

Подняться наверх