Читать книгу hell/dunkel - Julia Rothenburg - Страница 7
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Sie schläft schon, als er die Tür öffnet. Ob sie weiß, wie sie aussieht, wenn sie schläft?
Natürlich nicht, denkt Robert. Das weiß ja keiner von sich. Man kennt sich selbst doch nur als festgefrorenes Gesicht auf einem Foto, als Wackelbild im Spiegel. Es fehlt immer das Wesentliche.
Wie ruhig Valerie jetzt wirkt. Sie hat vergessen, sich abzuschminken. Mit dem dunklen Lidstrich und den hellrosa Wangen sieht sie aus wie eine bemalte Porzellanpuppe.
Ein Streifen Licht huscht über ihren Körper, als er die Tür noch ein Stückchen weiter öffnet und dann wieder schließt.
Sie wacht nicht auf. Er ist merkwürdig enttäuscht. Ein wenig rumpelt er absichtlich gegen die Wände. Er horcht immer wieder nach. Nichts regt sich. Armselig, das weiß er. Aber so leise, so ruhig kommt ihm die Wohnung irgendwie komisch vor, falsch. So ohne jeden Herzschlag.
Selbst im Wohnzimmer wirkt alles gespenstisch verlassen. Sie hat aufgeräumt, oder kommt es ihm nur so vor? Die Arbeitsplatten glänzen regelrecht, darauf eine Schale mit Obst, wie eine Dekoration im Möbelprospekt.
Im Sofa sinkt er ein, als wäre es uralt. Tatsächlich hat er aber keine Erinnerungen daran. Dann fällt ihm doch etwas ein, ein kurzes Aufblitzen nur, er sieht sich selbst mit Valerie dort sitzen, die Fernbedienung in der Hand nach oben gestreckt, Valerie hüpft auf ihm herum, greift nach ihr. Gellend hört er ihr Schreien im Ohr, ihr Lachen, sein eigenes Lachen. Irgendwann hat sie natürlich geheult, meistens hat sie irgendwann geheult. Beinahe muss Robert lächeln. Woran man sich immer erinnert. Als gäbe es nichts Wichtigeres in all seinen Erinnerungen als dieses Heulen.
Robert steht wieder auf, durchsucht die Schränke, findet aber keinen Alkohol. Besser so, denkt er. Er wollte schließlich auch damit endlich aufhören.
Dann findet er doch etwas: Unter der Spüle steht noch eine angebrochene Flasche Wein. Er stellt sie vor sich auf den Couchtisch, schaut eine Weile darauf. Irgendwann nimmt er doch einen Schluck. Der Wein ist sauer und warm, wird auch nach ein paar weiteren Schlucken nicht besser.
Wie er hier sitzt mit der halbvollen Flasche, nicht mal mit einem Glas, das ist beschämend und albern zugleich. Seine Mutter stirbt, und er sitzt im Wohnzimmer und lässt sich volllaufen, starrt in die Dunkelheit um sich, als suchte er eine Antwort, kippt noch einen nach, weil da nichts kommt.
Aber was hat er erwartet?
Das ist die Frage, die ihm die Psychotante immer zuerst gestellt hat. Was haben Sie denn erwartet? Augenbrauen hochgezogen, verständnisvoller Blick, leicht nach vorne gebeugt, nicht zu sehr, damit er sich nicht bedrängt fühlt. Ist ja sein Raum, seine Stunde. Da ist sie ganz offen, das kann er ganz frei – dabei macht doch schon das Knarzen dieses blöden Therapiestuhls, dass nichts mehr frei ist. Dass er über jede Bewegung extra nachdenkt, weil jedes Zurechtrücken, jedes Beinüberschlagen schon dazu führt, dass man es im engen Raum hört, als hätte er damit etwas zugegeben. Ein Geständnis seiner Körperhaltung, er muss gar nicht den Mund aufmachen, die Psychotante guckt auch so schon, als wüsste sie alles. Ohne ihn anzusehen natürlich, Blick diskret an ihm vorbei.
Ja, was hat er erwartet? Irgendeinen Knall vielleicht. Schließlich ist es ewig her, seit er das letzte Mal hier war. Zumindest gefühlt. Vor drei Monaten war er kurz im Krankenhaus, davor hatte er an Weihnachten vorbeigeschaut. Aber da hatte er gleich gesagt, dass er arbeiten müsse, dass er deswegen nicht lange bleiben könne, dabei hat die Firma über Silvester ja zu.
Ansonsten die Stimme der Mutter am Telefon. Und am Telefon klang die Mutter so anders, blechern und gleichzeitig fröhlich, auf eine distanzierte Art, genau so wie sie vermutlich mit ihren Kollegen geredet hatte, damals, als sie noch arbeitete.
Wie kommt er jetzt eigentlich darauf? Er war ja nie mit ihr im Büro, nicht in der Firma vorher und schon gar nicht bei dieser komischen Wohltätigkeitsorganisation, wo sie als Buchhalterin gearbeitet hatte. Aber das eine Mal, jetzt erinnert er sich, da hatte sie von zu Hause gearbeitet. Valerie hatte die Windpocken oder so. Auf jeden Fall war ihm furchtbar langweilig gewesen, und er hatte im Wohnzimmer gespielt. Er hörte sie telefonieren, und einen Moment war er nicht sicher, ob das wirklich sie war. Diese andere Stimme plötzlich. Diese andere Mutter, die sie war und dann gleich schon nicht mehr war, als sie nämlich auflegte und rummeckerte, weil er vergessen hatte, seinen Spielzeugkran wieder wegzuräumen.
Das letzte Mal, als er hier war, haben sie kaum ein Wort miteinander gesprochen. Wobei das nicht ganz stimmt. Robert weiß nicht mehr, was er gesagt hat, oder ob er überhaupt irgendwas gesagt hat. Die ganze Erinnerung ist schemenhaft, dabei sind nur drei Monate vergangen. Aber was für drei Monate.
Und heute, heute wollte er ja, heute hätte er endlich gekonnt. Und genau heute hat er nicht mit ihr sprechen können. Nur kurz war sie aufgewacht, als er kam. Davor hatte er allerdings schon minutenlang dort gestanden und sie angestarrt. Das Bild, wie sie da liegt, schlafend, aber nicht friedlich, nicht wie Valerie schläft, so ruhig und gleichmäßig, sondern eher wie ein Stein, hat sich eingebrannt. Trotzdem sieht sie im Schlaf gar nicht so krank aus. Erst im Reden verzerrt sich ihr Gesicht zu dieser Schmerzensmaske.
Robert, hatte sie gesagt, schön, dass du gekommen bist. Ob da wirklich Freude war hinter dieser Maske? Er hatte auf Wut gewartet, genau wie bei Valerie, stattdessen auch bei ihr nur Schweigen.
Wo hast du Valerie gelassen?
Sie konnte nicht, die Schule, sagte er, und sie sagte nichts dazu, sondern verzog nur weiter das Gesicht, ließ es dann plötzlich erschlaffen und schloss die Augen.
Nichts sieht älter aus, denkt Robert jetzt, als dieses Erschlaffen, Spannung verlieren, wie ein alter, schon schrumpelig gewordener Ballon. Als wäre es möglich, noch im Leben alles aus einem Gesicht abzulassen, als eine Art Vorgeschmack auf den Tod, auf das völlige Luftverlieren.
Es ist schön, sagte sie, man bekommt ja so selten Besuch.
Du bist doch erst seit ein paar Stunden hier, wollte er sagen, sagte es aber nicht, sondern setzte sich.
Wie ist die andere?, fragte er.
Eine unerträgliche Person, sagte die Mutter und ließ die Augen geschlossen. Immerzu muss sie sich beschweren.
Du kannst ruhig wieder gehen, sagte sie irgendwann.
Aber Robert blieb sitzen. Erst als lärmend die Tür geöffnet wurde, stand er auf. Eine ältere Frau kam herein, begleitet von drei jüngeren, dahinter huschte eine Pflegerin durch den Gang, blieb schließlich stehen und nickte ihm zu.
Ich bin der Sohn, sagte er, aber er sagte es in den leeren Gang, die Pflegerin war schon fort.
Erst jetzt, wo die Anstrengung ihm langsam aus den Gliedern sickert, merkt er, wie müde er ist. Wie erschöpft, als liefe auch aus ihm alles heraus.
Er muss sich noch das Bett in der Kammer beziehen, oder das Sofa, oder aber, er legt sich einfach so auf das Sofa, wartet, dass er wegdöst, genau wie Valerie, die sich ja schließlich auch nicht abgeschminkt hat. Wahrscheinlich ist sie einfach beim Musikhören eingeschlafen.
Auch das hatte er sich anders vorgestellt. Schließlich ist er das vorher tausendmal durchgegangen, das Wiedersehen. Damit er diesmal alles richtig macht. Er hatte sich auf einen Streit eingestellt, auf Weinen. Auf irgendwas. Er hätte es genommen, wie es gekommen wäre.
Stattdessen: nichts. Er hat keine Ahnung, was hinter Valeries Puppengesicht vor sich geht, hinter dieser zerbrechlichen Härte.
Robert holt sich eine Decke, legt sich hin, schließt die Augen. In der Wohnung unter ihm muss der Fernseher laufen, er hört es durch den Fußboden. Er lauscht auf das Murmeln, irgendwo gibt es ein Knacken, von draußen vielleicht.
Wie viel sich verändert hat, denkt Robert, seit er das letzte Mal hier war. Selbst die Wohnung fühlt sich anders an. Fremd und trotzdem vertraut. So, als wäre es eine neue, die man ihm anstelle der alten untergeschoben hat, die genauso aussieht, dieselben Möbel, dieselbe Schwester. Aber alles Statisten. Selbst die Vorhänge.
Robert lauscht seinem eigenen Atem. Der Schlaf kommt nur langsam. Irgendwann in der Nacht fängt es wieder zu regnen an.