Читать книгу Alles, was ich wollte - Julia Eliz - Страница 6
Aus dem Leben gerissen
ОглавлениеEs war ein wunderschöner Tag im Oktober. Die goldenen Blätter wehten im Wind, als wollten sie uns Beobachtern zuwinken. Es war ein ungewöhnlich warmer und sonniger Herbstmonat. Ich unterhielt mich, wie so häufig, mit meiner Nachbarin über das Leben und was es für uns noch bereithalten würde. Sie wartete darauf, dass Marlon und Neal, zwei ihrer Kinder, von der Schule nach Hause kommen würden, während die Jüngsten, Elias und Ben, im Hof spielten. Sie waren so glücklich, so unbeschwert, dass ich sie fast beneidet hätte. Ihre Kinder hatten das große Los gezogen, denn sie wurden von ganzem Herzen geliebt und umsorgt. Sie erzählte mir, dass sie sich freute, endlich mit einem Mädchen schwanger zu sein. Sie könne es kaum abwarten, weibliche Unterstützung neben ihren sechs Männern zu haben. Die Einzigen, die niemals Widerworte gaben, waren ihre Hunde Bruno und Marley, die nie von der Seite ihrer Rudelführerin wichen. Meine Nachbarin war derart glücklich, dass sie mich damit ansteckte und ich für einen kurzen Moment meine eigene Traurigkeit vergaß.
Diese wunderschöne Frau raubte mir den Atem seit dem Tag, an dem sie mit ihrer Familie in die Nachbarschaft gezogen war. Ich bewunderte ihre Ruhe, ihre Gelassenheit und ihre Art, mit anderen Menschen umzugehen. Sie trug so viel Liebe in ihrem Herzen, dass sich jeder in ihrer Umgebung stärker, größer und geborgener fühlte. Zumindest erging es mir so. Ich liebte es, in ihrer Nähe zu sein. Nicht nur, weil ich dann weniger Zeit zu Hause verbringen musste, sondern auch, weil ich versuchte, hinter ihr Geheimnis zu kommen. Sie wurde schnell zu meinem Vorbild. Wenn ich mal Mutter sein würde, dann wollte ich so sein wie sie. Das war mein Plan. Doch leider machte mir das Schicksal einen Strich durch die Rechnung. Ich hatte nicht genug Zeit, um sie besser kennenzulernen. Es war, als sollte sie mir nicht zeigen, wie ich mich selbst lieben lernen konnte. Dabei war sie die erste Person, die mich wahrnahm, die sich freiwillig mit mir unterhielt. Die kurzen Gespräche mit ihr, wenn ich sie auf meinem Weg nach Hause traf, gaben mir so viel Kraft und Mut. Ich wollte die innere Mauer, die ich jahrelang mühselig um mein Herz herum aufgebaut hatte, einreißen. Ich wollte mich nicht länger vor der Welt verstecken. Ich wünschte mir das, was sie hatte: eine Familie, ein Zuhause voller Liebe und Freundlichkeit. Allerdings war das zu diesem Zeitpunkt nicht vorgesehen. Es sollte nicht sein.
Im Nachhinein erscheint das Geschehene wie eine Prüfung, die ich, und vor allem aber ihre Familie, zu meistern hatte. Ich bedauere es zutiefst, dass ich ihr nie gesagt habe, wie sehr ich sie bewunderte und was sie mir bedeutete.
Es war ein Donnerstagnachmittag und ich traf sie nicht am Hoftor an. Ich dachte mir nichts dabei, denn zwei Tage zuvor erzählte sie mir, dass sie sich wegen der instabilen Mauer Sorgen machte. Sie hatte Angst, dass sich Steine lösen könnten, weshalb sie ihre Kinder niemals unbeaufsichtigt im Hof spielen ließ. Darüber hinaus gab es noch andere Dinge, die sie mit ihrem Mann William mit einem Notar klären musste. Ich konnte mich nicht mehr im Detail erinnern, um was es sich genau handelte, aber das war auch nicht wirklich wichtig. Ich ging an ihrem Haus vorbei und war mir sicher, dass sie einfach nur ihre Angelegenheiten regeln müsste und ich sie in den nächsten Tagen entweder beim Spazierengehen oder am Hoftor treffen würde. Niemand verbringt den Tag damit, sich die schlimmsten Szenarien auszumalen, die gegebenenfalls eintreten könnten. Zumindest machen das die wenigsten Menschen unter uns. Diese Einstellung ermöglicht es uns, unser Leben zu leben. Es ist sogar für unsere geistige und körperliche Gesundheit wichtig, dass wir das Vertrauen haben, dass uns nichts Schlimmes widerfahren wird, wenn wir unser Haus verlassen.
Ich schloss die Haustür bei mir auf, machte mir trotz der sommerlichen Temperaturen einen Tee und wollte mich vor dem Fernseher von dem anstrengenden Tag erholen. Meine Schultasche schmiss ich einfach auf den Boden, weil meine Eltern wie gewöhnlich erst spät abends nach Hause kommen würden. Bis dahin hätte ich meine Sachen in mein Zimmer geräumt und säße an meinen Hausaufgaben. Ich stellte meine Tasse auf den Tisch neben der Couch und ging zum Wohnzimmerschrank auf der Suche nach Süßigkeiten. Tief vergraben fand ich schokolierte Nüsse und riss die Verpackung auf, während ich mich auf die Couch setzte. Als der Tee etwas abgekühlt war, wollte ich einen Schluck nehmen. Doch genau in diesem Moment kam mein kleiner Cousin ins Wohnzimmer gerannt. Er war ganz aufgeregt und irgendwie schien er nervös. Ich starrte ihn an und wartete darauf, dass er mir erzählte, was ihn derart aufgewühlt hatte.
„Was ist los?“, fragte ich ihn genervt.
„Du kennst doch unsere Nachbarin, oder? Die, die erst vor ein paar Monaten in das große Haus nebenan eingezogen ist. Die mit den vielen Kindern und den Hunden.“, erwiderte er.
„Ja. Warum?“
„Sie ist tot.“
Meine Augen wurden groß, ich starrte ihn unglaubwürdig an und musste schlucken. Meine Hände wurden kalt, obwohl sie die warme Tasse festhielten. Diese Information verwirrte mich. Das konnte nicht wahr sein. Sie war so lebendig, so glücklich, so voller Lebensenergie. Es war erst ein paar Tage her, dass ich mit ihr gesprochen hatte. Sie war nicht krank. Alles war in Ordnung. Wir lebten in einem kleinen Dorf, in dem niemals Verbrechen passierten. Man konnte sogar unbeschwert sein Auto oder seine Haustür vergessen abzuschließen. Niemand würde auf die Idee kommen, etwas zu stehlen. Er musste sich geirrt haben und seine Informationen konnten nicht richtig sein. Davon war ich überzeugt. Meine Verwirrung wandelte sich in Wut.
„Das ist nicht witzig. Darüber macht man keine Scherze. Das ist nicht lustig. Hast du keinen Anstand?“, brüllte ich ihn an.
Er aber war ganz gefasst und wiederholte das, was er bereits mitgeteilt hatte.
„Das ist kein Scherz, kein Witz. Das würde ich nie machen. Sie ist tot. Es macht bereits die Runde im Dorf. Hast du gehört? Sie ist tot.“
Seine Worte erschütterten mich zutiefst. Mein ganzer Körper war erstarrt. Es fühlte sich so an, als ob mein Herz für einige Sekunden stillstand, als ob die Welt stillstand. Ich war wie gelähmt und ich konnte keinen klaren Gedanken fassen. Ich war nicht in der Lage zu sprechen oder zu atmen. Ich starrte ihn nur an. Seine Worte wirkten so surreal, so unwirklich.
„Was war passiert? Hat sich ein Stein von der Mauer gelöst? Ist er auf sie drauf gefallen? Hatte sie einen Unfall?“
All diese Gedanken schossen in meinen Kopf. Mein Gehirn versuchte, eine rationale Erklärung dafür zu finden, dass eine derart starke und gesunde Frau einfach aus dem Leben gerissen wurde.
„Was war geschehen?“
Ich bemerkte nicht einmal, dass mein Cousin bereits gegangen war. Die Tasse in meiner Hand war zu Boden gefallen und in tausend Teile zersprungen und der Tee hatte sich auf dem Boden ausgebreitet. Doch das war mir egal, weshalb ich alles so ließ, wie es war und meinen Schlüssel nahm. Ich musste raus, raus aus dem Raum, in dem man mir gesagt hatte, dass mein Vorbild nicht mehr da sei. Ich stand komplett neben mir.
Ich lief in die Weinberge und schaute in die Ferne. Ich setzte mich auf eine Bank und beobachtete, wie die Sonne unterging. Gedanklich ging ich jedes Detail der letzten Gespräche, die ich mit ihr geführt hatte, durch.
„Hatte ich etwas übersehen? Hatte ich nicht aufmerksam genug zugehört?“
Es begann zu regnen, aber ich saß weiter regungslos auf der Bank und beobachtete die Vögel, die durch die Schussapparate aufgeschreckt wurden. Ich versuchte Luft zu bekommen und wieder regelmäßig zu atmen. Ich konzentrierte mich darauf, sodass ich mich beruhigen konnte.
Ich weiß nicht mehr, wie lange ich dort saß, aber es muss eine Ewigkeit gewesen sein. Denn ich war komplett durchnässt, als ich wieder nach Hause kam.
Meine Mutter schien gerade von der Arbeit gekommen zu sein. Sie war dabei, mich wegen des Chaos im Wohnzimmer anzuschreien. Meine nasse Kleidung tropfte auf den Boden. Ich war kreidebleich. Ich stand einfach nur da und wartete darauf, dass sich die Wut meiner Mutter auf mich legte. Ich schaute sie an und nahm meinen ganzen Mut zusammen, um Worte aus meinem Mund zu bringen.
„Mama, ich muss dir etwas sagen. Bitte setze dich hin und versuche, nicht auszuflippen.“
„Was ist los? Was hast du angestellt?“, fragte sie mich.
„Unsere Nachbarin ist tot. Es ist wahr. Es ist kein Scherz. Sie ist tot.“
Ich wählte diese Worte mit Bedacht. Ich wollte nicht, dass meine Mutter die gleichen Gedanken haben würde wie ich. Sie stand nur da und schaute mich unglaubwürdig an. Ich wiederholte es so oft, bis ich das Gefühl hatte, dass es bei meiner Mutter angekommen war. Sie sackte in sich zusammen und begann bitterlich zu weinen. Ich nahm sie in den Arm und wollte den Schmerz mit ihr gemeinsam durchleben. Doch sie stieß mich von sich weg. Es kam mir so vor, als wäre sie wütend auf mich, weil ich es wagte, ihr diese Nachricht zu überbringen. Aber für mich war es normal, dass sie keine Zärtlichkeit zuließ. Ich war es gewohnt, dass man mich von sich stieß. Sie richtete sich auf, drehte sich zur Treppe um und ging hoch ins Badezimmer. Sie sagte kein Wort und sie würdigte mich keines Blickes. Ich stand immer noch im Flur und überlegte, das Chaos im Wohnzimmer zu beseitigen. Ich entschied mich, alles wieder sauber zu machen, weil ich zumindest das erledigen konnte, bevor ich mich in mein Zimmer zurückzog, um unbeobachtet der entstandenen Trauer Ausdruck verleihen zu können. Dabei war ich kein Mensch, der Schmerz nicht kannte. Ich kannte ihn sehr gut aus eigener Erfahrung, obwohl ich noch ein Teenager war. Ich hatte bereits gelernt, dass verschiedene Formen von ihm existieren und dass es zwei Wege gibt, mit ihm umzugehen. Wir können uns dem Schmerz stellen und ihn rauslassen. Oder wir versuchen uns besser zu fühlen, indem wir ihn verdrängen, ihn ignorieren. Der erste Weg erfordert aber Mut, Kraft und Menschen, die einen unterstützen, die nicht weglaufen oder wegschauen. Die den Schmerz des anderen aushalten. So jemanden hatte ich nicht an meiner Seite. Gegenteiliges war der Fall. Ich hatte bereits in früher Kindheit gelernt, dass Gefühle zeigen eine Schwäche sei. Aber an diesem Abend hatte ich mich nicht unter Kontrolle. Ich hatte nicht die Kraft, meine Tränen zurückzuhalten. Ich war nicht in der Lage, sie abzustellen. Ich hasste mich dafür, weil ich mich normalerweise immer zusammenreißen konnte. Bisher hatte ich Schmerzen einfach hinuntergeschluckt und ignorierte sie. Aber diesmal war er so heftig, dass er alles andere verdrängte. Ich konnte an nichts anderes mehr denken, außer daran, wie weh es tat. Also verkroch ich mich und zeigte niemandem, was ich fühlte, weil ich nicht schwach sein wollte. Mir war bereits in diesem Moment bewusst, dass wir alle Erfahrungen im Leben machen, die uns auf die Probe stellen und dass uns einzig unterscheidet, wie wir mit diesen umgehen. Ich wollte stark sein. Also atmete ich ein und aus und hoffte, dass der Schmerz von alleine nachlassen würde.
In den nächsten Tagen war es still im Haus meiner Nachbarin. Die Kinder spielten nicht im Hof und man traf die Familie nicht an. Ich hatte das Gefühl, dass sie sich vor den unangenehmen Fragen und den mitleidigen Blicken der Dorfgemeinschaft verstecken wollten. Das konnte ich sehr gut nachempfinden. Ich hätte mich in ihrer Lage auch nicht gerne der Welt gezeigt. Was sollte auch schon auf die Frage, wie es einem geht, geantwortet werden? Denn im Grunde interessiert es niemanden wirklich, wie es einem geht. Die meisten erwarten ein „Gut“, damit nicht weiter nachgefragt werden muss. Ebenso die Frage, was sie jetzt brauchen könnten, würde sie vermutlich überfordern. Trauer ist ein so mächtiges Gefühl, dass es einem schnell zu viel werden kann. Daher entschloss ich mich, der Familie ihren Freiraum zu lassen und ihnen Zeit zu geben. Sie hatten genug mit der Organisation der Beerdigung und der Trauerfeier zu tun. Darüber hinaus kannte ich die Kinder und ihren Mann auch gar nicht. Ich hatte mich immer nur mit ihr unterhalten.
„Also warum sollte ich bei ihnen vorbeigehen und persönlich mein Beileid ausdrücken?“, fragte ich mich selbst.
Dafür gab es keinen Grund. Es würden vermutlich genug andere Leute bei ihnen klingeln und nach ihnen sehen. Trotzdem wollte ich zu ihrer Beisetzung gehen. Es war die erste Beerdigung, die mich emotional derart berühren würde. Sie war mir wichtig, auch wenn das außer mir keiner wusste. Nur durch sie kam ich mir nicht mehr wie ein Geist vor. Aber sie war nicht mehr am Leben und ich wurde wieder unsichtbar.
Die nächsten Tage vergingen dabei wie im Flug. Bei meiner Familie ging fast alles routiniert zu. Nur eine Sache war anders. Zwischen meiner Zwillingsschwester und mir flogen normalerweise regelmäßig die Fetzen. Nicht nur verbal, es konnte auch körperlich zwischen uns werden. Viele Außenstehende denken, dass jedes Zwillingspaar wie Hanni und Nanni wäre. Pure Harmonie und ein starker Zusammenhalt. Aber bei uns war das nie der Fall. Wir hatten keine emotionale Verbindung zueinander. Ganz im Gegenteil. Wir befanden uns ständig im Konkurrenzkampf. In diesen Tagen war das jedoch anders. Ich hatte nicht die Kraft, mich gegen sie zu behaupten, gegen sie zu kämpfen, weshalb ich sie einfach machen ließ. Ich war zu sehr damit beschäftigt, meine Trauer zu verbergen und nach außen hin gefasst sowie stark zu wirken.
An dem Morgen der Beerdigung stand ich eine gefühlte Ewigkeit vor dem Kleiderschrank. Ich konnte mich schlichtweg nicht entscheiden, was ich anziehen sollte. Schwarz. Das war klar. Aber ich fühlte mich in jedem Teil unwohl. Und ich schämte mich, dass ich lediglich eine dunkelblaue Jacke besaß, die dem nasskalten Wetter trotzen konnte. Seit dem Tag, an dem meine Nachbarin verstorben war, war es ungemütlich geworden. Die Temperaturen und das Wetter erinnerten nicht mehr an einen Spätsommer, sondern eher an einen kalten und nassen Herbst. Es war fast so, als ob der Kosmos zeigen wollte, dass er ebenso um diese wunderbare Frau trauerte. Nach einer halben Stunde und mindestens vier verschiedenen Outfits entschied ich mich für eine dunkle Jeans mit einem dicken schwarzen Pullover. Ein Schal musste auch sein. Ich zog schwarze Sneakers an. Andere Schuhe besaß ich nicht. Ich packte noch einen Regenschirm ein, dann ging ich ohne Frühstück aus dem Haus. Ich hatte keinen Hunger. Ich hoffte einfach nur, den Tag zu überstehen. Ich saß im Unterricht, konnte aber den Inhalten nicht folgen. Ich war lediglich körperlich anwesend. Meine Gedanken waren woanders. Ich fragte mich, wie es den Kindern und dem Mann meiner Nachbarin gehen würde. Was sie wohl gerade machen würden.
„Waren sie stark genug, diesen schmerzhaften Tag zu überstehen? Wenn es mich als Außenstehende schon so viel Energie kostete, die Fassung nicht zu verlieren, wie musste es dann ihrer Familie gehen?“
Die fünfte Unterrichtsstunde begann. Wir hatten Chemie und ich wurde immer nervöser. Meine Schwester, ein Klassenkamerad von uns und ich musste früher aus der Stunde entlassen werden. Die Beerdigung fand in dem Dorf statt, in der die Familie vor ihrem Umzug gewohnt hatte. Ich mochte diesen Klassenkameraden nicht. Er war arrogant, eingebildet und ließ mich immer spüren, dass er dachte, dass er etwas Besseres als ich wäre. Aber er war der beste Freund von Marlon, dem ältesten Sohn meiner Nachbarin. Es war also von immenser Bedeutung, dass er für seinen Freund da war. Tief in meinem Inneren war ich froh, dass er der Familie beistehen würde.
Ich schaute ständig auf die Uhr. Ich wollte den Saal nicht zu spät verlassen. Mein Lehrer war davon sichtlich genervt, sagte aber nichts. Zehn Minuten bevor die Stunde zu Ende war, hob ich meine Hand und erinnerte ihn daran, dass wir gehen mussten. Mein Klassenkamerad war verwirrt. Er hatte keine Ahnung, dass wir auch auf die Beerdigung gehen würden. Mir waren seine Blicke und Kommentare gleichgültig. Ich packte mein Chemiebuch und mein Heft sowie mein Mäppchen ein und ging raus auf den Flur. Meine Mutter wartete schon vor der Schule. Ich stieg hinten ein, weil ich keine Lust auf Diskussionen mit meiner Schwester hatte. Sollte sie doch den Beifahrerplatz haben. Auf diese Weise würde ihr und meiner Mutter meine Nervosität hoffentlich nicht auffallen.
„Was wohl auf mich zukommt?“, dachte ich und zuppelte verlegen an meiner Jacke.
Die dunkelblaue Farbe störte mich immer noch. Aber ich konnte es nicht ändern, dass ich keine schwarze Jacke besaß. Meine Mutter gab die Adresse des Friedhofs in das Navigationsgerät ein. Wir waren noch nie in diesem kleinen Dorf am Rhein gewesen. Ich hatte noch nicht einmal von ihm gehört. Die Frauenstimme, die aus dem Gerät kam, sprach monoton und emotionslos. Ich schaute aus dem Fenster und beobachtete, wie die Regentropfen das Glas hinunterliefen. Es erinnerte mich an ein Wettrennen.
„Welcher Tropfen würde wohl zuerst unten ankommen?“
Plötzlich hielten wir an. Anscheinend waren wir angekommen, denn es befanden sich schon unzählige Menschen in schwarzer Kleidung auf der Straße. Viele von ihnen trugen dicke schwarze Mäntel und hielten Regenschirme in ihrer Hand. Noch nie in meinem Leben hatte ich so viele traurige Menschen an einem Ort gesehen. Sie sahen alle sehr mitgenommen aus. Ihre Gefühle konnten die wenigsten zurückhalten.
„Braucht jemand Taschentücher?“, fragte meine Mutter.
Ihre Stimme war weinerlich. Sie musste sehr mit sich kämpfen.
„Nein, danke.“, antwortete ich ihr.
Ich war so naiv zu glauben, dass ich mich unter Kontrolle haben würde. Dass ich diesmal stark genug wäre und meine Tränen zurückhalten könnte. Ich stieg aus dem Auto aus und war irritiert.
„Wohin muss man gehen? Schreibt man sein Beileid in ein Buch oder geht man zur Familie und kondoliert ihnen persönlich?“
Wenn das jeder, der auf dem Friedhof stand, machen würde, dann müssten sie verdammt viele Hände schütteln. Ich wollte nicht aufdringlich sein. Ich fühlte mich sowieso fehl am Platz, weil mich die Familie im Grunde gar nicht kannte. Meine Scham stand mir ins Gesicht geschrieben.
„Sei unbesorgt, es ist alles in Ordnung. Wir bleiben einfach im Hintergrund. Es sind so viele Menschen hier, weshalb keiner auf uns achten wird“, flüsterte mir meine Mutter zu, die dabei war, sich unter die Menschenmasse zu mischen.
Die Bewohner von zwei Dörfern schienen gekommen zu sein, um Anteil zu nehmen. Der Friedhof umfasste längst nicht genug Platz für alle.
„Wie sollten sie gleich in die Andachtshalle passen? Sollte ich einfach draußen stehen bleiben?“
Die Situation und die Masse an Menschen überforderten mich. Es kostete mich sehr viel Überwindung, nicht einfach umzudrehen und zu gehen. Ich hatte schon immer meine Schwierigkeiten mit Menschen. Aber wenn es zu viele auf zu engem Raum gab, löste es Panik in mir aus. Ich schloss für einen kurzen Augenblick die Augen und atmete ein und aus. Ich folgte einfach meiner Mutter und wir verschwanden in der Menschenmasse. Wenn es für sie in Ordnung war, auf der Beerdigung zu sein, dann müsste ich mich nicht schämen. Denn meine Mutter kannte unsere Nachbarin, so wie ich auch, nur durch die Hunde. Wir hielten uns im Hintergrund.
Die Familie stand am Grab. Ein großer Erdhaufen mit einer Schaufel befand sich in der Nähe. Es gab auch einige, die Blumen in der Hand hielten. Die Trauernden gaben entweder eine Schaufel Erde oder eben ihre Blumen ins Grab. Danach gingen sie zur Familie und schüttelten ihre Hände. Ich beobachtete Marlon, Neal, Kilian, Ben und Elias, die Kinder meiner Nachbarin, und ihren Mann William. Sie wirkten wie betäubt, sie waren bleich und ihre Augen durch das viele Weinen rot. Ich hatte das Gefühl, dass sie die Situation überforderte, dass sie neben sich standen. Zu viele Menschen, zu viele Emotionen, die in ihnen brodelten. Ich wollte nicht auch noch einer von denen sein, die die Hände schüttelte, weshalb ich nach einem Kondolenzbuch Ausschau hielt.
„Aber was sollte ich auch schreiben? Danke, dass Du mich wahrgenommen und mit mir geredet hast.“
Das kam mir unsinnig vor, weshalb ich nicht weiter nach dem Buch suchte, sondern einfach in meiner Beobachterrolle blieb und mich im Hintergrund hielt.
Als die Familie zur Andachtshalle ging, folgte ihnen die Menschenmasse. Auch wir schlossen uns dieser Herde an. Es war ein großes Foto von meiner Nachbarin aufgestellt worden. In den ersten Reihen saß ihre Familie mit ihren engsten Vertrauten. Wir saßen ganz hinten. Viele andere standen in der Tür oder sogar draußen im Regen. Es wurden viele Lieder gespielt, wie „I just died in your arms tonight“. Es wurden auch Reden gehalten. Allerdings konnte ich meine Trauer nach dem ersten Lied, einem ihrer Lieblingslieder, nicht mehr kontrollieren. Der Schmerz um den Verlust zerriss mir mein Herz. Es war, als könnte ich auch den aller Anwesenden in mir spüren.
„Wie konnte es nur geschehen, dass so ein großartiger und herzlicher Mensch einfach stirbt? Wieso musste sie so früh aus dem Leben scheiden?“
Sie hatte noch so viele Pläne für sich und ihre Familie. Es erschien mir unfair, so ungerecht und immer noch surreal. Meine Tränen flossen einfach meine Wangen hinunter. Ich konnte sie nicht aufhalten. Es strengte meinen Körper sehr an und da begriff ich, dass trauern wirklich harte Arbeit ist. Die Beerdigung lief dabei wie ein Film vor mir ab. Ich musste immer wieder an die Kinder denken. Ich wünschte ihnen von ganzem Herzen Kraft und Durchhaltevermögen. Gleichzeitig versuchte ich alles, um meine Tränen abzustellen, sodass ich meine Trauer wieder tief in mir vergraben könnte.
Ich war erleichtert, als es endlich vorbei war und wir nach Hause fuhren. Die kalte, feuchte Luft brachte meinen Körper zum Zittern. Er schien trotz der warmen Jacke und dem Schal völlig ausgekühlt zu sein. Ich rieb mir die Hände und versuchte sie ebenso mit meinem Atem anzuwärmen. Das Weinen und der Versuch, meine Traurigkeit zu verbergen, machten mich müde. Als wir zu Hause ankamen, ging ich sofort in mein Zimmer. Ich wollte auch nichts essen. Einfach nur schlafen und Energie tanken. Ich wusste zwar, dass Beerdigungen notwendig für den Trauerprozess waren, trotzdem war mir diese grausam vorgekommen. Nichts desto trotz hoffte ich, dass es noch sehr lange dauern würde, bis ich zur Nächsten gehen müsste.
In den folgenden Tagen lebte ich mein Leben. Dennoch war ich in Gedanken ständig bei dieser Familie. Meine Nachbarin war die treibende Kraft gewesen, weil sie für einen reibungslosen Tagesablauf gesorgt hatte und sich stets um das Wohlergehen ihrer Kinder bemüht hatte.
„Wenn sie nicht mehr da war, würde der Alltag trotzdem funktionieren? Ist man in so einer Situation überhaupt fähig, alltägliche Dinge zu erledigen, wie beispielsweise Lebensmittel einzukaufen, Wäsche zu waschen oder mit den Hunden spazieren zu gehen?“
Ich war hin- und hergerissen.
„Sollte ich meine Hilfe anbieten? Oder würden sie denken, dass ich verrückt wäre?“
Ich malte mir ständig die Situation aus. Da stände ein fremdes Mädchen vor der Tür und würde fragen, ob sie mit den Hunden spazieren gehen dürfe. Wenn mir so jemand begegnet wäre, dann wäre ich misstrauisch geworden und hätte das Angebot abgelehnt. Ich hätte gedacht, dass sie noch jemand wäre, der sich an unserem Leid ergötzen möchte.
Trotz meiner Bedenken fasste ich aber meinen ganzen Mut zusammen und verließ mein Elternhaus. Ich ging zu meinen Nachbarn und lief zur Sprechanlage. Ich wollte die Klingel betätigen, aber meine Gedanken drehten sich immer um meine Sorgen und meine Ängste, als verrückt abgestempelt zu werden. Ich brauchte mehrere Anläufe, kehrte immer wieder um. Wenn mich jemand beobachtet hätte, hätte er oder sie sich sicherlich gefragt, was ich da machen würde. Doch dann überwand ich meine Angst und klingelte. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis jemand an der Sprechanlage zu hören war. Das war aber nicht verwunderlich, denn das Haus meiner Nachbarn war riesig. Während ich wartete, wurde ich immer nervöser. Ich versuchte die richtigen Worte in meinem Kopf parat zu legen und ging das bevorstehende Gespräch gedanklich durch. Als eine Männerstimme zu hören war, schluckte ich noch einmal. In der Stimme konnte man die Traurigkeit und die Erschöpfung heraushören.
„Hallo. Hier ist eine Nachbarin. Sie kennen mich nicht. Ich habe eine vermutlich seltsame Frage. Aber dürfte ich mit Ihren Hunden spazieren gehen?“
Stille, sekundenlange Stille. Ich schloss die Augen und war dabei, meine Frage und mein Vorhaben zu bereuen, als mich der Mann meiner Nachbarin fragte, ob ich jetzt mit den Hunden spazieren gehen wollen würde. Ich brauchte nicht zu überlegen. Ich war froh, dass ich nicht als seltsam bezeichnet wurde und war erleichtert, dass ich eine Aufgabe übernehmen und draußen an der frischen Luft sein durfte. Die Hunde kamen mir entgegengelaufen. Sie kannten mich bereits. Denn immer, wenn ich mit meiner Nachbarin gesprochen hatte, hatte ich sie gestreichelt und geknuddelt. Ich wusste auch, wo ich ihre Halsbänder und Leinen finden würde. Ich leinte die aufgeregten Vierbeiner an und ging die Straße hinunter. Ich nahm einen kleinen Pfad Richtung Feld, sodass wir nicht durch das Dorf laufen mussten. Es war die gleiche Route, die ich früher mit meiner Hündin gegangen war. Sheila, ein süßer kleiner schwarzer Border Collie. Sie starb einige Monate zuvor an Herzversagen. Sie war mein ein und alles, meine beste Freundin, gewesen. Dank ihr konnte ich für einige Stunden von zu Hause fliehen, ohne mich erklären zu müssen. Ich vermisste sie und wenn ich ehrlich war, trauerte ich zu diesem Zeitpunkt auch noch um meinen Wegbegleiter.
Wir gingen eine kleine Lichtung entlang, bevor wir den Feldweg erreichten. Die Hunde gaben die Richtung vor. Sie schnupperten an jedem Grashalm und wedelten mit ihrer Rute. Es kam mir so vor, als ob sie seit dem Tod meiner Nachbarin nicht mehr draußen spazieren gewesen waren. Ich hatte den Eindruck, dass sie es sehr genossen, draußen zu sein und laufen zu dürfen. Wir gingen an den Weinbergen vorbei und ich erfreute mich an der Aussicht. Es war windig, aber ich spürte die Kälte kaum. Seit dem schicksalhaften Tag waren meine Emotionen wie abgestellt. So als hätte man einen Knopf gedrückt oder einen Schalter umgelegt. Denn manchmal hatte ich mich dabei ertappt, dass ich hoffte, meine Nachbarin am Hoftor anzutreffen. Doch jedes Mal, wenn ich dann wieder realisierte, dass sie nicht dort stehen würde, machte es mich traurig. Um mich also vor ständiger Traurigkeit zu schützen, schluckte ich meine Gefühle einfach hinunter und versuchte, sie nicht mehr an die Oberfläche kommen zu lassen.
Nach einer Stunde brachte ich die beiden Hunde zurück. Ich musste nicht klingeln, denn das Tor und die Haustür waren nicht abgeschlossen. Ich ging die Treppe hoch und lief durch den Flur ins Esszimmer, auf der Suche nach meinen Nachbarn. Dort saßen die Kleinen, Elias und Ben, auf der Eckbank. Sie waren gerade vom Kindergarten gekommen und mampften ein Toastbrot mit Nuss-Nougat-Creme. Sie schauten mich mit ihren proportional großen Augen an. Ihre Münder waren völlig verschmiert und die Schokoladencreme klebte an jedem einzelnen Finger. Sie begriffen vermutlich nicht, was geschehen war. Aber ich war mir sicher, dass sie bemerkt hatten, dass sich in ihrem Leben etwas Grundsätzliches geändert hatte. Ich nahm ein Tuch und setzte mich neben sie. Sie fragten nicht, wer ich war. Wahrscheinlich hatten sie in den letzten Wochen viele neue Gesichter gesehen, die ein und aus gingen. Sie streckten mir ihre kleinen Hände voller Stolz entgegen und ich wischte sie sowie ihre Gesichter sauber. Genau in diesem Moment kam ihr Vater William mit einem Korb dreckiger Wäsche hinein. Sein Atem roch nach Alkohol. Er sah sichtlich mitgenommen, müde und tieftraurig aus. Er versuchte es zu verbergen, es wegzulächeln, aber ich konnte seinen Schmerz sehen und spüren. Es dauerte ein bisschen, bis er mich bemerkte.
„Wir sind zurück. Die Hunde liegen draußen im Hof. Danke, dass ich das machen durfte“, sagte ich und stand von der Eckbank auf.
Ich wollte gerade gehen, als mir einfiel, dass ich fragen wollte, ob ich jeden Nachmittag die Hunde holen dürfte. Ich war mir nicht sicher, ob dieser gebrochene Mann verstand, was ich wollte.
„Okay, bis morgen um drei dann“, verabschiedete ich mich.
Nach diesem Tag ging es mir ein wenig besser. Durch die Hunde kam ich mir nicht mehr überflüssig vor, weil ich nun eine Aufgabe hatte. Ich nahm der Familie eine alltägliche Last ab und sorgte dafür, dass Bruno und Marley ihren wohlverdienten Auslauf bekamen. Ich wollte meine Nachbarin nicht ersetzen, aber durch ihre Hunde fühlte ich mich mit ihr verbunden. Es gab mir ein gutes Gefühl, gebraucht zu werden, und ich fühlte mich weniger wie ein Geist.
Ich liebte die Spaziergänge, weil sie mir dabei halfen, den Kopf freizubekommen. Während des Gehens kam es mir so vor, als ob all meine negativen Gedanken und Gefühle von mir abfallen würden. Ich war eins mit mir. Es war keiner in der Nähe, der mich verurteilte oder an mir nörgelte. Wenn mich die Traurigkeit überkam, konnte ich ihr Ausdruck verleihen. Denn weit und breit war keiner, bis auf Bruno und Marley, der mich für schwach halten könnte. Ihnen war es egal, wer ich war oder woher ich kam. Sie waren einfach nur froh, draußen in der Natur zu sein.
Ich gewöhnte mir an, auf dem Heimweg am Kindergarten vorbeizugehen und Ben und Elias abzuholen, weil sie den Weg nach Hause so nicht alleine gehen mussten und sie mir zugleich von ihrem Tag berichten konnten. Ich hatte den Eindruck, dass es ihnen guttat, dass ihnen jemand Aufmerksamkeit schenkte und sie von ihrer Woche und ihren Erlebnissen erzählen konnten. Ich genoss jeden Augenblick mit ihnen. Sie waren wie ihre Mutter voller Lebensenergie und ich hatte endlich wieder Menschen um mich, die gerne mit mir ihre Gedanken teilten.
Manchmal spielte ich mit den beiden Jungs im Hof Fangen oder veranstaltete Wettrennen mit ihren Bobby Cars. Durch die Bewegung an der frischen Luft waren Elias und Ben ausgeglichener und konnten, wie auch ich selbst, Abstand vom hektischen Alltag und der Traurigkeit nehmen. Sie retteten mich vor der Einsamkeit und der Angst, zurückgewiesen zu werden.
Ich beobachtete die Kleinen häufig. Es faszinierte mich, wie sie mit Trauer umgingen. Sie lachten, waren fröhlich und genossen jeden Moment ihres Lebens. Ich beneidete die Fähigkeit von Kindern in die Trauer hinein- und wieder herausspringen zu können. Denn, während Erwachsene scheinbar in ihrer Trauer gefangen sind, leben Kinder im Hier und Jetzt. Sie sind fähig, während ihres Trauerprozesses Glück und Freude zu empfinden. Es kam mir so vor, als würden sie in Raten trauern, weil sie in dem einen Moment bitterlich weinen und im nächsten Moment schon wieder fröhlich lachend spielen konnten. In manchen Situationen überkam sie jedoch tiefe Traurigkeit und manchmal sogar Zorn. Ganz plötzlich, ohne Vorwarnung. Aber ich ließ sie machen, denn diese heftigen Phasen dauerten in der Regel nicht lange an. Wenn sie es wollten, nahm ich sie in den Arm. Wenn sie laut schreien oder etwas durch die Gegend werfen wollten, dann ließ ich es zu. Sie sollten keine Angst haben, ihre Gefühle zu zeigen, weil es mir einfach wichtig war, dass sie ihre Kindheit genießen konnten und sich wie Kinder verhalten durften.
Es kam sogar vor, dass sie mich etwas über den Tod fragten. Es waren allgemeine Fragen und es ging dabei selten um ihre Mutter. Oft sagen Erwachsene, dass eine verstorbene Person im Himmel wäre oder dass sie lediglich eingeschlafen wäre. Aber diese Beschreibungen kamen mir falsch vor. Ich wollte den Kindern keine Angst machen. Sie sollten unbekümmert in den Himmel schauen oder ins Bett gehen können, ohne befürchten zu müssen, dass sie selbst nicht mehr aufwachen würden. Deshalb gab ich den Kindern keine Antwort, sondern bat sie, mir ihre Vorstellungen zu beschreiben. Denn obwohl viele Erwachsene glauben, dass sie alles wüssten, auf alles eine Antwort hätten oder haben müssten, war ich überzeugt davon, dass niemand wirklich weiß, wie das Leben funktioniert.
Ich wusste auch nach Wochen immer noch keine Details zur Todesursache. Der Einzige, der wusste, was geschehen war, war nicht fähig, darüber zu sprechen. Er war in tiefer Trauer und brauchte Zeit für sich. Diese wollte ich ihm schaffen. Nicht, weil ich es ihm nicht zutraute, den Alltag zu meistern, sondern weil ich das Gefühl hatte, dass er das brauchte. Jeder trauert individuell und Trauer kennt keine zeitliche Begrenzung. Manchen Menschen fällt es schwer, einen Zugang zu ihren Gefühlen zu finden, manche haben nicht den Mut, sie anderen zu zeigen und wieder andere tragen ihr Herz auf der Zunge. Trauer und der Umgang mit jeglicher Art von Emotionen sind abhängig von der bereits gemachten Lebenserfahrung, der Erziehung und der eigenen Einstellung. Es hängen also viele Faktoren davon ab, wie Trauerprozesse verlaufen. Das lernte ich durch diesen tragischen Todesfall.
Außerdem sollten seine Kinder so wenig wie möglich von der Trinkerei und den Depressionen ihres Vaters mitbekommen. Sie sollten weiterhin unbeschwert ihr Leben leben dürfen. Ich versuchte alles, um das Böse aus ihrem Leben fernzuhalten. Sie würden noch früh genug herausfinden, dass das Leben viel Schmerz bereithält. Ich wollte sie beschützen, so gut es mir möglich war, ohne jedoch Grenzen zu überschreiten. Ich war nicht ihre Mutter und im Grunde war ich niemand. Nur ein Mädchen, das ihnen zuhörte und mit ihnen spielte.
Inzwischen war es Winter geworden und ich verbrachte immer mehr Zeit bei dieser Familie. Das war das, was ich selbst brauchte, und ich war so egoistisch, es mir zu nehmen. Wenn ich die Kinder nachmittags vom Kindergarten abgeholt hatte, wollten sie oftmals eine Kleinigkeit essen und danach spielen. Weil es nun kalt geworden war, taten wir dies entweder in ihrem Kinderzimmer oder im großen Wohnzimmer. Sie durften entscheiden, was gespielt wurde. Ich wollte ihnen das Gefühl geben, dass sie ihren Tag selbst bestimmen konnten und hoffte, dass sie dadurch selbstständig werden würden. Des Öfteren kam Kilian, einer der älteren Söhne, und ließ mich über seine Hausaufgaben schauen oder fragte mich, wenn er etwas nicht verstand. Es tat gut, gebraucht zu werden. Es erfüllte mein Herz mit Freude und Liebe, dass mich diese Kinder so annahmen, wie ich war. Ich war und bin ihnen immer noch sehr dankbar dafür. Sie haben mich gerettet, weil ich in jeder Sekunde, in der ich bei ihnen war, Freude empfand. Es schien, als hätten sie das Kind in mir zum Leben erweckt und als würde ich die Welt mit anderen, mit ihren Augen sehen. Sie gaben mir Selbstvertrauen und dieses Geschenk hatte ich nie erwartet.
Eines Abends, nachdem ich meine Hausaufgaben erledigt hatte, klingelte mein Telefon und ich wunderte mich, wer nachts um elf Uhr noch anrufen würde. Es war meine Klassenlehrerin.
„Du bist doch gut mit deinen Nachbarn bekannt, oder?“, fragte sie mich direkt.
Ich bejahte diese Frage und war verwirrt, was sie wohl von mir wollte. Eigentlich wusste kein Außenstehender, was ich in meiner Freizeit machte. Ich sprach nie darüber, weil es keinen etwas anging.
„Ich mache mir Sorgen um Neal. Er hat fast nie Unterrichtsmaterial dabei und beteiligt sich wenig aktiv an Unterrichtsgesprächen. Könntest du bitte mit ihm und seinen Eltern darüber sprechen?“
Diese Bitte machte mich wütend.
„Was sollte das? Was dachte sie sich nur dabei? Hatte sie keine Ahnung, was passiert war? Sie sollte froh sein, dass er überhaupt zur Schule ging und versuchte, wenigstens ein bisschen was zu lernen. Außerdem war ich nicht die Mutter oder der Vater. Ich war selbst noch Schülerin, eine Jugendliche“, dachte ich, während ich versuchte, meine Wut herunterzuschlucken.
Ich versprach, dass ich mit Neal und seinem Vater sprechen würde. Als ich im Bett lag, dachte ich noch eine Weile über das Telefonat nach.
„Gab es wirklich keinen Lehrer, der Verständnis für diese Jungen hatte? Glaubten sie, dass man so einen Verlust nach ein paar Wochen einfach weggesteckt hätte und wieder zur normalen Tagesordnung übergehen könnte?“
In dieser Nacht schlief ich sehr unruhig. Ich überlegte, wie ich das Gespräch anfangen sollte. Ich wollte nicht maßregelnd sein, denn das stand mir nicht zu. Ich dachte sogar daran, es gar nicht anzusprechen. Neal würde seinen Weg gehen. Er war ein kluger Junge, der eben gerade andere Dinge im Kopf hatte als Mathematik oder Chemie oder sonst etwas, das man in der Schule lernte. Dafür sollten Pädagogen doch eigentlich Verständnis haben. Lernen und gute Noten sind nun mal nicht immer die erste Priorität. Es gibt so viel mehr im Leben.
Im Laufe des nächsten Vormittages entschloss ich mich dazu, weder Neal noch seinen Vater bezüglich der Inhalte des Telefonats anzusprechen. Es war ein zu großer Eingriff in ihre Privatsphäre. Es ging unsere Lehrerin nichts an. Sie hatte kein Recht, auf diese Weise über ihn zu urteilen oder mir diese Aufgabe zu übertragen. Sie müsste sich schon persönlich an die beiden wenden.
Aber wie es der Zufall wollte, traf ich Neal im Haus an. Er schien traurig und ein bisschen neben sich zu stehen. Ich setzte mich zu ihm, während die Kleinen in Bens Zimmer eine Höhle aus Decken und Kissen bauten. Fast wäre mir die floskelreiche Frage, wie es ihm geht, über die Lippen gekommen. Stattdessen sagte ich ihm, dass ich für ihn da wäre und dass er mit mir über alles sprechen könnte. Ich würde ihn niemals verurteilen oder mit anderen darüber reden. Wenn es also etwas gäbe, das ihn quälte, ihn nicht losließe, dann könnte er es mit mir teilen. Ich konnte sehen, wie er mit sich rang und kämpfte. Er schien hin- und hergerissen zu sein. Ich drängte ihn nicht. Ich saß nur neben ihm.
„Julia, versprich mir, dass du wirklich mit niemanden darüber sprechen wirst“, bat er mich, so als ob er sicherstellen wollte, dass ich es ernst meinte.
Nachdem er noch einmal durchgeatmet hatte, begann er, mir sein Geheimnis zu erzählen. Währenddessen konnte er seine Verzweiflung und Traurigkeit nicht zurückhalten. Am liebsten hätte ich ihn in den Arm genommen. Doch ich hatte das Gefühl, dass er das nicht wollte. Also saß ich nur da und hörte ihm zu. Das, was er mir erzählte, zerriss mir erneut mein Herz.
An dem Nachmittag, an dem seine Mutter starb, rief sein Vater an. Neal nahm den Hörer ab und erwartete nichts Böses. Allerdings musste er als Erster und völlig auf sich allein gestellt die Nachricht vom Tod seiner Mutter entgegennehmen. Es war niemand in der Nähe, der ihn damals in den Arm nehmen konnte. Ihm wurde die unfassbar schwierige Aufgabe gestellt, nicht nur diese Nachricht zu glauben, sondern er war es, der seinen Geschwistern davon berichten musste. Jemandem vom Tod eines Angehörigen zu erzählen, kann auch die erfahrensten Erwachsene überfordern. Unglaublich, dass das von ihm erwartet wurde. Aber er versuchte dieser Aufgabe gerecht zu werden, obwohl er sich selbst in einer Art Schockzustand befand. Als Erster begegnete ihm Kilian, der von der Grundschule kam und nach dem Gameboy seiner Mutter fragte. Er konnte nicht ahnen, welche Nachricht sein Bruder einige Minuten zuvor erhalten hatte. Neal war kreidebleich, seine Hände zitterten. Nun lag es an ihm, seinem kleinen Bruder zu sagen, was geschehen war. Kilian reagierte mit Unverständnis und Wut. Er schrie Neal an, glaubte ihm kein Wort, bezeichnete ihn als Lügner und knallte seine Zimmertür zu. Er wollte und konnte es nicht wahrhaben. Nach dieser heftigen Reaktion hielt es Neal nicht mehr aus. Es war zu viel für ihn. Er konnte nicht noch einmal jemandem sagen, dass ihre Mutter gestorben war. Er ging raus auf den Hof und versteckte sich. Es war ihm gleichgültig, dass es zu regnen angefangen hatte. Er musste schreien, seiner Wut und Verzweiflung Ausdruck verleihen. Er schlug seine Hände solange auf den Boden, bis sie bluteten.
Seit diesem Tag hasste er das Geräusch des Telefons. Jedes Mal, wenn es klingelte, zuckte er zusammen. Es erinnerte ihn an den Schmerz, den man ihm an diesem Tag zugefügt hatte. Nun wunderte es mich nicht mehr, dass er sich am liebsten vor seiner Familie, vor der Welt versteckte. Er war es, der die Todesnachricht hatte überbringen müssen. Er hatte das Gefühl, dass man mit ihm nur noch den Tod in Verbindung bringen würde. Ich gab mein Bestes, ihm dieses Gefühl zu nehmen. Es war mir wichtig, dass er wusste, dass er Unglaubliches zu leisten gehabt hatte und dass es eigentlich nicht seine Aufgabe gewesen wäre. Ich sagte ihm, dass ich in ihm einen starken, klugen Jungen sehen würde. Ich versuchte ihm verständlich zu machen, dass er jedes Recht hatte, sich zurückzuziehen, um wieder eins mit sich selbst werden zu können. Ich würde ihn verteidigen, ich würde dafür sorgen, dass er Zeit für sich bekommen würde. Ich würde alles machen, was er brauchte.
„Ich möchte alleine sein und dann einfach zum Fußballtraining gehen. Bitte, sprich mit niemandem über das, was ich dir erzählt habe“, bat er mich erneut.
„Okay“, erwiderte ich und gab ihm den Freiraum, den er sich wünschte.
Ich selbst musste mit meinen Gefühlen kämpfen. Es machte mich wütend, dass man einem dreizehnjährigen Jungen solch eine Aufgabe übertragen hatte.
„Hatte sein Vater nicht gewusst, was für eine Bürde er ihm da auferlegt hatte? Er war vielleicht selbst in einem Schockzustand. Er realisierte womöglich gar nicht, was er da angerichtet hatte.“
Mit diesen Gedanken versuchte ich mich zu beruhigen. Ich durfte nichts infrage stellen, weil ich nie direkt beteiligt oder betroffen war. Niemand weiß, wie man selbst in solch einer Situation reagiert hätte. Es stand mir nicht zu, zu urteilen. Ich musste einfach glauben, dass William nur die besten Absichten gehabt hatte. Aber ich war froh, dass ich ihm an diesem Abend nicht begegnete. Er war oft nicht da und ließ die Kinder allein. Er baute darauf, dass sich Marlon um seine Geschwister kümmern würde. Er hatte unglaubliches Glück, solch großartige und selbstständige Kinder zu haben, die es akzeptierten, dass er Zeit für sich brauchte.