Читать книгу Fettnäpfchenführer Norwegen - Julia Fellinger - Страница 9

Оглавление

1

MIT DEN NORWEGERN AUF DU UND DU

WIE DIE RICHTIGE ANREDE TÜR UNDTOR ÖFFNEN KANN

Kilometer 0

Stefan Derek ist es einfach nur übel. Er steht schon seit über einer Stunde an der Reling, immer den Kopf leicht darübergebeugt für den Fall, dass er sich doch noch mal übergeben muss, und hofft, dass die Kielfähre endlich in Oslo ankommt. 20 Stunden Hölle hat er hinter sich, in denen sein Magen jeder Wellenbewegung des unruhigen Skagerraks nachgespürt hat. Leider hat er im Augenblick so gar keinen Sinn für die schöne Aussicht auf die Stadt, die, umrahmt von einer bewaldeten Bergkette, fast schon etwas verschlafen am Ufer des Oslofjords liegt. Eigentlich hat man von hier aus auch einen schönen Blick auf den Holmenkollen, aber Stefan bekommt von alledem nichts mit.

»Stürmische See im Frühling«, hat der Mann an der Rezeption nur gemeint und ihm am Abend zuvor ein paar Tabletten gegen Übelkeit gegeben. Die haben aber ebenso wenig geholfen wie die unzähligen Zigaretten, die er gegen die Seekrankheit angeraucht hat. Erst als er nachts den gesamten Mageninhalt den Fischen des Skagerraks zum Fraß vorgeworfen hatte, ging’s ihm besser.

Jetzt ist sein Magen leer, seine Müdigkeit groß, seine Laune schlecht und seine große Lust, mit der er sich an seinen neuen Auftrag in Norwegen machen wollte, momentan auf dem Nullpunkt. Rumpelnd legt das große Fährschiff mit dem fantasievollen Namen »Color Fantasy« pünktlich um 10 Uhr am Kai an und entlässt nach und nach die Autos aus seinem Bauch. Auch Stefan ist dabei mit seinem dunkelblauen 5er BMW, Baujahr 2007. Er stellt sein Auto auf dem Parkplatz hinter dem Zoll ab und wartet. Wie wohl Cecilie mittlerweile aussehen mag? Wie heißt sie eigentlich noch mal mit Nachnamen? Vor neun Jahren haben sie sich das letzte Mal gesehen. Da waren sie beide gerade fertig mit ihrem Jurastudium in Freiburg, und Cecilie ist danach gleich wieder in ihre Heimatstadt Oslo zurückgekehrt. Jetzt arbeitet sie bei einer großen Unternehmensberatung im Bereich Schiffspatente. Als er sie anrief und sagte, dass er beruflich in Norwegen zu tun habe, hat sie darauf bestanden, dass er bei ihr und ihrer Familie wohnen solle. Das konnte seinem Chef nur recht sein, der Stefan den Auftrag gegeben hatte, in Norwegen nach einem verschwundenen Munch-Gemälde zu suchen. Man vermutete einen Versicherungsbetrug, und Detektiv Stefan Derek wurde losgeschickt, um der Sache auf den Grund zu gehen. Er sollte zwar sein Privatauto mitnehmen, darf aber jeden Kilometer und natürlich auch die Spesen abrechnen. Deshalb stellt er jetzt erst einmal den Kilometerstand auf der Anzeige in seinem Auto auf null. Wohlweislich hat er auch die Winterreifen noch draufgelassen, obwohl es schon Mitte April ist und es in Deutschland gar nicht schnell genug gehen könnte, sie gegen Sommerreifen einzutauschen.

Endlich nähert sich ein silberfarbener E-Golf (2017 das meistverkaufte Auto in Norwegen), und heraus steigt eine Frau Mitte dreißig, groß und kräftig gebaut (nicht dick) mit blonden, glatten Haaren und einem gebräunten Teint.

Bevor Sie jetzt fragen: Nein, diese Frau war nicht kürzlich erst im Urlaub. Einige Norweger helfen ihrer Bräune gerne im Solarium nach, was manchen diesen unnatürlich übertönten Teint verleiht und in Kombination mit blondem (oder blondiertem) Haar zum Teil sehr merkwürdig aussieht.

Die Frau ist modisch gekleidet mit einer sportlichen weißen Daunenjacke, dunklen Leggings und schwarzen hohen Stiefeln.

»Hallo Stefan, schön, dich zu sehen«, sagt Cecilie in sehr gutem Deutsch mit einem charmanten norwegischen Akzent.

Stefan fällt leider immer noch nicht ein, wie sie nun mit Nachnamen heißt. Die beiden umarmen sich herzlich zur Begrüßung, bevor sich jeder wieder in seinen Wagen setzt und Cecilie ihn durch die Innenstadt zu sich nach Hause navigiert. Als sie das rote Reihenhaus im unverwechselbar skandinavischen Holzhausstil betreten, entdeckt Stefan auf dem Klingelschild den Namen »Friedland«. Na also, das war detektivisch gut von ihm, jetzt muss er sich nicht die Blöße geben und gestehen, dass er Cecilies Namen vergessen hat. Wahrscheinlich hat sie nach der Hochzeit ohnehin den Namen ihres Mannes angenommen.

»Sie müssen Herr Friedland sein, es freut mich sehr, Cecilies Mann endlich kennenzulernen. Ich bin Stefan Derek«, begrüßt er überschwänglich den großen Mann mit den breiten Schultern, der sich vom Küchentisch erhebt, als sie eintreten.

»Herr Friedland« ist einen Augenblick perplex und weiß nicht recht, ob er verwirrt sein oder lieber loslachen soll. Stephan Derrick, alias Horst Tappert, ist nach wie vor der beliebteste Ermittler im norwegischen Fernsehen. Die Krimiserie »Derrick« zählt zu den ersten deutschsprachigen Serien, die in Norwegen ausgestrahlt wurden, und ist auch heute noch – mehr als 20 Jahre nach ihrer Einstellung – Kult. Wie alle Filme und Serien wurde auch diese in Originalsprache mit norwegischen Untertiteln gezeigt.

»Äh, ich bin Henrik, ja, Cecilies Mann. Aber ich heiße nicht Friedland. Ich heiße Sundnes. Henrik Sundnes.« Die forsche Begrüßung hat ihn ein wenig überrumpelt.

»Wer heißt denn dann Friedland?«, fragt Stefan irritiert und muss dann doch eingestehen, dass er Cecilies Namen vergessen hat.

»Das Klingelschild. Ich heiße Vigland, wie früher auch. Cecilie Vigland Sundnes.«

Schleudergefahr

Gut erzogen, wie Stefan nun mal ist, hat er die wichtigste Regel im Umgang mit fremden Menschen sogleich in die Tat umgesetzt: begrüßen und sich vorstellen. Das ist in München-Schwabing nicht anders als in Oslo-Vinderen. Was aber hat er falsch gemacht? Zunächst einmal hat er Henrik gnadenlos unhöflich einfach auf Deutsch angesprochen, ohne vorher sicherzustellen, dass sein Gegenüber ihn überhaupt versteht. Außerdem hat er ihn gesiezt, eine Form, von der Norweger schon mitbekommen haben, dass sie in Deutschland üblich ist, jedoch bei ihnen völlig fehl am Platz. Herr und Fru (Frau) hat man zu einer Zeit noch verwendet, als Kronprinz Olav im Trondheimer Stiftsgård auf dem Holzfußboden spielte. Heutzutage duzen sich alle von Lindesnes bis Hammerfest, vom Staatsminister bis zum Fischer, nur bei der Königsfamilie macht man eine Ausnahme. Die gesiezte Form, also das De (Di gesprochen), findet man fast nur noch in amtlichen Schreiben. Selbst die ältere Generation, die eine gesiezte Anrede noch im alltäglichen Gebrauch erlebt hat, erschrickt nicht, wenn sie mit einem Du angesprochen wird. Wobei dieses Du wie Dü ausgesprochen wird, ansonsten würde es in der deutschen Aussprache nämlich Klo bedeuten, was in diesem Zusammenhang wohl eher unangebracht wäre.

Und drittens war Stefans Annahme falsch, dass der Mann wie seine Frau heißt. Das ist mittlerweile ja auch in Deutschland nicht mehr ganz so selbstverständlich und in Norwegen vor allem deshalb nicht gebräuchlich, weil neben dem gemeinsamen Familiennamen auch immer wieder der Mädchenname der Mutter oder der Name des Hofes verwendet wird. Dieser sogenannte mellomnavn (Zwischenname) oder auch erster Nachname ist nach öffentlichem Recht Teil des Vornamens und kann nicht auf Ehepartner und Kinder übertragen werden. Der Nachname des Mannes und der Nachname der Frau können dann wiederum den gemeinsamen Familiennamen bilden – als Doppelname ohne Bindestrich (slektsnav, etternavn). Für welchen Familiennamen man sich am Ende entscheidet, ob für den vom Mann oder der Frau, bleibt den Paaren selbst überlassen. Viele Frauen benutzen auch nach ihrer Hochzeit ihren ursprünglichen Namen, was in dem kleinen Norwegen auch darauf zurückzuführen ist, dass Nachnamen hervorragende Türöffner sein können und auf die geografische Herkunft ebenso schließen lassen wie auf einen eventuell dänischen oder kaufmännischen Ursprung. Über 400 Jahre (1380–1814) war Norwegen in einem Staatenbund mit Dänemark zusammengeschlossen, doch die in der Regel dänischen Kaufleute standen gesellschaftlich über den norwegischen Bauern und Fischern.

Ähnliches gilt es bei den Vornamen zu beachten: Stellt sich jemand mit zwei Vornamen vor, dann möchte er diese auch verwenden. Es ist nicht unbedingt höflich, wenn man bei der ersten Begegnung der Einfachheit halber aus einem Lars Fredrik gleich einen Lars macht. Ebenso wie Sverre Magnus und Ingrid Alexandra nicht einfach nur Sverre und Ingrid genannt werden wollen. Kennt man sich näher oder bietet es der mit zwei Namen Ausgestattete direkt an, kann man gerne auf den zweiten Namen verzichten. In diesem Fall kann es hilfreich sein, einfach nachzufragen.

Tempo drosseln!

Machen Sie sich locker! Ein Verzicht auf Ihre gesiezte Anrede bedeutet noch lange nicht, dass Ihr Gegenüber sich als Nächstes auf Ihren Schoß setzen wird. Distanz ist schön und gut, vor allem in Norwegen mit seinen Entfernungen und Weiten weiß man davon ein Lied zu singen. Durch die Anrede mit Du aber kommt man sich auf formlose und unkomplizierte Art einen Schritt näher und wahrt dennoch den Respekt und einen angemessenen Abstand. Apropos Abstand: Auch in Norwegen gibt man sich zur Begrüßung die Hand, das immerhin hat Stefan nicht falsch gemacht. Wer sich näher kennt, der drückt sein Gegenüber kurz an sich beziehungsweise legt Wange an Wange – allerdings nur für einen kleinen Moment, denn allzu viel Nähe ist dem Norweger wiederum unangenehm. In Deutschland völlig unüblich, weil maximal respektlos, für Norweger aber gebräuchlich ist die Kombination von Du und Nachname, wie etwa »Halvorsen, jetzt bist du dran«.

Und noch eine kleine Information zum Namen Friedland: Ginge es nach dem Klingelschild, dann hieße ungefähr die Hälfte aller Norweger Friedland. Friedland ist aber nur der Hersteller dieser typisch norwegischen Klingel. Weil die Norweger manchmal zu faul sind, das Firmenschild darin gegen ihren eigenen Namen auszutauschen, weist das Schild eben immer mal wieder einen Friedland aus, obwohl der dort gar nicht wohnt.

Fettnäpfchenführer Norwegen

Подняться наверх