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Gegenwart

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Als mich ein hupender LKW unsanft aus meinem Schlaf riss, war es schon weit nach neun. Verdammt. Scheinbar waren mir nach meiner Putzaktion noch einmal die Augen zugefallen. Fluchend schwang ich meine Beine aus dem Sessel in meinem Schlafzimmer, in welchem ich mich mit dem ursprünglichen Plan niedergelassen hatte, den anbrechenden Tag abzuwarten und nicht mehr wegzunicken. Der abrupte Aktionismus entpuppte sich als etwas zu schwungvoll für meinen Kreislauf, denn sofort wurde mir schummerig vor Augen und ich ließ mich zurück auf das Polster sinken. Tief durchatmen. Ganz langsam. Ich versuchte, mich zu beruhigen, wusste aber gleichzeitig, dass mir meine Stresssituation eigentlich keine Ruhe erlaubte. Mein Handy zeigte die geöffnete Wecker-App. Da hatte ich im Halbschlaf wohl etwas zu oft auf die Snooze-Taste gedrückt. Kein Wunder aber auch, wenn man die halbe Nacht damit beschäftigt gewesen war, die Scherben des besten Freundes aufzusammeln – im wahrsten Sinne des Wortes. Um Zeit zu gewinnen, schickte ich eine SMS an meinen Chef, der zum Glück nicht nur ein Mobiltelefon besaß, sondern dieses auch tadellos bedienen konnte und das, obwohl er vor kurzem die Siebzig überschritten hatte. Endlich zahlten sich meine wiederholten Bemühungen, ihn mit dem kleinen Gerät vertraut zu machen, aus. Normalerweise, unter der Prämisse, dass in dieser Nacht kein desolater Musiker in meine Wohnung getorkelt wäre, hätte ich, wie an jedem Werktag, in spätestens zwanzig Minuten im Laden sein und eine neue Lieferung Bücher annehmen müssen. Das konnte ich heute wohl knicken. Ich angelte mir eine Hose und einen Pullover aus dem Schrank und zog noch auf dem Weg ins Bad das Oberteil an. Während ich auf einem Bein hüpfend versuchte, in die Jeans zu schlüpfen, entdeckte ich, dass mein nächtlicher Besuch bereits verschwunden war. Er hätte mich ja ruhig mal wecken können, dieser Nichtsnutz. Leise fluchend und immer noch hüpfend, schaffte ich es ins Bad. Mit der Zahnbürste im Mund band ich mir meine blonden Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen und tupfte Concealer auf meine deutlichen Augenringe. Frühstück musste wohl leider ausfallen. Die besten Voraussetzungen für diesen verfluchten Freitag.

Abgehetzt und immer noch schlecht gelaunt, erreichte ich meinen Arbeitsplatz: Den kleinen Secondhand-Buchladen im Kiez, den ich so sehr liebte und in dem ich meine berufliche Erfüllung gefunden hatte. Da die Ladentür offen und unsere Außenregale bereits vor der Tür standen, ging ich davon aus, dass mein Chef rechtzeitig vor Ort gewesen war. Im Stillen schöpfte ich die Hoffnung, dass er sich dadurch wieder mehr gebraucht fühlen würde. Anfangs von ihm mental eher als Aushilfskraft eingestellt, lag das Zepter der Organisation inzwischen fest in meiner Hand, was den älteren Herren einerseits entlastete, aber andererseits auch zusehends mitnahm. Ich fragte mich manchmal, wie lange es wohl noch dauern würde, bis er sich final zur Ruhe setzte und hoffte, dass mein beruflicher Traum nicht schneller ausgeträumt als ausgelebt war. »Na wach?« Seine verschmitzten Augen standen im Kontrast zu der Strenge, die er in Bezug auf Pünktlichkeit und Fleiß normalerweise an den Tag legte. »Es tut mir so leid! Ich habe den Wecker nicht gehört. Hat das mit der Annahme geklappt?« Nervös strich ich mir den Pony hinters Ohr, doch er grinste nur wissend: »Jaja, ich wäre auch gerne noch einmal jung. Aber immerhin bin ich noch fit genug, um die Arbeit in meinem Laden zu erledigen, die ich die letzten 50 Jahre erledigt habe, nicht wahr?« Er schenkte mir noch einen milden Blick über den Rand seiner goldenen Brille hinweg, drehte sich um und verschwand hinter einer hohen Regalreihe mit Bildbänden der Antike. Das machte er oft: Rumorte stundenlang zwischen den Büchern und tauchte nur auf, wenn er Kaffeedurst oder Kuchenhunger verspürte.

Sofort fiel der Stress von mir ab. Ich atmete einmal tief durch und begab mich in der kleinen Küche auf die Suche nach einem koffeinhaltigen Heißgetränk. Während die Maschine mit eher ungesunden Geräuschen warm lief, hing ich mal wieder meinen Gedanken nach. Zwar spürte ich, seit ich im Buchladen angefangen hatte, nicht mehr den gleichen Erfolgsdruck wie früher, aber es war mir trotzdem wichtig, dass mein Chef mich für zuverlässig hielt, was vor allem daran lag, dass er sich für meine Festanstellung finanziell etwas krummlegen musste. Mein Handy summte, bevor ich weiter in meine Spirale aus Zukunftsangst und Vergangenheitsbewältigung abdriften konnte. Ich brauchte einen Moment, um das aggressiv vibrierende Smartphone in meiner wild zusammengeworfenen Tasche zu finden. Jedes Mal das gleiche Spiel. Doch noch bevor ich es in die Finger bekam, war es auch schon wieder verstummt. Ich ignorierte, wie so oft, den gerade glücklicherweise verpassten Anruf meiner Mutter und öffnete stattdessen meine Nachrichten, scrollte zum richtigen Chatfenster und tippte »Ich bin 10.000 sauer.« Es war genau die richtige Maßeinheit, um meinem besten Freund zu verdeutlichen, dass ich ihm keine netten Grüße, sondern einen doppelten Mittelfinger zudachte. Daraufhin ließ ich das Handy wieder in der Tasche verschwinden, schließlich wollte ich nicht auch noch dadurch negativ auffallen, dass ich mit den Augen am Bildschirm klebte. Bis zu meiner Mittagspause katalogisierte und sortierte ich die neu eingetroffenen Bücher in die entsprechenden Regale. Kunden kamen meistens erst gegen Nachmittag, wenn sich die Touristen mit vollgegessenen Bäuchen und plattgelaufenen Füßen auf die Suche nach besonderen Schätzen begaben.

Seit kurzem gab es nebenan einen neuen Laden, dessen Konzept es war mega-gesundes Essen anzubieten. Die Gentrifizierung hatte Neukölln mittlerweile vollumfänglich erreicht. Bisher war es mir sehr gut gelungen, einen großen Bogen um diesen neuen Gewinn zu machen, doch heute packte mich plötzlich die Lust auf einen Salat und den passenden Smoothie. Mit meiner Beute und dem mittlerweile dritten und kein bisschen gesunden Kaffee des Tages machte ich es mir in der lauen Sommerluft vor dem Laden gemütlich. Um den Moment festzuhalten und mit meinen bahnbrechenden hundert Followern zu teilen, öffnete ich Instagram. Dabei entging mir nicht, dass Alex bereits auf meine Nachricht reagiert hatte, statt sich wie üblich ewig lange Zeit zu lassen, als wären die zwei blauen Häkchen für mich kein deutliches Indiz. Er war der einzige Mensch, den ich kannte, der es schaffte, die Messenger-App wieder zu schließen und sich etwaige Antworten für später aufzuheben. Manchmal bewunderte ich ihn dafür, doch meistens machte es mich einfach nur wütend. Ich pikste mit der umweltfreundlichen Bambusgabel in meinen Salat, schob mir den Bissen in den Mund und öffnete den Chatverlauf »Tut mir leid. War ein bisschen wild gestern. Ich mach’s heute Abend wieder gut, okay? 21 Uhr Eckkneipe, davor Pizza?« Kauend schüttelte ich den Kopf und legte die Stirn in Falten. Alex war ein Idiot, aber er wusste genau, dass er bei mir mit Pizza die meisten Verfehlungen wieder ausbügeln konnte. »Mit extra Käse und du bezahlst. Ich bin wirklich sauer.« Eigentlich war meine Wut längst verraucht, aber das musste er ja nicht wissen. Ein bisschen konnte ich ihn noch zappeln lassen. Vielleicht würde das schlechte Gewissen ja für einen kleinen Denkanstoß reichen. »Bist du eh nicht. Bin ich viel zu süß für«, konterte er prompt und löste bei mir akutes Augenrollen aus. Er konnte manchmal so unangenehm von sich selbst überzeugt sein und trotzdem brachte er mich damit jedes Mal zum Schmunzeln. Da ich nicht davon ausging, dass er eine weitere subtile Beleidigung von mir korrekt aufnehmen würde, schickte ich ihm ganz plakativ ein Mittelfinger-Emoji. Nichts anderes hatte er sich verdient.

»Hier für dich.« Ich drückte dem verdutzten Alex ein Buch in die Hand und schob mich an ihm vorbei in seine Wohnung. »Ich hoffe, du hast schon bestellt, ich sterbe vor Hunger. Ich habe heute diese neue Salatbar ausprobiert und ich mach’s kurz: Alles widerlich da.« Theatralisch seufzend sank ich auf seine Couch und streifte meine Vans von den Füßen. »The Great Gatsby? Echt jetzt?« Alex stand immer noch etwas verloren im Flur rum und drehte das Buch in seinen Händen. »Ja, ich dachte es passt ganz gut zu deinem Auftritt gestern Abend. Vielleicht liest du mal was darüber und bildest dich weiter.« Mit meinem flapsigen Tonfall kaschierte ich geschickt die Sorge, die in meinem Satz mitschwang. Mittlerweile kannte ich Alex gut genug um, um zu wissen, dass er sofort dicht machte, sobald jemand ernsthafte Kritik an seinem Lebenswandel übte. Und obwohl wir uns blind vertrauten, war ich davon nicht ausgenommen. Da klappte es mit einem Wink oder auch einem gezielten Schlag mit dem Zaunpfahl meistens besser. Es war schon verrückt, trotz der Tatsache, dass wir beide auf unsere ganz unterschiedlichen Arten kompliziert, seltsam und eigen waren, hatten wir es irgendwie geschafft, Freunde zu werden.

»Danke, ich pack es mir für die nächste ewig lange Nightliner-Fahrt ein.« Er legte das Buch auf ein Regalbrett, das über einer Kommode im Wohnzimmer angebracht war. Staub wirbelte auf. Ich hatte so meine Zweifel daran, dass er im Tourbus auch nur eine Silbe las, wollte es aber auch nicht direkt infrage stellen. Stattdessen ging ich auf den Themenwechsel ein. »Wann geht’s los?«, fragte ich, zog die Beine an und umschlang sie mit meinen Armen. »Nächstes Wochenende aber nur zehn Tage. Bin aber eigentlich froh drüber, wir wollen nämlich auch langsam mal wieder anfangen regelmäßiger zu proben. Willst du was trinken?« Ich nickte und er verschwand in die Küche. Alex’ eigene Band hatte vor kurzem ein neues Album fertiggestellt und sich im Anschluss etwas Urlaub voneinander gegönnt. In dieser Zeit hatten wir uns viel öfter gesehen, als es normalerweise möglich war, wenn er als Tontechniker mit irgendeiner Musikgruppe durch die Weltgeschichte gondelte. Und obwohl ich mich selbst für die beste Gesellschaft überhaupt hielt, war mir nicht entgangen, dass er seine Freunde und das Musikmachen vermisste. »Klingt gut. Endlich hängst du mir nicht mehr so sehr auf der Pelle. Vor allem nicht nachts um vier«, rief ich ihm in den leeren Flur hinterher und als er mit zwei Flaschen Bier wieder im Türrahmen erschien, hatte er als non-verbale Antwort einen schmollenden Hundeblick aufgesetzt. Er reichte mir das kalte Bier und ließ sich neben mir auf die Couch fallen. Als ich ihn leicht gegen die Schulter boxte, machte er eine ausladende Entschuldigungsgeste mit den Händen. »Passiert, ne.« Das spitzbübische Lächeln zeichnete kleine Fältchen um seine Augen und die Grübchen, die sich um seine Mundwinkel bildeten, machten es mir unmöglich, wirklich böse auf ihn zu sein. Ich seufzte schwer. »Los, lass’ uns endlich bestellen und wehe du vergisst den Extra-Käse.«

Die Eckkneipe war an diesem Freitagabend wie immer gut besucht, hauptsächlich von Menschen aus Alex’ Musikeruniversum, die mir zwar grüßend zunickten aber keinen Hehl daraus machten, dass meine Begleitung der eigentliche Grund für ihre Freundlichkeit war. Bereits nach wenigen Sekunden verlor ich Alex an eine Gruppe Dudes, die ihn lachend in die Arme schlossen. Glücklicherweise entdeckte ich am Tresen auch meine beste Freundin Sophie, die nach einem kleinen karrieretechnischen Abstecher nach München, mittlerweile schon seit einigen Jahren wieder in der Hauptstadt lebte. Mit ihrem Schickeria-Look, den sie selbstbewusst auch in der ranzigen Kneipe trug, hob sie sich wie ein Paradiesvogel vom restlichen, typischen Eckkneipen-Publikum ab und bestach dennoch durch ihre unantastbare Trinkfestigkeit, die sie gerade bei einer Runde Tequila mit Mitgliedern aus Alex’ Band mal wieder unter Beweis stellte.

»Ist sie nicht einfach umwerfend?«, flüsterte mir Felix, der Barkeeper, zu, als ich mich über den Tresen lehnte, um gleich zwei Rum-Cola zu bestellen. Ich versuchte ein aufmunterndes Lächeln, aber es gelang mir nicht, das gesamte Mitleid, dass ich für den armen Kerl empfand, daraus zu verbannen. Seit Sophie das erste Mal auf ihren rot-besohlten Highheels über den verklebten Fliesenboden an seinen Tresen gestöckelt war, blinkten sehr offensichtliche Herzchen in seinen Augen. »Weißt du, ob sie momentan jemanden hat?« Ich folgte seinem verträumten Blick, nicht gewillt ihm irgendwelche Hoffnungen zu machen oder zu nehmen. Was Sophie wollte, wusste nur Sophie. Daraus war ich in den letzten 28 Jahren nicht schlau geworden und würde es vermutlich auch niemals werden. »Rum-Cola. Zwei«, wiederholte ich daher wenig diplomatisch meine Bestellung und klopfte mit der Hand ungeduldig auf den Tresen. Während Felix sich ertappt aus seiner Trance löste, hatte mich meine beste Freundin nun ebenfalls entdeckt, verabschiedete sich aus der Schnapsrunde und griff nach ihrem Glas.

»Na Hase, was macht das Leben?« Sophie angelte sich den Barhocker neben mir und nippte an ihrem Gin Tonic. »Das sollte ich wohl eher dich fragen. Was war das gestern Abend für eine Nachricht über deinen Chef? Er hat was gemacht?« Bevor Sophie mir antworteten konnte, steckte Alex seinen Kopf zwischen uns. »Buuuh! Es ist verboten hier über die Arbeit zu reden. Wir sind hier nicht beim After-Work-Ü40.« Er fuhr sich mit der Hand durch die langen Haare und klaute mir einen Schluck aus meinem Getränk, dass Felix mir inzwischen in die Hand gedrückt hatte. »Nur weil du keinen richtigen Job hast, mein Schatz.« Ich wuschelte ihm über den Kopf, etwas, was er auf den Tod nicht ausstehen konnte. Seine blauen Augen funkelten mich genervt an, als er sein Haupt meiner Reichweite entzog, indem er sich aufrichtete. »Ich finde aber, der Herr Rockstar hat völlig recht«, sprang Sophie ihm bei. »Wir sollten sowieso weniger reden und mehr trinken! Tequila zum Beispiel!« Sie streckte einen perfekt manikürten Finger in Felix’ Richtung, der diesem Wunsch nur zu gerne nachkam und bevor ich mich versehen konnte, hatte ich bereits Salz auf meinem Handrücken verteilt und abgeleckt.

Mehrere Runden Mischgetränke und Schnaps später, bahnte ich mir einen Weg zur Toilette, als ich drei Kumpels von Alex, die ich vage anderen Bands zuordnen konnte, in der offenen Tür zum Herrenklo stehen sah. Der Raum war so winzig, dass sie nicht alle zusammen hineinpassten. Es war alles andere als diskret und ich konnte mir sehr gut vorstellen, was da gerade abging, verbot mir aber, einen genaueren Blick darauf zu werfen. Man musste kein Mitglied der Branche sein, um zu wissen, dass sie es einem ziemlich leicht machte an diverse Substanzen zu kommen und trotzdem fand ich es jedes Mal wieder befremdlich. Mit einem schroffen »Hi« machte ich über die Musik hinweg, die aus der Kneipe drang, auf mich aufmerksam. Keiner der Jungs wirkte ertappt, vielmehr schienen sie mein Auftauchen als Ergänzung ihrer kleinen Privatparty zu sehen. »Möchtest du?«, bot mir einer von ihnen, dem ich ein paar Mal nach einem Konzert begegnet war, nun großzügig eine Line an, die er bereits zurechtgeschoben hatte. Er wirkte so ehrlich freundlich und offen, dass mir kurz die Worte fehlten, obwohl ich eigentlich einiges zu sagen gehabt hätte. Doch ich hielt mich zurück, wohlwissend, dass ein bissiger Kommentar wenig ändern und im Anschluss irgendwann bei Alex landen würde. Im Prinzip ging es mich auch gar nichts an, was sie hier trieben. Sollten sie sich doch ihre Gesundheit ruinieren. »Nein, danke.« Ablehnend schüttelte ich den Kopf und schloss quietschend die Tür zur Damentoilette hinter mir.

Ruhm und Cola

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