Читать книгу Alles, was ich wollte - Julia Eliz - Страница 8
Albträume
ОглавлениеEs waren nur noch wenige Tage, bis endlich Weihnachtsferien waren. Jeder, der sich noch gut an seine Schulzeit erinnern kann, weiß, dass dies eine stressige Zeit für Schüler sein kann. Klassenarbeiten und Referate standen vor den Ferien an, damit die Halbjahreszeugnisse geschrieben werden konnten. Ich stand also unter sehr viel Druck. Mein Kreislauf spielte häufig verrückt und mir war oft übel. Vermutlich brütete ich eine Erkältung aus. Trotzdem ging ich weiter zu meinen Nachbarn und erledigte abends beziehungsweise nachts meine Schulpflichten. Ich bekam dementsprechend sehr wenig Schlaf. Aber diesen holte ich nachmittags nach. Marlon schlief nachts ebenfalls kaum. Vielleicht hielten ihn seine Schuldgefühle wach und er bekam Albträume von diesen. Das war zumindest meine Vermutung. Wenn ich vom Spaziergang kam, legten wir uns in sein Bett und schliefen einfach. Wir spürten die Wärme und den Herzschlag des anderen. Das beruhigte uns und wir konnten Kraft tanken. Manchmal murmelte er im Schlaf und wurde unruhig. Er wollte aber nie darüber sprechen. Also fragte ich nicht nach. Wir hielten uns an unseren Plan, alles, was wir anderen nicht anvertrauen konnten, in unsere Notizbücher zu schreiben. Er zeigte mir seins nicht mehr und ich zeigte ihm meins auch nicht. Es war etwas ganz Privates und das akzeptierten wir. Hauptsache, es half uns, die bösen Gedanken loszulassen.
Ich sitze hier und denke an alles und doch an nichts. Ich weiß nicht, warum, ich bemerke es nur, wenn es zu spät ist. Wenn ich wieder in der Kälte gefangen bin. Ich ertrage das nicht mehr. Mein Herz, meine Seele sind schon zerbrochen und anstelle dieser ist ein großer Schmerz. Ich habe das Gefühl, dass ich vor Schmerzen, Trauer und Wut platze. Sie regieren mich. Ich dränge mich selbst in die Einsamkeit, dabei habe ich Angst, allein zu sein. Doch die Angst nicht gut genug zu sein, ist viel größer. Deshalb entferne ich mich von Menschen. Vor allem von Menschen, die mich gernhaben könnten. Ich schaffe es einfach nicht mehr. Ich bin am Ende, am Ende meiner Kräfte. Ich zerbreche an der Vergangenheit, an meiner Vergangenheit. Ich zerbreche und werde schutzlos alleingelassen.
Ich fieberte den freien Tagen entgegen. Ich war völlig erschöpft. Die Flashbacks wurden häufiger und intensiver. Aber ich behielt es für mich. Keinen würde es interessieren und Marlon wusste schon genug. Darüber hinaus hatte er eigene Probleme. Ich wollte ihn nicht zusätzlich belasten. Ich versuchte einfach durchzuhalten. Aber meine Erkältung wurde schlimmer. Trotzdem bestand meine Sportlehrerin darauf, dass ich den Langlauftest mitmachen würde. Eine laufende Nase wäre kein Grund, die Note nicht zu machen. Ich jammerte nicht und absolvierte einfach den Test. Doch einen Tag später sollte ich das bitter bereuen. Mein Körper zeigte deutlich, dass es zu viel war. Kaum war ich in der Schule, hatte ich Schmerzen. Unglaublich starke Schmerzen, die pulsierend waren. Ich konnte es nicht verbergen. Sie durchzogen meinen ganzen Körper. Sie wurden derart heftig, dass ich mein Bewusstsein verlor. Ich begann mein ganzes Leben rückwärts in Bildern zu sehen. Es waren einzelne Bilder, die nicht wirklich zusammenzuhängen schienen. Manche zogen ganz schnell an mir vorbei, während andere länger vor meinem geistigen Auge zu sehen waren. Manche Bilder konnte ich auch gar nicht zuordnen. Doch bevor ich diese Show zu Ende sehen konnte, kam ich wieder zu Bewusstsein. Ich lag auf dem Boden und mein Chemielehrer war über mich gebeugt. Ich hatte zunächst gar keine Orientierung und wusste nicht, wo ich war. Ich blieb einfach regungslos am Boden liegen und schloss wieder die Augen. Zu grell schien das Licht. Mein Lehrer rief bei mir zu Hause an. Mein Vater hatte Urlaub und brachte mich zum Arzt. Er musste mich tragen, weil ich wegen der heftigen Schmerzen nicht einmal mehr aufrecht stehen konnte. Ich hatte unglaubliche Angst. Ich fühlte mich schwach, hilflos und ausgeliefert. Der Arzt gab mir eine Infusion, die über Stunden durchlaufen musste. Ich erzählte niemandem von diesem seltsamen Erlebnis, das ich während der Synkope hatte. Ich lag also nur da und beobachtete, wie die Flüssigkeit aus dem Beutel in meinen Arm tropfte. Ich war so müde. Ich schloss die Augen und schlief eine Weile, in der Hoffnung, dass die Bilder zurückkommen würden. Doch dem war nicht so. Als ich wieder aufwachte, schaute ich auf mein Handy, um die Uhrzeit zu erfahren. Es war kurz nach eins. Normalerweise würde ich in einer Stunde Bruno und Marley abholen. Ich schaute auf den Infusionsbeutel, der immer noch halb gefüllt war und langsam vor sich hin tropfte. Es würde länger als eine Stunde dauern, bis ich entlassen werden konnte. Da war ich mir sicher. Es blieb mir also nichts anderes übrig, als meinen Nachbarn Bescheid zu geben. Ich rief bei ihnen an und teilte William mit, dass es mir heute nicht möglich sein würde, mit den Hunden spazieren zu gehen oder die Kleinen vom Kindergarten abzuholen. Details ließ ich weg. Er sollte nicht wissen, dass ich schwach war. Ich sagte lediglich, dass ich beim Arzt wäre. Er fragte auch nicht weiter nach. Er wünschte mir nur gute Besserung. Dann legte ich auf und beobachtete weiter die Infusion, die immer noch im Sekundentakt vor sich hin tropfte.
Es dauerte eine Ewigkeit, bis ich entlassen wurde. Den Zugang ließ mein Arzt in meinem Arm. Das störte mich zwar, aber er wusste bestimmt, was er da tat. Er klebte lediglich ein Pflaster darüber. Mein Vater wollte mich ins Auto tragen, aber das ließ ich nicht zu. Ich war stark genug, alleine zu gehen. Langsam, aber ich erreichte das Auto ohne Hilfe.
Es war bereits früher Abend und die Sonne war untergegangen. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich meine Nachbarn an diesem Tag im Stich gelassen hatte. Ich wollte mich einerseits vergewissern, dass es wirklich in Ordnung war, dass ich nicht kommen konnte, andererseits wollte ich mich auch noch einmal dafür entschuldigen, dass ich derart kurzfristig abgesagt hatte. Die wenigen Meter zu meinen Nachbarn strengten mich zwar an, aber ich schaffte es bis in ihr Wohnzimmer. Es waren ungewöhnlich viele Menschen dort. Ich hatte diese auf der Beerdigung gesehen. Ein großer, stattlich gebauter junger Mann sah, dass mir die Kräfte ausgingen. Er half mir auf die Couch und brachte mir ein Glas Wasser.
„Geht es wieder? Du siehst ganz schön blass aus.“
„Ja, danke. War wohl etwas viel die letzten Tage. Geht es den Kindern gut? War jemand mit den Hunden spazieren? Ich wollte mich noch einmal persönlich entschuldigen, dass ich heute nicht da war. Ich habe es einfach nicht geschafft“, sprach ich wild drauf los, während ich ihn musterte.
Sein Körper sah aus wie der von Superman. Er war unglaublich gut trainiert. Seine Muskeln schimmerten durch sein Shirt und sahen wie gemeißelt aus. Er hätte ein Model oder irgendetwas in diese Richtung sein können. Er beobachtete auch mich. Meine Verwirrung, wer er war, schien mir ins Gesicht geschrieben zu sein.
„Oh entschuldige. Ich habe mich gar nicht vorgestellt. Ich bin Steffen, der Onkel von Marlon und den restlichen Kids.“
Meine Verwirrung wurde nur noch größer. Ich fragte mich, ob ich das richtig verstanden hatte.
„War er der Bruder von meiner Nachbarin? Er sieht aus, als wäre er selbst gerade einmal Anfang zwanzig.“
„Du machst unbeschreiblich viel für die Familie meiner Schwester. Du nimmst ihnen große Last ab. Das ist nicht selbstverständlich. Aber du musst auch auf dich achten. Es bringt niemandem etwas, wenn du dich selbst vernachlässigst. Du musst dich nicht entschuldigen oder abmelden, wenn du keine Zeit hast oder krank bist. Die Kinder freuen sich auf dich, aber du bist nicht dazu verpflichtet, dein ganzes Leben nach ihnen auszurichten.“
„Das weiß ich. Aber William verlässt sich auf mich. Er muss doch wissen, wenn ich nicht kommen kann. Dann muss sich jemand anderes um die Hunde kümmern. Außerdem mache ich das gerne. Ich genieße die Zeit mit den Kindern.“
„Ich verstehe. Aber in den nächsten Tagen bleibst du mal zu Hause und ruhst dich aus. Meine Mutter hat frei und kümmert sich um die Kinder und die Hunde. Sie sind also versorgt und du musst dir darum keine Gedanken machen.“
Kilian, Ben und Elias kamen ins Wohnzimmer gelaufen. Sie sprangen auf die Couch und wollten wissen, ob es mir wieder besser ginge. Eine etwas ältere Frau kam ihnen hinterhergelaufen. Sie sagte den Kindern, dass sie sich bitte die Zähne putzen und sich ihre Schlafsachen anziehen sollten. Die Kinder nannten sie „Oma“. Sie war wohl die Mutter meiner Nachbarin. Sie sah ihr unglaublich ähnlich. Genauso zart und klein. Sie umgab eine warme Aura und sie hatte eine angenehme Art an sich, sodass sich jeder bei ihr wohl fühlen würde. Das konnte ich spüren. Gleichzeitig nahm ich ihren Schmerz und ihre Trauer wahr. Das war nicht verwunderlich. Sie hatte ihre Tochter verloren. Ich konnte mir nicht vorstellen, was sie durchmachen musste. Sie war eine unglaublich starke Frau.
Die Kinder umarmten mich und gaben mir einen Gutenachtkuss. Ben fragte, ob ich ihm etwas vorlesen könnte. Diese Aufgabe übernahm an diesem Abend jedoch seine Großmutter. Er war zunächst traurig, aber nachdem sie ihm sagte, dass er sich sogar zwei Bücher aussuchen dürfte, verflog seine Traurigkeit.
Steffen half mir aufzustehen und brachte mich zu meinem Elternhaus. Er hatte wohl Angst, dass ich auf der Straße zusammenbrechen könnte. Ich ging direkt in mein Zimmer, weil der Tag für mich sehr anstrengend gewesen war. Den Zugang holte ich aus meinem Arm, weil er mich zu sehr störte, und klebte lediglich ein neues Pflaster auf die Wunde, ehe ich mich ins Bett legte und wegen meiner Erschöpfung direkt einschlief.
Der Arzt hatte mich krankgeschrieben. Ich blieb also zu Hause im Bett oder auf der Couch. Ich begann mich zu langweilen und kam mir irgendwie nutzlos vor. Die Tage bei meiner Familie und ohne die Spaziergänge ließen mich traurig werden. Ich fühlte mich wieder wie ein kleines dummes Mädchen, das für alle anderen nur ein Geist war. Ich verkroch mich häufig in mein Zimmer und behauptete, dass ich lernen müsste. Die Kraft und das Selbstvertrauen, was mir die Familie meiner Nachbarin gaben, schwanden. Ich saß oft mit meinem Notizbuch in der Hand auf meinem Bett. Ich schrieb die quälendsten Gedanken, die mir durch den Kopf gingen, auf, weil ich keine andere Möglichkeit sah, sie loszuwerden. Zu groß war meine Angst, dass jemand meine Gefühle als Schwäche abtun und mich ihretwegen verurteilen würde.
Man soll den Kopf nicht hängen lassen und die Hoffnung nicht verlieren. Aber was ist, wenn die Hoffnung schon lange gegangen ist? Man soll nicht aufgeben und stark sein, aber irgendwann hört die Stärke auf. Irgendwann zerbricht man. Man kann einiges ertragen, aber irgendwann ist es zu viel. Irgendwann wird man kalt und lässt niemanden mehr an sich heran. Es ist schwer, aus dieser Spirale wieder herauszukommen. Denn dafür braucht man jemanden. Jemanden, der bereit ist, alles zu geben und dich nicht aufgibt. Der an deiner Seite bleibt und dich stärkt, weil man selbst den Kampf aufgeben möchte. Man braucht jemanden, der genug Kraft für zwei hat. Wo ist dieser jemand nur?
Ich fühlte mich verloren. Ich wusste nichts mit mir anzufangen. Das Nichtstun nagte an meinem Selbstvertrauen. Ich verlor mich in meinen Gedanken, wobei die Flashbacks an meine Kindheit heftiger wurden. Immer und immer wieder spielten sich die gleichen Szenarien in meinem Kopf ab. Immer wieder befand ich mich in dem dunklen, kalten Kinderzimmer. Es kostete mich unglaublich viel Energie zu verbergen, dass es mir nicht gut ging. Ich hatte das Bedürfnis zu fliehen, wegzulaufen. Aber ich wusste nicht, wohin. Die einzige Hoffnung, die ich hatte, war, dass ich nur noch ein paar Tage durchhalten müsste. Denn während der Weihnachtstage ging ich nicht zu meinen Nachbarn. Es kam mir nicht richtig vor. Schließlich ist Weihnachten ein Fest, das man im engsten Familienkreis feiert. Ich wusste, dass die Kinder gut versorgt waren. Die Großeltern von Marlon, Neal, Kilian, Ben und Elias würden sie verwöhnen. Aber es stand auch ein unglaublich belastendes Ereignis an. Meine Nachbarin hätte am 27. Dezember Geburtstag gehabt. Es wäre das erste Mal, dass ihre Kinder diesen Tag nicht mit ihr verbringen würden. Ich fragte mich, ob sie ihn trotzdem feierten. Manche Hinterbliebene machen das. Es wäre zumindest eine schöne Geste. Ich vermutete, dass es trotz allem Kuchen geben würde und vielleicht gingen sie auch gemeinsam auf den Friedhof, um „Happy Birthday“ zu singen und ihr ein paar Geschenke zu bringen. Das hätte ich jedenfalls gemacht.
Glücklicherweise waren die Weihnachtstage überstanden und bald könnte ich wieder Zeit mit Kilian, Ben und Elias verbringen. Ich klammerte mich an diese Hoffnung und versuchte so viel Kraft einzusparen, wie es mir nur möglich war. Am Morgen vor dem Jahreswechsel ging ich allein spazieren. Ich schlenderte durch die Weinberge und genoss die Ruhe. Ich brauchte räumlichen Abstand zu meiner Familie. Viele Außenstehende konnten das nicht verstehen. Ich hatte doch alles, was man brauchte. Meine Eltern waren gute Menschen. Sie gaben mir etwas zu Essen, Taschengeld und wurden nie körperlich aggressiv. Dafür war ich auch sehr dankbar, denn ich wusste, dass es nicht selbstverständlich war, dass ich mich in Sicherheit befand und keine Angst mehr haben müsste. Aber emotional fand ich kaum Zugang zu ihnen. Ich weiß nicht genau, warum das so war. Vielleicht lag es einfach an meiner allgemeinen Skepsis gegenüber Erwachsenen.
Ich setzte mich auf eine Bank und blickte über die Landschaft. Ich vermisste das fröhliche Kinderlachen, das mich umgab, wenn ich mit den Kleinen unterwegs war. Nach einer Weile ging ich ins Dorf zurück und kam an einem Spielplatz vorbei. Es war niemand dort. Alle waren mit den Silvestervorbereitungen beschäftigt. Ich setzte mich auf die Schaukel und begann Schwung zu holen. Ich konnte den Wind in meinem Gesicht spüren. Ich schloss meine Augen und die pendelartigen Bewegungen beruhigten mich. Es breitete sich ein wohltuendes Gefühl in mir aus, so als ob alles in Ordnung wäre. Ich vergaß völlig die Zeit. Plötzlich kamen Kinder auf den Spielplatz und beschwerten sich, dass ein viel zu altes Mädchen ihre Schaukel besetzen würde. Ich öffnete meine Augen, sprang von der Schaukel und ging vom Spielplatz.
Als ich an dem Haus meiner Nachbarn vorbeikam, sah ich, dass die Kinder draußen Fußball spielten. Als sie mich bemerkten, kamen sie ans Hoftor gelaufen. Sie freuten sich, mich zu sehen und fragten, ob ich nicht Lust hätte mitzuspielen. Da dies bedeuten würde, dass ich noch nicht nach Hause gehen müsste, nahm ich das Angebot an. Die Kinder amüsierten sich herrlich darüber, dass ich immer noch nicht richtig Fußball spielen konnte.
„Julia, du musst den Ball mit der Seite treten. Warte, ich zeig es dir“, rief mir Ben zu.
Für ihn war es unbegreiflich, dass jemand keinen Ball geradeaus schießen konnte. Er gab mir also eine kurze private Einweisung in die Passtechnik. Nach circa einer halben Stunde konnte ich zumindest ganz annehmbar schießen. Es machte ihn unglaublich stolz, dass er mir etwas beigebracht hatte. Allerdings bemerkte ich seine dicken Augenringe. Ich vermutete, dass er in den letzten Tagen nicht genug Schlaf bekommen hatte.
„Möchtest du meine Weihnachtsgeschenke sehen?“, fragte mich Kilian, der anscheinend genug vom Fußballspielen hatte.
„Oh ja. Ich möchte dir auch meine zeigen!“, mischte sich Ben ein.
„Ich möchte gerne all eure Geschenke sehen“, erwiderte ich freudestrahlend.
Denn obwohl wir viel gerannt waren, war mir an den Fingern und den Füßen etwas kalt. Wir packten den Ball ein und gingen nach oben ins Wohnzimmer. Dort stand ein kleiner Weihnachtsbaum, der jedoch nicht geschmückt war.
„Hatte sich keiner die Mühe gemacht, ihn mit den Kindern gemeinsam zu schmücken? Oder war die Deko bereits abgehangen worden?“, fragte ich mich.
Während ich den armseligen Baum betrachtete, fing Ben an, an meiner Hand zu ziehen. Er war ganz ungeduldig und aufgeregt. Er führte mich in sein Zimmer, in dem überall Spielsachen kreuz und quer auf dem Boden verteilt lagen. Er griff den großen Feuerwehrwagen heraus und präsentierte ihn voller Stolz. Er sprudelte vor Begeisterung und zeigte mir, was der Wagen für Funktionen besaß. Er hatte Blaulicht, dass herrlich leuchtete und man konnte sogar eine Sirene einschalten. Selbst die Türen ließen sich öffnen und die Drehleiter konnte ausgefahren werden. Kilian und Elias brachten mir ebenso ihre Geschenke. Während Kilian einen eigenen Gameboy geschenkt bekommen hatte, hielt mir Elias sein neues Polizeiauto entgegen. Auch dieses hatte Blaulicht und Sirene. Ich schlug den Kindern vor, dass wir die neuen Autos im Wohnzimmer testen könnten. Dort war ausreichend Platz und es lagen keine anderen Spielsachen auf dem Boden herum.
Die Kinder hatten sichtlich Freude daran, sich verschiedene Szenarien auszudenken, in denen Polizei und Feuerwehr zum Einsatz kamen. Sie ließen ihrer Fantasie freien Lauf und versetzten sich regelrecht in ihre Rollen.
„Wenn ich mal groß bin, dann möchte ich Polizist sein“, versicherte mir Elias.
„Dann kann ich alle bösen Menschen ins Gefängnis bringen und darf sogar eine Waffe benutzen.“
„Ich werde Feuerwehrmann. Dann darf ich Brände löschen und rette Menschen das Leben“, mischte sich Ben ein.
Sie suchten beide nach Aufmerksamkeit und Liebe. Mein Eindruck war, dass sie sich etwas vernachlässigt fühlten.
„Warte Julia. Ich hole dir einen Krankenwagen. Dann kannst du mit uns gemeinsam spielen“, rief Ben und lief in Richtung seines Zimmers.
Er kam mit einem etwas älteren Modell zurück, das auch proportional nicht zu den neuen Spielzeugautos passte. Er bemerkte die Diskrepanz und argumentierte, dass dies nicht schlimm sei, weil wir einfach so tun könnten, als ob alle Wagen gleich wären. Seine Denkweise gefiel mir. Das Leben sollte nicht komplizierter gemacht werden, als es ohnehin schon war. Das war wohl sein Motto.
Wir spielten einen schweren Autounfall nach, bei dem die anderen Autofahrer keine Rettungsgasse gebildet hatten, weshalb der Polizist Elias hart durchgreifen musste. Einige Autos brannten und Ben, der Feuerwehrmann, versuchte die Brände zu löschen, sodass es keine Explosionen geben würde. Julia, die Notfallärztin, hatte dabei eine Menge Verletzte zu versorgen. Da es viel zu viele verwundete Menschen gab, mussten weitere Rettungswagen angefordert werden. Es ging chaotisch und laut zu. Wir waren mit viel Leidenschaft dabei und verloren uns völlig in unserer Fantasiewelt. Dabei führten Ben und Elias Regie. Nachdem wir alle Menschen gerettet hatten und jeder einzelne Brand gelöscht war, beendeten wir unser Spiel. Ich war richtig beeindruckt, wie phantasiereich die Kinder Geschichten erzählen konnten.
William kam ins Wohnzimmer gelaufen und war sichtlich vom Chaos und der Lautstärke genervt. Er sah auch etwas traurig und enttäuscht, sogar ein wenig wütend aus. Er hatte sein Handy in der Hand und tippte wild darauf herum, sodass er mich erst gar nicht bemerkte.
„Hallo William. Ich hoffe, es ist in Ordnung, dass die Kinder mir ihre Geschenke gezeigt haben. Waren wir zu laut?“, erkundigte ich mich.
Es dauerte eine Weile, bis er von seinem Handy aufschaute. Er schien etwas verwirrt, weil er wohl nicht mit mir gerechnet hatte.
„Nein. Alles okay. Dich schickt der Himmel. Ich wollte mit einem Freund ausgehen und Marlon sollte eigentlich auf die Kinder aufpassen. Aber er ist noch unterwegs und ich kann ihn nicht erreichen. Auf den Jungen ist einfach kein Verlass! Hast du für heute Abend schon Pläne?“
„Ich hätte lediglich mit meinen Eltern gegessen und danach ein paar Gesellschaftsspiele gespielt. Aber ich kann auf die Kinder aufpassen. Das macht mir nichts aus“, bot ich ihm an.
„Wäre das wirklich in Ordnung? Du kannst auch in meinem Bett schlafen. Ich beziehe es neu.“
„Das ist nicht nötig. Mir reicht die Couch vollkommen aus“, lehnte ich dankend ab.
„Wie du möchtest. Ich zieh mich um und würde dann direkt losfahren. Du hast was gut bei mir. Ganz ehrlich, ich wüsste nicht, was ich ohne dich machen würde.“
Diese Worte zu hören, tat mir wirklich gut. Endlich kam ich mir nicht mehr überflüssig vor. Die Traurigkeit, die mich die Tage zuvor überkommen hatte, verflog langsam. Ich war einfach nur erleichtert, dass ich noch einem weiteren wortkargen Abend bei mir zu Hause entkommen konnte. Immer, wenn ich Zeit mit den Kindern meines Nachbarn verbringen durfte, fühlte ich mich freier, stärker und lebendiger. Das war das, was ich zu dieser Zeit gebraucht hatte. Menschen, die es wertschätzten, dass ich da war.
Während ich das Abendessen vorbereitete, bat ich die Kinder, das Zimmer von Ben gemeinsam aufzuräumen. Nachts, wenn er auf Toilette müsste, würde er sich sonst bestimmt verletzen. Die Kinder waren nicht begeistert, folgten aber meiner Anweisung. Als sie endlich fertig waren, setzten wir uns an den Esstisch und ich servierte die Kartoffelsuppe mit Würstchen. Da kam Marlon sichtlich abgehetzt ins Esszimmer.
„Oh man. Sorry. Ich war noch mit Freunden weg und eigentlich würde ich auch gerne mit ihnen auf eine Party gehen. Mein Papa ist schon weg, oder?“
„Setz dich doch erst einmal zu uns. Möchtest du auch einen Teller Suppe?“
„Nein, danke. Ich hole mir gleich eine Pizza. Stört es dich, wenn ich dich hier alleine lassen würde?“
„Alles okay. William war ein bisschen genervt, weil er dich nicht erreichen konnte und du nicht da warst. Stell dich also schon mal auf Ärger ein. Aber du kannst ruhig gehen. Ich habe hier alles im Griff.“
„Danke. Bist die Beste!“
„Viel Spaß und mach dir keine Gedanken.“
Kaum war mein letzter Satz ausgesprochen, war Marlon genauso schnell verschwunden, wie er gekommen war. Kilian, Ben und Elias löffelten bereits fleißig ihre Suppe auf. Es schien ihnen zu schmecken, denn sie verlangten Nachschlag.
Als alle gebadet beziehungsweise geduscht waren und ihre Schlafanzüge anhatten, versammelten wir uns auf der riesigen Couch. Ben durfte sich einen Film aussuchen, den wir gemeinsam schauten. Er entschied sich für „Ice Age“, indem ein ungewöhnliches Trio aus Säbelzahntiger, Mammut und Riesenfaultier die Hauptrollen verkörperten. Es war ein gemütlicher Abend. Wir lagen alle unter einer großen Wolldecke und kuschelten uns aneinander. Die witzigen Szenen des Films brachten uns zum Lachen. Auch Neal kam irgendwann aus seinem Versteck gekrochen und aß die restliche Suppe. Er saß auf dem Boden und schaute mit uns den restlichen Film. Als dieser zu Ende war, konnten die Kleinen kaum mehr ihre Augen offenhalten. Eigentlich wollten sie bis zum großen Feuerwerk wach bleiben. Ich machte ihnen den Vorschlag, dass ich sie jetzt ins Bett bringen und um halb zwölf wieder wecken würde. Auf diese Weise könnten sie sich ein wenig ausruhen und würden trotzdem das Feuerwerk nicht verpassen. Ich musste es mehrmals versprechen, bevor sich Elias und Ben dazu überreden ließen.
Ben war unruhiger als sonst. Irgendetwas schien ihn zu beschäftigen. Er wollte nur nicht darüber reden. Ich hatte bereits zwei Bücher vorgelesen und er kämpfte sichtlich mit seiner Müdigkeit, trotz allem schlief er nicht ein. Er versprach mir, im Zimmer zu bleiben und leise zu sein. Also gab ich ihm einen Gutenachtkuss, deckte ihn zu und lehnte seine Zimmertür an.
Neal war nicht mehr im Wohnzimmer, dafür lag Kilian nun auf der Couch unter der Decke. Er fragte mich, ob er bleiben könne und wir uns gemeinsam einen Film anschauen würden. Auch er durfte sich, wie sein kleiner Bruder zuvor, einen Film aussuchen. Er erzählte mir, dass er mit Marlon und Neal an Weihnachten „Jurassic Park“ gesehen hätte. Ich war nicht wirklich begeistert davon, weil es kein Kinderfilm war, und somit war es eigentlich nichts für einen Drittklässler. Aber ich wollte mich nicht in die Erziehung einmischen. Kilian kuschelte sich ganz fest an mich und genoss die Zeit mit mir. Wir waren kaum auf den Film „Der Schuh des Manitu“ konzentriert, da wir uns fast die gesamte Zeit unterhielten. Er erzählte mir, dass seine Mutter ihm eigentlich versprochen hatte, dass Marley sein Hund werden würde. Er vermisste sie unglaublich. Sie wären oft gemeinsam spazieren gegangen und hätten viele Abende vor dem Fernseher verbracht. Er vermisste auch, dass sie ihm und seinen Brüdern jeden Morgen frische Pausenbrote machte, sie behutsam aufweckte und sie gemeinsam frühstückten. Jetzt würde morgens keiner mehr leise in die Zimmer kommen und ihn sowie die anderen durch Streicheleinheiten wecken. Er hatte es sich zur Aufgabe gemacht, vor allen anderen wach zu sein und sie zu wecken, sodass sie nicht zu spät in den Kindergarten oder in die Schule kommen würden. Das machte mich traurig. Er hatte es nicht verdient, dass er solch eine Verantwortung tragen musste. Es wäre die Aufgabe seines Vaters gewesen, die Kinder zu wecken und ihnen Frühstück zu machen. Er war der Erwachsene und nicht seine Kinder. Ich gab Kilian einen Kuss auf die Stirn und versprach ihm, dass ich nach den Ferien auch morgens kommen würde und ihm beim Wecken seiner Geschwister behilflich wäre. Danach könnten wir gemeinsam frühstücken. Er schaute mich mit großen Augen an und war von meiner Idee begeistert.
Ben kam aus seinem Zimmer und legte sich zu uns auf die Couch.
„Kannst du immer noch nicht schlafen?“, fragte ich ihn und deckte ihn zu.
„Nein. Ich habe Angst im Dunkeln.“
„Dann bleib doch einfach bei Julia und mir. Wir müssen eh gleich Elias wecken, weil es kurz vor Mitternacht ist“, schlug Kilian vor.
Nachdem Elias wach war und ich die Kinder in warme Jacken und warme Schuhe gepackt hatte, bekam jeder von ihnen eine Tüte Knallfrösche. Ich nahm die Wunderkerzen und ein Feuerzeug mit.
Wir stellten uns auf den Bürgersteig und zählten die Sekunden bis zum neuen Jahr herunter. Anschließend umarmten wir uns und wünschten uns sowie allen anderen Menschen auf der Straße ein frohes neues Jahr. Ich zündete die Wunderkerzen an und gab den Kindern jeweils eine in die Hand. Sie waren fasziniert von dem Funkeln, das die Kerzen erzeugten. Nachdem sie den Dreh mit den Knallfröschen raushatten, sprangen sie herum und lachten bei jedem kleinen Knall. Die Nachbarn hatten genug Feuerwerk dabei, sodass der Himmel in bunten Farben leuchtete.
Nach einer Stunde war alles vorbei. Ich ging mit den Kindern rein und Kilian legte sich auf die Couch. Er wollte warten, bis ich die Kleinen wieder ins Bett gebracht hätte. Elias schlief sofort ein, weil er wirklich müde war. Ben war ebenso erschöpft, doch er hatte immer noch Angst, obwohl ich ihm ein kleines Licht angemacht hatte und wir beide unter dem Bett nachgesehen hatten, dass sich dort keine Monster befinden würden. Ich legte mich zu ihm ins Bett. Er kuschelte sich ganz nah an mich.
„Was ist los, großer Mann? Möchtest du mir erzählen, was dir solche Angst macht?“, fragte ich ein wenig besorgt.
„Da sind Dinosaurier. Überall. Sie kommen aus den Wänden und möchten mich auffressen“, erzählte mir Ben mit einer verängstigten Stimmlage.
Sein Griff um mich wurde dabei auch fester. Ich wusste, dass es keine Dinosaurier in seinem Zimmer gab. Aber für ihn waren sie real. Es würde also nichts bringen, ihm zu sagen, dass keine Dinosaurier aus seinen Wänden kommen. Vermutlich würde es seine Angst nur noch mehr verstärken, weil er sich missverstanden fühlen würde. Ich tauchte also in seine Fantasiewelt ein. Ich wollte, dass er sich ernst genommen fühlte und wusste, dass er mit keinen Ängsten, die ihn quälten, alleine war.
„Okay. Weißt du Ben, wenn du dich in dein Bett legst und deine Decke bis unter die Nasenspitze ziehst, dann baut sich ein unsichtbarer Schutzschild auf. Die Dinosaurier können da nicht hindurchgehen oder hindurchgreifen. Es blockiert sie. Wenn du deine Augen schließt, dann wirst du selbst unsichtbar und die Dinosaurier können dich nicht mehr sehen. Zu allerletzt musst du versuchen, ganz ruhig und langsam zu atmen. Denn dann können dich die Dinosaurier auch nicht mehr riechen. Probiere es mal aus. Ich bleibe auch an deiner Seite.“
Ben folgte meiner Anleitung und es schien wirklich zu funktionieren. Er beruhigte sich und seine Augen fielen zu. Ich wartete so lange an seinem Bett, bis ich mir sicher war, dass er eingeschlafen war. Ich fühlte mich zwar ein bisschen schlecht, weil ich ihn angelogen hatte, war aber auch erleichtert, dass ihm dieses Lügenmärchen beim Einschlafen half. Ich vermutete, dass auch er an Weihnachten mit seinen älteren Brüdern „Jurassic Park“ gesehen hatte. Der kleine Mann tat mir leid, weil es ihn seit Tagen gequält haben musste.
Ich wollte Kilian darauf ansprechen, doch als ich ins Wohnzimmer kam, schlief er schon tief und fest. Ich putzte mir leise die Zähne und zog mir meinen Schlafanzug an. Danach kuschelte ich mich zu ihm unter die Decke. Er umklammerte mich ohne wirklich aufzuwachen. Wir schliefen die ganze Nacht durch. Er schien keine Albträume von diesem Film bekommen zu haben.
Am nächsten Morgen waren alle Kinder in der Küche versammelt. Ich machte Pancakes und Kilian war für die Toasts zuständig. Ben und Elias deckten den Tisch. Es war laut und etwas chaotisch, aber die Kinder fanden es großartig, so mit eingebunden zu werden. Sie warteten gespannt auf die kleinen Pfannkuchen. Das war das erste Mal, dass sie welche zum Frühstück bekamen. Sie saßen am Tisch, klopften mit Messer und Gabel und riefen, dass sie hungrig wären. Ich stellte ihnen neben Ahornsirup auch bunte Streusel auf den Tisch. Sie verzierten ihre kleinen Pfannkuchen kunterbunt und aßen sie mit Freude auf.
Da weder Marlon noch William daheim waren, spielte ich mit den Kindern im Wohnzimmer. Plötzlich umarmte mich Ben und hielt mich ganz fest.
„Danke, Mama. Du bist die Beste!“
Ich war komplett überrascht. Ich hatte mit vielem gerechnet, aber nicht damit.
„Hatte er mich wirklich Mama genannt?“, fragte ich mich selbst.
Ich wusste nicht, wie ich reagieren sollte. Es fühlte sich wie ein Schock an, diese Worte zu hören. Ich war nicht seine Mutter und ich wollte sie nie ersetzen. Ohne wirklich großartig darüber nachgedacht zu haben, sagte ich Ben, dass ich nicht seine Mutter wäre. Er löste die Umarmung und schaute mich mit großen Augen an.
„Wenn du nicht meine Mama bist, wo ist sie dann?“
Er fragte nicht „Wer“, sondern „Wo“. Im Nachhinein erscheint mir das erstaunlich. Ich vermutete, dass er tief im Inneren bereits ahnte, dass er auf das „Wer“ keine wirkliche Antwort bekommen würde. Aber selbst die Frage nach dem „Wo“ überforderte mich. Ich überlegte, was ich sagen sollte.
„Hatte er vergessen, dass seine Mutter gestorben war?“, fragte ich mich selbst.
„Oder wollte er im Grunde erfahren, wohin Verstorbene gehen, wenn sie nicht mehr bei uns sind?“
Während ich also nachdachte und etwas panisch wurde, mischte sich Kilian ein.
„Hast du es vergessen? Sie ist tot, gestorben. Sie kommt nie wieder. Sie ist jetzt im Himmel.“
Einerseits war ich erleichtert, dass man mir die Antwort abnahm. Andererseits hatte ich Bedenken, dass sie ein Trauma in Ben auslösen könnte. Er schaute mich an und wartete immer noch auf eine Reaktion von mir.
„Was glaubst du, wo sie jetzt ist?“, fragte ich Ben.
Bevor er mir antworten konnte, kam sein Vater ins Wohnzimmer gelaufen. Sichtlich müde und ausgelaugt. Ben rannte zu ihm, umarmte seine Beine und fragte ihn, ob seine Mutter im Himmel wäre. William fühlte sich von dieser Frage wohl genauso überrannt und überfordert wie ich. Er sagte lediglich, dass es wohl so wäre und löste den Griff von seinem Sohn. Danach verschwand er. Ben drehte sich zu mir und stimmte seinem Vater sowie seinem Bruder zu. Seine Mutter wäre im Himmel. Danach nahm er sein Feuerwehrauto und spielte weiter. Er schien zufrieden mit dieser Vorstellung zu sein. Also fragte ich nicht weiter nach.