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Alles, was ich wollte - Autobiografie

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Draußen wird es dunkel. Die Farben verblassen und alles wirkt grau und trist. Die Wolken ziehen sich zusammen und der Regen beginnt gegen mein Fenster zu prasseln. Das Geräusch beruhigt mich, während ich auf der Fensterbank sitze und sich der Duft meines Früchtetees im Wohnzimmer ausbreitet. Die Flamme der Kerze auf dem Couchtisch flackert, als ob sie gegen irgendetwas ankämpfen müsste. Im Hintergrund erklingt das Lied „Don't walk away“ von Liam Doyle. Der Klang seiner Stimme geht mir tief unter die Haut. Meine Gedanken schweifen ab und ich verliere mich in den Zeilen des Liedes.

Ich schaue auf die Straße hinaus. Überall packen Menschen verzweifelt ihre Regenschirme aus, weil sie versuchen, den Regentropfen zu entkommen. So, als ob sie vor dem Wasser, das vom Himmel fällt, weglaufen müssten, als ob es etwas Gefährliches wäre. Die Regentropfen verbünden sich und werden zu einem kleinen Bach, der am Bürgersteig entlangfließt. Er nimmt den ganzen Schmutz von der Straße mit und verbannt ihn in die Kanalisation.

Ich beobachte häufig die Welt, ohne wirklich ein Teil von ihr zu sein. Ich schließe meine Augen und versuche, mich auf meine Atmung zu konzentrieren. Die Zeile des Liedes, in der Liam beschreibt, dass man nicht weglaufen soll, wenn es noch so viel zu gewinnen gibt, bleibt wie eine Endlosschleife in meinem Kopf hängen.

Mein Blick geht zu meinem Verlobungsring, den ich immer noch trage. Er erinnert mich an alles, was ich jemals wollte: Geborgenheit, Sicherheit, Liebe. Doch er symbolisiert nur noch das, was ich verloren habe. Selbst nach vier Jahren habe ich es nicht geschafft, ihn abzulegen.

Ich habe Angst davor, mich mit meinen Gefühlen und meiner Vergangenheit auseinanderzusetzen, weil ich befürchte, dass es mich innerlich zerreißen würde, wenn ich die Traurigkeit und den Schmerz zulassen würde. Ich verstecke mich lieber vor meinen Emotionen, vor der Welt und vor den Menschen. Die meisten von ihnen würden mich als kalt oder herzlos beschreiben. Dabei versuche ich lediglich, meine Seele zu beschützen. Das war nicht immer so. Es gab Zeiten, in denen ich derart glücklich war, dass ich mich sogar als gesegnet bezeichnet hätte. Aber leider scheinen mein Glück und meine Lebensfreude eng mit Verlust, Schmerz und Einsamkeit verbunden zu sein. Das ist zumindest meine Lebenserfahrung, weshalb ich versuche, das Gute nicht mehr hereinzulassen. Es scheint der einzige Weg zu sein, um das Böse aus meinem Leben zu verbannen. Denn die schmerzhaften Ereignisse verfolgen mich und ich kann ihnen nicht entkommen. Dabei habe ich versucht zu kämpfen, ich habe versucht, nicht aufzugeben. Mich nicht aufzugeben. Aber im Grunde bin ich mein ganzes Leben lang nur weggelaufen. Vor meiner Vergangenheit, vor mir selbst, vor allem aber vor Menschen, die es wagten, mich lieben zu wollen.

Mein Glaube daran, dass gütige und freundliche Menschen existieren, geriet schon häufig ins Wanken. Doch diesmal fällt es mir schwerer, wieder den richtigen Pfad einzuschlagen, um mich selbst wieder finden zu können. Denn die jüngsten Ereignisse haben ein tiefes Loch in mein Herz gerissen und der Selbstzweifel breitet sich wie eine Infektion in mir aus. Ich fühle mich so mies, so unwürdig, geliebt zu werden und diese Gedanken reißen mich immer wieder in einen tiefen emotionalen Abgrund.

Dabei gab es einmal Zeiten, in denen ich davon überzeugt war, dass die Welt mehr Menschen braucht, die anderen Hoffnung und Liebe schenken, weil sie nur dadurch zu einem besseren Ort werden würde. Daran habe ich fest geglaubt, weshalb ich selbst mein Bestes gab, um solch ein Mensch zu sein. Tief in meinem Inneren glaube ich auch noch immer daran. Allerdings fühlt es sich zurzeit so an, als ob ich kein Teil dieser Welt mehr wäre. Als ob mein Versuch, trotz aller Widerstände selbst ein moralischer Mensch zu sein, ein Kampf gegen Windmühlen ist, den ich nur verlieren kann. Vielleicht liegt der Sinn des Lebens gar nicht darin, Glück zu finden.

„Aber woraus soll er sonst bestehen?“

Die Frage nach dem Sinn des Lebens, meines Lebens, quält meinen Geist seit Jahren. Genau genommen seit dem Tag, seit welchem ich mich selbst im Kontext der Welt reflektieren kann. Bereits die alten Griechen hatten über den Sinn des Lebens philosophiert. Aber es scheint nicht wirklich eine Antwort darauf zu geben. Das frustriert mich, weil ich eine Frau der Wissenschaft bin. Für mich besteht die Welt aus Mathematik, Physik, Biologie und Chemie. Es macht mich wahnsinnig, dass es für so viele Dinge im Leben keine rationale Erklärung zu geben scheint.

Trotz allem glaube ich fest daran, dass jeder Mensch eine Aufgabe im Leben hat. Dass es einen Grund dafür gibt, dass wir leben, dass wir existieren.

„Doch was ist meine Aufgabe? Warum bin ich auf der Welt? Wieso bin ich noch hier?“

Das Prasseln der Regentropfen reißt mich aus meiner Gedankenwelt. Inzwischen sind die Straßen menschenleer. Ich wärme meine Hände an der warmen Tasse und nehme einen Schluck. Ich spüre, wie der Tee mich von innen wärmt. Die Musik im Hintergrund verstummt langsam und das Ticken der Uhr rückt in den Vordergrund. Sekunde um Sekunde bewegt sich der Zeiger. Die Zeit vergeht so schnell, und doch scheint die Welt, meine Welt, still zu stehen. Die Menschen leben ihr Leben weiter, aber ich selbst schaffe es nicht loszulassen. Ich drehe mich im Kreis und habe das Gefühl, nicht vorwärtszukommen.

Ich schließe meine Augen, atme einmal tief ein und aus und reise gedanklich zurück zu diesem schicksalhaften Tag. Ich kann mich noch sehr genau an ihn erinnern. Es kommt mir vor, als wäre es erst gestern geschehen. Dabei sind bereits mehr als zehn Jahre vergangen. Es ist verrückt, woran sich Menschen erinnern können. Während wir innerhalb weniger Sekunden vergessen, woran wir gerade noch gedacht haben, bleiben gewisse Ereignisse derart präsent, dass wir nicht von ihnen loskommen.

Alles, was ich wollte

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