Читать книгу Alles, was ich wollte - Julia Eliz - Страница 7
Reise zurück in meine Kindheit
ОглавлениеDie Weihnachtszeit rückte immer näher. Im ganzen Dorf roch es nach Zimt und Orangen. Die Luft wurde kalt und jeder fing an, sich in seine dicken Mäntel zu kuscheln. Sämtliche Häuser waren bereits festlich geschmückt. Nur das Haus meiner Nachbarn nicht. Also beschloss ich mit den Kindern Weihnachtssterne zu basteln und sie mit Lichterketten an den Fenstern in ihren Zimmern anzubringen. Ich brachte Bastelvorlagen und bunten Karton mit. Während Kilian seinen Brüdern Ben und Elias dabei behilflich war, die Schablonen zu übertragen, legte ich die Wäsche zusammen. Im Hintergrund liefen Weihnachtslieder und ich hatte Tee gekocht sowie Weihnachtsgebäck bereitgestellt. Ich liebte diese Jahreszeit. Nicht wegen der Geschenke, sondern wegen der Besinnlichkeit, der inneren Ruhe und natürlich wegen der Plätzchen und Lebkuchen. Ich wollte, dass diese Familie trotz der Geschehnisse eine schöne vorweihnachtliche Zeit verbringen konnte. Die Kinder sollten nicht auf die Magie, die diese Jahreszeit bereithielt, verzichten. Da ihr Vater immer noch mit sich selbst beschäftigt war, übernahm ich diese Aufgabe. Ich begann die Lieder ganz leise mitzusingen. Ich bemerkte es gar nicht. Erst als Ben anfing zu kichern. Es amüsierte ihn, dass ich keinen einzigen Ton traf. Ich animierte die Kinder zum Mitsingen. Wir hatten unglaublichen Spaß und lachten laut. Die Freude kam aus ganzem Herzen. Kilian, Ben und Elias wirkten wieder wie die unbeschwerten Jungen, die sie vor dem Tod ihrer Mutter gewesen waren. Als ich die Wäsche fertig zusammengelegt und sortiert hatte, gab ich jedem Kind seinen Stapel und bat sie, ihre Kleidung in ihrem Schrank zu verstauen. Kaum waren die Kleinen aus dem Esszimmer gegangen, kam Marlon in den Raum. Er nahm sich eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank und setzte sich auf die Eckbank. Er sprach kein Wort. Er sah traurig und müde aus.
„Möchtest du auch einen Tee und Lebkuchen?“, fragte ich ihn.
Ich hatte bis dahin kaum ein Wort mit ihm gesprochen. Er wirkte früher immer so selbstbewusst und stolz. Er war von der Art Mensch, die ich immer beneidete. Wären die Umstände normal gewesen, dann hätte ich mich nie getraut, ihn anzusprechen. Er spielte in einer anderen Liga. Unerreichbar für ein Mädchen wie mich, weil ich immer nur ein Außenseiter war. Keine Person, der man Beachtung schenkte. Aber in diesem Moment konnte ich seinen Schmerz und seine Verzweiflung spüren. Er sah mich nur an, stand von der Eckbank auf und verneinte meine Frage, bevor er den Raum verließ. Kilian, Ben und Elias kamen zurück und griffen beherzt bei den Leckereien auf dem Tisch zu. Sie hatten ihre Vorlagen fertig gemalt und ich gab ihnen Scheren, damit sie die Sterne ausschneiden konnten. Sie machten ihre Sache gut. Wir klebten die Sterne an die Fenster und hingen die bunten Lichterketten auf. Die Zimmer wirkten nun viel weihnachtlicher und gemütlicher. Die Kleinen waren richtig stolz auf ihre Arbeit. Ich fragte sie, was sie sich zum Abendessen wünschen würden.
„Nudeln mit Ketchup und Maggi“, bekam ich als Antwort.
Da ich sie belohnen wollte, bereitete ich ihnen ihr Wunschmenü zu. Mir war es zwar unbegreiflich, wie ihnen das schmecken konnte, aber ich redete es ihnen nicht aus. Während ich kochte, zogen sie selbstständig ihre Schlafanzüge an. Für die anderen Familienmitglieder bereitete ich noch eine Käsesoße zu. Kilian, Ben, Elias und ich aßen gemeinsam.
Sie waren überglücklich an diesem Abend. Sie strahlten über das ganze Gesicht. Durch die Einführung der Abendrituale - Zähneputzen, Fernsehzeit, Singen und Vorlesen - gab es bezüglich des Zubettgehens auch keine Diskussionen mehr. Ich brachte Marlon einen Teller Nudeln mit Käsesoße in sein Zimmer. Er lag im Bett und schien zu schlafen. Ich stellte ihm sein Essen auf seinen Tisch neben dem Bett und hinterließ eine Nachricht.
Falls du doch mehr Hunger haben solltest, im Kühlschrank sind noch Reste. Falls du jemandem zum Reden brauchst, ich bin für dich da. Liebe Grüße, Julia.
Das war alles, was ich an diesem Abend für ihn machen konnte. Ich wollte mich nicht aufdrängen. Aber ich wollte auch nicht, dass er dachte, dass er mit seinem Kummer und seinen Sorgen alleine wäre. Ich schaltete das Licht aus und lehnte seine Zimmertür an. Danach ging ich nach Hause.
Am nächsten Nachmittag ging ich in Marlons Zimmer. Ich wollte mich vergewissern, dass er die Nudeln aufgegessen hatte. Seit dem Tod seiner Mutter aß er kaum noch etwas. Er war schon immer schlank gewesen, aber durch die Trauer magerte er ab. Ich klopfte an seine Tür, doch es kam keine Antwort. Ich wartete kurz, dann betrat ich sein Zimmer. Er war nicht da. Die Nudeln hatte er gegessen und ich nahm den leeren Teller vom Tisch. Da bemerkte ich einen Zettel auf seinem Bett. Im ersten Moment dachte ich, dass es der wäre, den ich einen Abend zuvor geschrieben hatte. Doch das war er nicht. Es war ein Brief, ein Abschiedsbrief. Ich spürte, wie sich die Panik in mir ausbreitete. Ich war nicht fähig, den kompletten Inhalt zu erfassen. Aber ich verstand die Botschaft, die mich komplett überforderte.
„Was sollte ich nur tun?“
Ich wollte ihn nicht an den Pranger stellen.
„Was wäre, wenn ich den Brief missverstand? Was, wenn ich ihn zu spät entdeckt hatte?“
Ich legte den Brief zurück auf sein Bett und lief aufgeregt die Treppe hinunter. Fast wäre ich sie hinuntergefallen, weil ich eine Stufe übersah. Doch ich konnte mich gerade noch abfangen. In diesem Moment bemerkte ich, dass ich zu panisch war und nicht klar denken konnte. Ich hielt kurz inne. Ich wusste, dass es Ewigkeiten dauern würde, ihn zu finden. Also rief ich seinen besten Freund an. Ich bat ihn darum, Marlon mit seinem Roller zu suchen. Ich berichtete keine Details. Ich sagte lediglich, dass ich ein schlechtes Gefühl hätte. Auf diese Weise wollte ich Marlon schützen und trotzdem nichts unversucht lassen, ihn zu finden. Ich war meinem Klassenkameraden unendlich dankbar, dass er sich trotz unserer Differenzen auf die Suche machte. Ich selbst lief völlig planlos die Dorfstraßen hoch und runter. Ich begann mir die schlimmsten Szenarien auszumalen.
„Was wäre, wenn er sich etwas angetan hätte und irgendwo blutend im Feld liegen würde? Was wäre, wenn er es sich doch anders überlegt hätte und darauf wartete, dass ihn jemand finden würde. Hatte er eine dicke Jacke angezogen oder würde er irgendwo sitzen und frieren? Was konnte nur passiert sein, dass er sich wünschte, nicht mehr am Leben zu sein?“
Die Panik wurde immer schlimmer und das Atmen fiel mir schwer. Unendlich viele Gedanken schossen mir durch den Kopf. Mein Körper zitterte am ganzen Leib. Ich hatte große Angst um ihn.
„Sollte ich noch jemanden auf diese Weise verlieren?“, fragte ich mich, als ich mich an den Tod eines Freundes erinnerte.
Ich war damals erst elf Jahre alt gewesen. Nico war älter als ich, er ging in die achte Klasse, und war der größere Bruder eines Klassenkameraden und Nachbarsjungen. Immer wenn ich nach Hause lief und die großen Jungs kamen, hatte ich Angst. Aber Nico gesellte sich stets zu mir und wir gingen gemeinsam nach Hause. Einmal, als ich mit dem Fahrrad fuhr, verfing sich einer meiner Schnürsenkel im Rad und ich fiel um. Ich war gefangen unter diesem Rad, doch Nico kam sofort zu mir gelaufen, um mich zu befreien, während seine Freunde nur dastanden und mich auslachten. Er war ein kluger junger Mann. Ich hatte ihn zwar manchmal nachdenklich erlebt, aber immer, wenn ich bei ihnen war, spielten wir zusammen Verstecken oder Fangen oder was Kinder eben so spielen. Ich kann mich noch sehr gut an seinen Tod erinnern. Es war auch Oktober, aber vier Jahre bevor meine Nachbarin starb, und ich war mit seinem kleinen Bruder und meiner Schwester im Schwimmbad. Nico wollte damals nicht mitkommen. Er hätte noch so viel für die Schule zu tun. Fröhlich lachend kamen wir damals zurück. Und da hing er, sein lebloser Körper an einem Seil, das um einen Balken geschlungen war. Unter ihm Bierkisten, die umgestoßen waren. Seine Mutter zog uns sofort aus dem Raum und brachte uns Kinder zu meinen Eltern. Es ging alles so schnell. Ich verstand damals nicht, was passiert war. Ich konnte es nicht begreifen, nicht wirklich wahrnehmen. Da die Familie sehr religiös war und Suizid als „Todsünde“ ansah, erzählten sie, dass ein Halloweenstreich schiefgegangen und es somit ein Unfall gewesen wäre. Damals glaubte ich diese Geschichte, aber inzwischen zweifelte ich sehr daran, dass das wirklich der Wahrheit entsprach.
„War es damals nur ein Versuch, das Ganze zu vertuschen? Diese Todesart führte in der Regel dazu, dass Scham und Schuldgefühle durch die Tabuisierung intensiver erlebt wurden und sich Angehörige dadurch wie ausgegrenzt fühlten“, überlegte ich.
„Nein. Konzentriere dich. Es geht nicht um Nico. Es geht um Marlon. Du musst ihn finden. Du musst es verhindern. Das darf nicht noch einmal passieren.“
Ich suchte noch eine ganze Weile nach ihm, bis es langsam dunkel und noch kälter wurde. Ich ging zurück in das Haus meiner Nachbarn, weil ich den Brief noch einmal lesen wollte. Vielleicht gab es dort einen Hinweis, den ich beim ersten Mal übersehen hatte. Diesmal klopfte ich nicht an. Ich lief einfach in sein Zimmer. Doch es lag kein Brief mehr auf seinem Bett. Ich suchte ihn in der Hoffnung, dass er lediglich heruntergefallen wäre. Aber ich fand ihn nicht mehr.
„Hatte ich mir das nur eingebildet? Gab es gar keinen Brief? Hatte ich seinen besten Freund umsonst in die Kälte geschickt, um jemanden zu suchen, der keine Suizidgedanken hatte? Was ist bloß los mit mir?“
Ich ging ins Bad und wusch mir mein Gesicht mit klarem Wasser ab. Ich versuchte ruhig zu werden und zu atmen.
„Ganz langsam. Überlege, was du mit dem Brief gemacht hast“, sagte ich zu mir selbst.
Ich atmete noch einmal tief ein und aus, ehe ich das Badezimmer verließ. Ich war mir sicher, dass ich seine Zimmertür nicht zugemacht hatte. Doch nun war sie verschlossen. Ich begann immer mehr an mir und meinem Verstand zu zweifeln. Ich öffnete die Tür und ging einen Schritt hinein.
Da stand er. Er schaute mich an, sagte aber kein Wort. Meine Panik wandelte sich in Wut. Am liebsten hätte ich ihm eine Ohrfeige verpasst und ihn angeschrien. Aber binnen Sekunden verschwand die Wut und Erleichterung trat ein. Ich ging zu ihm und nahm ihn in den Arm.
„Gott sei Dank bist du zurück. Ich habe mir große Sorgen um dich gemacht. Bitte mach das nie wieder. Versprich mir das. Du wirst hier gebraucht. Deine Geschwister brauchen dich. Ich brauche dich. Du musst mir versprechen, dass du mir nicht wieder solche Angst machst. Bitte. Du bist wichtig. Du wirst hier gebraucht. Du darfst nicht weggehen“, flüsterte ich weinerlich und ohne Pausen in sein Ohr.
In meiner Stimme konnte man die Angst, die ich um ihn gehabt hatte, noch heraushören. Ich hoffte, dass ich die richtigen Worte gewählt hatte und löste die Umarmung. Marlon sprach immer noch kein Wort. Er sah mich einfach nur an. Ich betete, dass meine Worte ihn erreichten. Er drehte sich um und setzte sich auf sein Bett. Ich konnte ihm ansehen, dass er überlegte, ob er mir erzählen sollte, was passiert war. Ich trat näher an ihn heran und versicherte ihm, dass er mir vertrauen könne. Ich würde mit niemandem über seine Sorgen und Ängste sprechen.
„Es wurde mir einfach alles zu viel. Ich habe das Gefühl, dass meine ganze Welt zusammengebrochen ist. Ich gebe mein Bestes, aber es ist nicht gut genug.“, begann er sich seinen Schmerz von seinem Herzen zu reden.
Ich unterbrach ihn nicht, sondern hörte ihm nur zu. Ich setzte mich lediglich neben ihn auf sein Bett und legte meine Hand auf sein Bein. Er sollte körperliche Nähe spüren, damit er sich lebendig fühlen konnte.
„Ich hatte mal wieder einen Streit mit meinem Papa. Er ist nur mit sich selbst beschäftigt. Er ist nie für uns da. Er trinkt den ganzen Tag und wird dann aggressiv. Ich wollte doch am Freitag lediglich mit ein paar Freunden feiern gehen. Jeden Abend muss ich auf meine Geschwister aufpassen. Ich brauche einfach mal Zeit für mich, in der ich mich wie ein Fünfzehnjähriger verhalten kann. Er ist so wütend auf mich geworden. Er schrie mich an, sagte, ich wäre zu Nichts nutze und ich würde nur an mich denken.“
Marlon unterbrach sich selbst und atmete tief durch. Ich spürte, dass es noch mehr gab, was ihn quälte. Seine Worte trafen mich sehr. Er wusste nicht, dass er mit seiner Beschreibung des Streits und des Verhaltens seines Vaters bei mir eine alte Wunde aus meiner Kindheit aufriss. Ich versuchte meine Gefühle und Erinnerungen an die Zeit mit meinem leiblichen Vater nicht an die Oberfläche kommen zu lassen. Es ging jetzt nicht um mich. Ich musste stark bleiben und meinen Kram hintenanstellen. Ich wartete ab, ob er darüber sprechen wollte oder nicht. Ich sah ihm seine Zerrissenheit an.
„Weißt du Julia, ich habe mich auch an dem Morgen, an dem meine Mutter starb, mit ihr gestritten. Es ging um das Gleiche. Ich wollte einfach wie jeder andere auch einmal ausgehen. Aber sie wollte es mir nicht erlauben, weil ich ihr helfen sollte. Ich war richtig wütend auf sie. Ich sagte ihr ins Gesicht, dass ich sie hassen würde. Das war das Letzte, was ich ihr gesagt habe. Dann war sie tot.“
Ich hatte bis dahin keine Ahnung, dass er sich so quälte. Ich konnte seinen Kummer gut nachempfinden. Er gab sich die Schuld an dem Tod. Aber er konnte nichts dafür. Er hat sich wie ein normaler Teenager verhalten. Jeder hat einmal seine Eltern angeschrien und Gott und die Welt verflucht. Aber bei den Wenigsten gab es keine Möglichkeit mehr, sich zu versöhnen. Marlon schämte sich zutiefst wegen seiner letzten Worte, die er seiner Mutter an den Kopf geworfen hatte. Ich überlegte, ob und was ich sagen könnte, um ihm einen Teil seines Schmerzes nehmen zu können.
„Es ist nicht deine schuld gewesen. Du hast nichts mit dem Tod deiner Mutter zu tun. Es waren nicht deine Worte, die sie getötet haben. Sie hat dich über alles geliebt. Sie erzählte mir so oft, wie stolz sie auf dich war. Wie dankbar sie war, dass du ihr mit deinen Geschwistern geholfen hast. Sie hätte dir an diesem Abend gesagt, dass sie dir nicht böse wäre. Sie wusste, dass du sie nicht gehasst hast. Sie wusste, dass du sie geliebt hast. Ich bin mir sicher, dass sie dir bereits vergeben hatte. Du konntest nicht ahnen, was passieren würde. Du musst dir selbst verzeihen. Du bist nicht schuld daran.“
Ich hoffte, dass meine Worte bei ihm ankamen und dass es ihm half zu hören, dass es nicht seine Schuld war. Es war Schicksal oder kosmologische Fügung, das dafür sorgte, dass diese beiden Ereignisse zusammentrafen. Er sollte nicht die Verantwortung für etwas übernehmen, worauf er keinen Einfluss hatte. Es tat mir unendlich leid, dass er keine Chance mehr bekam, sich persönlich zu entschuldigen. Ich hoffte, dass sich seine Schuld in Bedauern und Selbstvergebung umwandeln würde. Er sollte nicht so leiden müssen, denn das hatte er nicht verdient.
„Kann ich etwas für dich tun?“, fragte ich ihn.
„Ich möchte eigentlich nur schlafen. Kannst du bitte auf die Kleinen aufpassen?“
„Ja klar. Wenn ich sonst noch etwas machen kann oder du mit jemandem sprechen möchtest, dann gib mir einfach Bescheid. Ich bin für dich da.“
Der restliche Abend lief wie gewohnt. William war nicht anwesend. Also bereitete ich wieder die Pausenbrote zu und kochte etwas zu Abend. Als Ben und Elias im Bett waren, ging ich noch einmal bei Marlon vorbei. Sein Fernseher lief, aber er lag im Bett und schlief. Ich schaltete den Fernseher aus und ging nach Hause.
Das, was er mir erzählt hatte, ließ mich nicht los. Ich wusste aus eigener Erfahrung, dass Erwachsene immer denken, dass Kinder nicht mitbekommen würden, was um sie herum passierte. Aber Kinder sind viel empfindsamer als Erwachsene. Sie spüren sofort, wenn etwas nicht stimmte. Und das Schlimmste ist, dass sie sich oft schuldig wegen der seltsamen Stimmungen fühlten. Meine Aufgabe, so dachte ich, war dafür zu sorgen, dass sich keiner der Kinder Vorwürfe wegen des Verhaltens ihres Vaters machen würde. Sie beeinflussten es nicht. Sie hatten es nicht in der Hand, wie er mit seiner Trauer umging. Allerdings hatte ich sehr damit zu kämpfen, meine Erinnerungen an meine Kindheit nicht an die Oberfläche kommen zu lassen. Ich hatte schon vor Jahren alles gegeben, um zu vergessen, was mir zugestoßen war. Ich war schon lange nicht mehr das kleine Mädchen. Ich hatte überlebt. Ich hatte eine neue Familie. Mit diesen Gedanken versuchte ich mich zu beruhigen und mich selbst zu stärken. Ich fasste den Plan, meinen Nachbarn anzubieten, dass ich Freitagabend auf die Kleinen aufpassen könnte. Marlon hatte es bitternötig, sich wieder etwas lebendiger zu fühlen, sich wie ein Teenager verhalten zu dürfen und wenigstens einen Abend Zeit mit seinen Freunden verbringen zu können. Er sollte auf nichts verzichten müssen.
Nachdem ich am nächsten Tag vom Spaziergarn kam, traf ich Marlon, der gerade die Wäsche zusammenlegte, im Esszimmer an. Er schien zwar müde, aber nicht mehr so depressiv wie am Abend zuvor.
„Ich habe morgen nichts vor. Wenn du also feiern gehen möchtest, dann kann ich auf die Kleinen aufpassen. Ich könnte auch über Nacht bleiben und auf der Couch schlafen. Dann kannst du so lange wegbleiben wie du möchtest“, bat ich ihm beiläufig an, als ich mir einen Saft einschenkte.
Marlon schaute mich etwas verwirrt an. Er dachte wohl über meinen Vorschlag nach.
„Wäre das wirklich okay für dich?“
„Sonst hätte ich es nicht angeboten“, erwiderte ich mit einem kleinen Lächeln.
„Danke. Ich frage später meinen Papa, ob das auch für ihn okay ist.“
Ich trank meinen Saft und ging zu Ben und Elias. Sie hatten wieder eine Höhle aus Decken und Kissen gebaut. Wir legten uns dort hinein und kuschelten uns aneinander. Auch die Hunde Bruno und Marley gesellten sich zu uns. Ben hatte seine Lieblingsbücher mit in die Höhle genommen. Wir suchten uns gemeinsam eins aus und dann fing ich an, daraus vorzulesen. Die Kinder genossen unsere gemeinsame Zeit. Sie lachten, waren fröhlich und suchten körperliche Nähe.
Als es dann Abend wurde, aßen wir gemeinsam mit Marlon und Kilian die Reste vom Vortag. Mir war es wichtig, dass gemeinsam gegessen wurde, weil es so eine gemeinsame Familienzeit gab. Nachdem ich die Kleinen zu Bett gebracht hatte, verabschiedete ich mich von Kilian und Marlon.
„Ich gebe dir wegen morgen Bescheid, ob ich ausgehen darf“, rief Marlon mir noch hinterher.
Insgeheim freute ich mich schon sehr, wenn ich den Abend und die Nacht mit den Kleinen verbringen dürfte. Es würde mich von meinen negativen Gedanken ablenken. Seit dem vorherigen Abend fiel es mir immer schwerer, meine Erinnerungen an meine Kindheit zu verdrängen. Ich gab mir wirklich Mühe, aber es kostete mich unendlich viel Kraft.
Die Schule war endlich vorbei und alle freuten sich auf das Wochenende. Ich lief rüber zu meinen Nachbarn und holte, wie sonst auch, die Hunde ab. Es war kalt, aber sonnig. Daher beschloss ich, dass ich mit Ben und Elias draußen im Hof Fußball spielen würde, wenn ich vom Spaziergang wieder zurückkäme. Ich konnte sogar Kilian überzeugen, mit uns Fußball zu spielen. Ich war noch nie gut in Sport, besonders nicht im Fußball. Aber das störte die Kinder nicht. Sie waren stolz darauf, dass sie mir etwas beibringen konnten. Marlon kam nach einiger Zeit zu uns und beobachtete das Fußballspiel. Als das Siegerteam feststand, schickte ich die Kinder hoch. Sie sollten sich umziehen und ich bat Kilian, den Kleinen Toast zu machen.
„Ich habe meinen Papa noch nicht gesehen. Aber wenn es wirklich in Ordnung für dich ist, würde ich heute Abend weggehen“, teilte Marlon mir mit.
Ich ging kurz zu mir nach Hause und holte meine Schlafsachen und meine Zahnbürste. Meinen Eltern hinterließ ich einen Zettel, auf dem stand, dass ich heute bei den Nachbarn schlafen würde.
Die Kinder hatten ihren Snack gegessen und spielten in ihrem Zimmer, während ich anfing, das Abendessen vorzubereiten. Kilian half mir dabei. Er wurde etwas vernachlässigt. Zumindest hatte ich diesen Eindruck, weil er nach Liebe und Aufmerksamkeit suchte. Nachdem wir gegessen hatten, machten wir uns einen gemütlichen Abend vor dem Fernseher. Alles lief gut. Kilian wollte bei mir auf der Couch bleiben und ich hatte keine Einwände. Die Kleinen schliefen die Nacht durch, waren aber morgens um sieben Uhr schon fit. Ich bat sie, etwas leiser zu sein, damit sie ihren Bruder nicht wecken würden. Wir bereiteten gemeinsam das Frühstück zu, als Marlon ins Esszimmer kam, sich ein Brötchen nahm und dann wortlos ins Bett schlafen ging. Er sah zwar müde aus, aber er schien wieder Lebensfreude gefunden zu haben. Ich ging dann nach Hause, weil ich noch meine Hausaufgaben erledigen wollte, ehe ich mittags mit den Hunden spazieren ging.
Der Mittag verging wie im Flug. Leider hatte es beim Spaziergang stark geregnet, weshalb ich komplett durchnässt war. Ich rieb die Hunde mit einem alten Handtuch ab, bevor ich sie ins Haus ließ. Ich wollte nicht, dass sie den ganzen Dreck, den sie im Fell hatten, mitnehmen würden. Sie genossen die Massage sichtlich. Marlon begegnete mir im Treppenaufgang und sah, dass ich von Kopf bis Fuß nass war. Er bot mir an, dass ich eine Jogginghose und ein Shirt von ihm anziehen könnte. Da mir richtig kalt war, nahm ich sein Angebot an. Ich ging hinauf in sein Zimmer, während er sich in der Küche ein Brot schmieren wollte. Kaum war ich umgezogen, hörte ich, dass sich Marlon mit seinem Vater stritt. Sie wurden beide sehr laut. Es ging um den gestrigen Abend. William war wütend, dass Marlon nicht auf seine Geschwister aufgepasst hatte. Marlon wiederum war enttäuscht von seinem Vater, dass er nicht für ihn und seine Geschwister da war. Ich konnte heraushören, dass William betrunken war. Er lallte und war richtig aggressiv gegenüber seinem Sohn. In mir stiegen Panik und Angst hoch. Ich mochte keine betrunkenen Menschen, weil sie für mich unberechenbar waren. Ich wäre am liebsten weggelaufen. Aber ich war wie erstarrt. Ich konnte mich nicht bewegen. Ich zitterte am ganzen Leib. Die Panik gewann die Oberhand. Ich konnte nichts dagegen tun. Mein Herzschlag erhöhte sich, meine Atmung wurde schneller und flacher. In meiner Brust fühlte sich alles so eng an. Ich hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen, was meine Angst nur noch mehr steigerte. Ich stand nur da und hoffte, dass William nicht nach oben in Marlons Zimmer kommen würde. Ich war so mit mir und meiner Panik beschäftigt, dass ich nicht bemerkte, dass der Streit bereits beendet war. Marlon kam in sein Zimmer und sah, wie ich zitternd und kreidebleich dastand. Die Angst war mir ins Gesicht geschrieben.
„Hey. Was ist los mit dir?“, fragte er mich besorgt.
Ich konnte nicht reden. Ich war immer noch wie erstarrt. Marlon merkte, dass ich völlig verängstigt war. Er umarmte mich und flüsterte mir ins Ohr, dass der Streit vorbei wäre und ich keine Angst haben müsste. William würde nicht nach oben in sein Zimmer kommen. Ich wäre sicher. Es dauerte eine Weile, bis mein Gehirn seine Worte verarbeitet hatte. Als ich mich wieder bewegen konnte, ging ich ins Badezimmer. Es war mir peinlich, dass Marlon mich derart schwach gesehen hatte. Ich hatte versagt. Ich war nicht in der Lage gewesen, meine Gefühle und meine Kindheitserinnerungen nicht an die Oberfläche kommen zu lassen. Ich hatte das Gefühl, wieder das hilflose vierjährige Mädchen zu sein. Alles stürzte auf mich ein. Es verfolgte mich. Ich wusste nicht, wie ich damit umgehen und dieses Gefühl loswerden sollte. Ich setzte mich auf den Badezimmerboden und weinte. Ich wollte erst wieder aufstehen und hinausgehen, wenn die Tränen aufgehört hatten. Es kam mir wie eine halbe Ewigkeit vor. Ich versuchte zu lächeln und so zu tun, als wäre nichts gewesen. Aber ich konnte Marlon nichts vormachen. Er saß auf seinem Bett, ein Notizbuch auf seinem Schoß. Ich setzte mich neben ihn. Er blätterte eine Seite auf und gab es mir.
„Deine Worte gestern haben mich auf eine Idee gebracht. Um die Gedanken, die mich quälen, loszuwerden, habe ich sie aufgeschrieben. Du bist die erste Person, der ich das zeige. Meine innersten Gefühle. Ich vertraue dir. Du darfst es gerne lesen.“
Ich wischte mir die Tränen von der Wange und war gerührt von dem Vertrauen, das er mir entgegenbrachte. Niemand hatte sich bisher um mich bemüht, geschweige denn sich bisher Sorgen um mich gemacht. Ich war ihm unendlich dankbar, dass er mir das Gefühl gab, wichtig zu sein. Ich las den Text. Marlon beschrieb darin seine Wut auf sich und auf Gott. Er konnte nicht verstehen, dass ein Allmächtiger seine Mutter hatte sterben lassen. Er beschloss, nicht mehr in einer Welt leben zu wollen, in der ein übermächtiges Wesen existierte, das zuließ, dass seine Familie und er so viel Schmerz und Leid zu ertragen hatten. Er entschied sich, nicht länger gläubig zu sein. Ich schloss das Buch und gab es zurück.
Ich wollte ihm erklären, was mir passiert war. Allerdings wusste ich nicht genau, wo ich anfangen sollte. Ich hatte Angst, dass er mich wegen meiner Vergangenheit verachten könnte. Ich befürchtete, dass er nur noch das Böse und Schlechte mit mir in Verbindung bringen würde, wenn er mein Geheimnis erfuhr. Meinen Eltern hatte ich immer gesagt, dass ich mich nicht erinnern könnte. Ich wollte sie beschützen. Und ich wollte keine weiteren Fragen dazu beantworten. Ich wollte, dass sie glaubten, dass es mir gut ginge. Aber Marlon konnte ich nichts vormachen. Er durchschaute mich. Bis heute frage ich mich, wie ihm das gelingen konnte. Denn ich war nach über zehn Jahren Übung richtig gut darin, meine wahren Gefühle zu verbergen. Er nahm meine Hand und versicherte mir, dass ich ihm vertrauen könnte, dass er mein Geheimnis niemals verraten würde. Er versprach, dass er mich nicht anders wahrnehmen oder behandeln würde. Ich überlegte hin und her.
„Konnte ich ihm wirklich vertrauen?“
Im Grunde kannten wir uns nicht. Aber das war vielleicht gut so. Auf diese Weise hatte er noch kein gefestigtes Bild von mir in seinem Kopf. Ich schaute ihn an und drückte seine Hand ganz fest. Er bemerkte, wie ich mit mir kämpfte. Aber er ließ mir Zeit und bedrängte mich nicht. Er wartete einfach ab, ob ich den Mut aufbringen konnte, ihm meine Geschichte zu erzählen. Ich atmete noch einmal tief ein und aus, bevor ich anfing zu reden.
„Es ist schon verdammt lange her. Keiner kennt diesen Teil meines Lebens. Noch nicht einmal meine Eltern. Du wärst der Erste, dem ich das anvertrauen würde. Es lässt mich nicht los. Es geschieht immer seltener, aber manchmal überkommen mich meine Erinnerungen. Vieles ist verschwommen und undeutlich. An manches kann ich mich auch gar nicht mehr erinnern, während anderes sehr deutlich ist. Es ist verwirrend. Aber ich werde mein Bestes geben, es so verständlich wie möglich zu beschreiben. Eins muss ich vorwegnehmen. Meine Schwester und ich wurden adoptiert“, leitete ich meine Geschichte ein.
Auf diese Weise hoffte ich auf mehr Verständnis und Nachsicht. Ich atmete noch einmal tief durch, ehe ich begann, ihm meine Geschichte zu erzählen.
„Ich erinnere mich, dass wir, also meine Schwester und ich, mit unseren leiblichen Eltern in einer anderen Stadt lebten. Mein leiblicher Vater hatte ein Zweiradgeschäft und meine Mutter half ihm dabei. Er war kein freundlicher Mann. Er war manipulativ und immer, wenn er trank, wurde er aggressiv. Er trank leider viel zu oft, besser gesagt immer. Er isolierte meine Mutter und sorgte dafür, dass sie eigentlich keine Freunde hatte. Er schlug und würgte sie. Sie dachte immer, dass wir das nicht mitbekommen würden. Doch wir wussten, was zwischen ihnen passierte. Allerdings waren wir viel zu jung, um zu begreifen, was das bedeutete. Wir wussten nur, dass es nicht richtig war. Sie war oft traurig, weinte sich in den Schlaf, versteckte ihre blauen Flecke und Würgemale. Sie war einsam und verzweifelt. Sie kannte dieses Verhalten von ihren eigenen Eltern. Einmal fragte sie ihre Mutter um Rat. Das Einzige, was sie sagte, war, dass sich meine Mutter einfach besser benehmen müsste, eine bessere Ehefrau sein müsste. Dann würden die Schläge aufhören. Also blieb meine Mutter. Vermutlich auch, weil sie sonst keine Möglichkeiten hatte. Sie war finanziell von ihm abhängig. Das wusste mein leiblicher Vater. Er genoss es, Macht über sie zu haben. Immer gab er ihr die Schuld an dem was passierte. Sie fing an, ihm zu glauben. Sie fühlte sich klein, schwach und dumm. Vielleicht blieb sie auch, weil sie nicht wollte, dass wir ohne Vater aufwachsen würden. Ich weiß es nicht genau. Ich kann darüber nur spekulieren. Sie hat alles versucht, dass wir ihr Geheimnis nicht erfahren würden. Aber wir wussten es bereits. Wir hielten uns bedeckt, versuchten, ihn nicht wütend zu machen. Wir hatten Angst, dass er auch uns gegenüber aggressiv werden könnte. Eines Abends hatte sie mit einer Freundin telefoniert. Er kam nach Hause und war betrunken und wütend, weil sie telefonierte und das Essen nicht fertig war. Er riss ihr das Telefon aus der Hand. Er würgte sie, bis sie blau anlief. Sie versuchte sich aus seinem Griff zu befreien. Sie schlug um sich. Doch er war viel stärker. Meine Schwester und ich standen in der Tür. Ich hatte meinen Teddybären in der Hand. Wir beobachteten sie. Dann fragten wir unseren Vater, was er da machen würde. Er erschrak und ließ von unserer Mutter ab. Sie rang nach Luft und fasste sich an den Hals. Wir schauten ihn mit großen Augen an. Er verließ das Zimmer. Meine Mutter realisierte nun, dass wir längst wussten, was sie aushalten musste. Sie packte ihre Sachen und verließ ihn.“
Ich unterbrach kurz meine Erzählung, weil ich begann, mich wieder wie dieses kleine Mädchen zu fühlen. Dabei hatte ich im Grunde nie aufgehört, es zu sein. Ich holte noch einmal tief Luft und fasste meinen ganzen Mut zusammen. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis ich weitersprechen konnte.
„Sie versuchte, das Sorgerecht für uns zu bekommen. Es war wohl ein kräftezehrender Prozess. Mein leiblicher Vater wickelte alle anderen Menschen mit seiner charmanten und manipulativen Art um den Finger. Gemeinsam überzeugten sie das Gericht davon, dass meine Mutter unfähig wäre, für uns dreijährigen Kinder zu sorgen. Sie hatte keinen Job, kein Geld, keine eigene Wohnung. Sie machten glaubhaft, dass sie eine schlechte Mutter wäre. Also entschied das Gericht, dass wir bei diesem gewalttätigen Mann bleiben mussten. Sie bekam Besuchsrecht. Ein großer Fehler, wie sich im Nachhinein herausstellte. Das System ließ sie und uns im Stich.
Wir zogen in ein neues Haus, in ein anderes Dorf. Wir hatten keine andere Wahl, als ohne Widerstand mit ihm mitzugehen. Er hatte schnell eine neue Frau gefunden. Sie hatte auch zwei Kinder, zwei Mädchen. Sie waren ein bisschen älter als wir. Das Haus war riesig. Rechts neben dem Eingang befand sich das offene Wohn- und Esszimmer mit Küche. Im ersten Stock war rechts das Zimmer unserer Stiefschwestern. Es war groß und voller Spielsachen. Sie besaßen unzählige teure Klamotten. Sie hatten sogar einen Fernseher in ihrem Zimmer mit Videorekorder und Videokassetten. Links befand sich das Zimmer von meiner Schwester und mir. In diesem befand sich ein altes Hochbett. Wir hatten einen alten kaputten Kleiderschrank, in dem sich sehr wenige und teilweise kaputte Kleidung befand. Wir hatten keine Spielsachen. Lediglich zwei Stühle und einen Tisch. Wir durften nie auf den Spielplatz. Wir würden lediglich Sand und Dreck ins Haus schleppen. Da wir aber Kinder waren und die anderen beiden überall spielen durften, kam es vor, dass wir uns über diese Regel hinwegsetzten. Mit bösen Folgen. Es war niemand mehr da, der uns beschützen konnte. Es war niemand mehr da, der sich für uns opfern würde. Er ließ all seine Aggressionen an uns aus. Nun waren wir an allem schuld, das nicht gut lief. Jeden Abend, wenn wir im Bett lagen, versuchten wir uns zu verstecken. Ich erinnere mich, dass ich sogar oft Angst hatte zu atmen. Es würde meine Position verraten. Jeden Abend, wenn er getrunken hatte, kam er in unser Zimmer.“
Ich hörte auf zu reden. Ich konnte nicht aussprechen, was dann geschah. Ich bemerkte gar nicht, dass ich die Hand von Marlon sehr fest drückte. Ich war kreidebleich, zitterte am ganzen Körper und musste mit den Tränen kämpfen. Marlon schaute mich an, legte seinen anderen Arm um mich und sagte mir, dass ich es nicht aussprechen müsste. Er könnte sich gut vorstellen, was dann geschah. Marlon zögerte keinen Moment. Er versuchte mir meinen Schmerz und meine Selbstverachtung zu nehmen.
„Es tut mir unendlich leid, was dir widerfahren ist. Normalerweise sollten Eltern einen schützen und behüten. Es ist ihre Aufgabe, Kinder zu trösten und in den Arm zu nehmen, wenn es ihnen nicht gut geht. Jetzt verstehe ich, warum du den meisten Menschen misstraust, wieso du kaum körperlichen Kontakt zulässt. Man hat dir dein Urvertrauen genommen. Aber es ist nicht deine Schuld. Du hast nichts falsch gemacht. Dein leiblicher Vater war ein Tyrann und schwach. Er musste Gewalt anwenden, um sich besser zu fühlen. Du bist unglaublich stark. Lass dich nicht von solchen Idioten runterziehen. Du trägst keine Schuld an seinen Taten. Du bist am Leben. Du hast es geschafft, von ihm loszukommen.“
Ich konnte aus seinen Worten heraushören, dass er sich fragte, wie ich aus dieser Situation herausgekommen war. Er wollte mich nicht zwingen, weiter darüber zu sprechen. Er wollte mich nicht bedrängen. Dafür war ich ihm dankbar. Er hatte Anstand und respektierte Grenzen von anderen. Seine Mutter hatte einen großartigen Menschen erzogen. Ich atmete noch einmal tief durch, sodass meine Stimme nicht weinerlich klang und erzählte weiter.
„Von Monat zu Monat wurde es immer schlimmer und schlimmer. Meine Schwester und ich hielten es kaum mehr aus. Wir hatten nur zwei Möglichkeiten ihm zu entkommen. Entweder würde er uns töten oder er würde uns zu unserer Mutter lassen. Wir beschlossen gemeinsam, ihn zur Weißglut zu bringen, indem wir einen ganzen Abend lang nur geschrien haben und alles zerstörten, was wir besaßen. Er wurde unglaublich wütend. Doch er entschied sich dazu, uns gehen zu lassen. Diesen Entschluss fasste er nicht aus Freundlichkeit oder Menschlichkeit. Es war reiner Egoismus. Vermutlich weil man Tote nicht mehr kontrollieren kann. Vielleicht wollte er seiner neuen Frau auch nicht beichten müssen, dass er den Tod von zwei Kindern verursacht hätte. Obwohl ihm dafür sicherlich eine plausible Erklärung eingefallen wäre, in der er als Opfer dastehen würde. Er brachte uns zu unserer Mutter. Ich weiß nicht, wieso, ich kann es nicht erklären, aber er tat es. Sie hatte inzwischen einen neuen Freund. Sie lebten in einer Zweizimmerwohnung in einem Hochhaus in einer großen Stadt. Da wir bis dahin nur schlechte Erfahrungen mit Männern gemacht hatten, waren wir sehr verängstigt. Wir versteckten uns vor ihm. Wir glaubten, dass er uns auch etwas antun wollte. Aber dem war nicht so. Meine Mutter und auch ihr Freund waren mit uns und unserem Verhalten überfordert. Zwei kleine Mädchen, die sich vor der ganzen Welt fürchteten. Einmal wollten sie uns eine Freude machen und gingen mit uns zu einem Abenteuerspielplatz. Allerdings hatten sie nicht mit unserer Reaktion gerechnet. Wir standen völlig erstarrt vor dem Sandkasten und wussten nicht, was wir machen sollten. Bis dahin war es uns strikt verboten gewesen, dort hinein zu gehen. Wir würden uns nur schmutzig machen. Wir würden Sand mit in die Wohnung nehmen. Das bedeutete unglaublichen Ärger. Also standen wir lediglich vor dem Sandkasten und begannen sogar zu weinen. Ich kämpfte damals wie heute gegen die Tränen. Ich hatte gelernt, dass Gefühle zeigen eine Schwäche ist. Aber die ganze Situation überforderte mich. Alles war anders. Alles war neu. Als meine Mutter und ihr Freund das sahen, wurde den beiden klar, dass sie und wir mehr Hilfe brauchen würden. Wir zogen in ein anderes Haus. Wir bekamen ein eigenes Zimmer mit einem neuen Hochbett, welches sogar eine Rutsche hatte. Die ersten Tage bei unserer Mutter hatten wir zu viert auf einer Matratze geschlafen. Keiner hatte damit gerechnet, dass plötzlich zwei vierjährige Kinder mit einziehen würden. Auch neue Kleidung und Spielsachen wurden uns gekauft. Den restlichen Umzug bekamen wir nicht mit. Wir fuhren mit unserer Mutter in eine Mutter-Kind-Kur. Sie erhoffte sich, dass sie dort ein paar Tipps bekommen würde, wie sie mit uns umgehen sollte und wie sie uns helfen könnte. Ich kann mich nicht mehr genau an diese Zeit erinnern. Alles ist verschwommen und unscharf. Ich weiß lediglich noch, dass wir dort andere Kinder trafen und wir uns mit ihnen anfreunden sollten. Wir blieben einige Tage, vielleicht sogar Wochen. Dann fuhren wir zurück. Nach und nach machte uns die Welt weniger Angst. Auch vor dem Freund unserer Mutter fürchteten wir uns immer weniger. Wir fingen sogar an, ihn „Papa“ zu nennen. Allerdings sprachen wir nie über das, was uns bei diesem Monster widerfahren ist. Wir sagten immer, dass wir uns nicht erinnern könnten. Es ersparte uns, darüber sprechen zu müssen. Bis heute versichere ich das meiner Mutter gegenüber. Sie sollte sich keine Sorgen um mich machen. Sie sollte sich keine Vorwürfe machen. Sie wurde vom System dazu gezwungen, uns im Stich zu lassen. Es war nicht ihre freie Entscheidung gewesen. Aber ich hasste es, dass mir das angetan wurde. Ich hasste es, dass sich die Sozialarbeiter und der Richter so leicht hatten um den Finger wickeln lassen. Ich hasste mich selbst dafür, was dieses Monster aus mir gemacht hat.“
Mit diesen Worten beendete ich die Erzählung meiner Vergangenheit. Marlon schaute mich an. Er musste mit seinen Gefühlen kämpfen. Er hielt meine Hand immer noch fest, so als ob er mir zeigen wollte, dass ich nicht alleine war und er nicht weggehen würde. Wir sagten minutenlang kein Wort.
„Ich hatte keine Ahnung, was du bereits hast durchmachen müssen. Und ich kann dich sehr gut verstehen, dass du nicht gerne darüber sprichst. Aber wie du selbst schon festgestellt hast, wurdest du vom System im Stich gelassen. Du hättest das nicht erleben müssen. Die Richter und Sozialarbeiter tragen eine Mitschuld an deinem Leid. Ich kann dir keinen wirklichen Rat geben. Ich kann dir, glaube ich, noch nicht einmal helfen. Ich weiß nicht, was ich sagen soll.“
Marlon versuchte aufmunternde Worte zu finden. Er wollte nicht, dass ich mich so mies fühlte.
„Du brauchst gar nichts sagen oder machen. Du hast mir schon geholfen. Du hast mir zugehört und verurteilst mich nicht wegen meiner Vergangenheit. Das ist mehr als jeder andere getan hat. Das ist mehr, als ich erwartet hatte.“
„Du solltest deine Gefühle aber nicht ignorieren oder unterdrücken. Das ist nicht gesund. Vielleicht solltest du mit deinen Eltern über deine Erinnerungen sprechen. Oder, wenn du das nicht möchtest, dann schreib deine Gedanken und Gefühle auf. Du musst es niemandem zeigen. Aber dann sind sie nicht mehr länger in deinem Kopf. Versuch es doch einfach. Wenn du wieder Flashbacks hast, dann schreibe sie auf. Mir hilft es, meine Gedanken zu notieren. Ich kann auch nicht über alles sprechen. Manches muss ich für mich behalten.“
Seinen Vorschlag, meine Gedanken aufzuschreiben, fand ich gut. Es war etwas, das ich ausprobieren wollte. Aber ich war sichtlich müde von den Geschehnissen. Die Panikattacke, der Flashback und den Mut aufzubringen, meine Geschichte jemandem zu offenbaren, raubten mir meine Kräfte. Auch Marlon schien erschöpft vom Streit. Vermutlich fehlte ihm auch noch Schlaf von der letzten Nacht.
„Ich bin müde. Du darfst gerne bleiben. Wir können den Fernseher einschalten und uns einfach ins Bett legen“, schlug er vor.
Da ich mich unwohl mit dem Gedanken fühlte, verheult die Straße entlang zu gehen oder nach Hause zu kommen, blieb ich. Es war nichts Romantisches zwischen Marlon und mir. Wir lagen einfach nur im Bett, schauten fern und schliefen nebeneinander ein. Es tat gut, jemand Lebendigen neben sich liegen zu haben. Jemanden, der auch einen Herzschlag hatte und warm war. Auf diese Weise fühlte ich mich nicht wie ein Geist oder wie tot. Ganz im Gegenteil, ich fühlte mich lebendiger und leichter als jemals zuvor. Er schaffte es, dass ich den riesigen Brocken, den ich sehr lange mit mir herumgetragen hatte, loswurde.
Er war der erste Mensch, bei dem ich mich sicher und geborgen fühlte. Er war der erste Mann, vor dem ich keine Angst hatte. Er hatte es geschafft, dass ich begann, mein Herz wieder zu öffnen und Gefühle zuzulassen.