Читать книгу hell/dunkel - Julia Rothenburg - Страница 9
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Sie sitzen im Imbisshäuschen und warten. Valerie hat das Kinn auf den Händen aufgestützt wie ein kleines Kind. Robert findet aber, dass sie nie älter gewirkt hat. Den ganzen Weg über hat sie nicht geredet, sondern nur in den Wind geblinzelt.
Der Imbissbesitzer, ein dicker Türke, kommt herüber und stellt ihnen die Pommes hin.
Danke, sagt Valerie, lächelt schmal. Sie hat denselben Mund wie die Mutter, aber bei ihr sieht er anders aus. Vielleicht hat die Mutter früher genauso ausgesehen. Vielleicht saß auch sie einmal in so einem Imbiss, vielleicht zusammen mit Roberts Vater, wer weiß das schon.
Ihm fällt auf, dass er sich seine Eltern überhaupt nicht mehr zusammen vorstellen kann. Wie lang ist es überhaupt her, dass er sie in einem Raum gesehen hat?
Dass sie überhaupt jemals in einem Raum gewesen sein sollen, kommt ihm schon vor, als hätte er sich das ausgedacht. Als träumte man zwei Fantasiehelden zusammen. Superman und Spiderman. Immerhin einmal müssen seine Eltern wohl zusammen gewesen sein, das ist bewiesen.
Aber doch, er erinnert sich jetzt auch zumindest an dieses eine Essen im Restaurant. Valerie war schon den ganzen Abend hibbelig gewesen, weil sie zu einem von Marcos Auftritten mitkommen durfte. Auftritte, so nannte Marco das. Robert fand es peinlich, ihm dabei zuzusehen, wie er in irgendwelchen überteuerten Restaurants Akkordeon spielte, dabei den lustigen Italiener mimte. Marco schenkte Valerie und der Mutter eine Blume, zwinkerte so komisch dazu, als wäre das alles ganz normal. Das war, bevor die Mutter und er sich endgültig verkrachten. Und das war das einzige Mal, dass sie zu dritt bei so einem bescheuerten Auftritt waren. Also saßen sie da an einem dieser gedeckten Tische mit allem Drum und Dran, sogar einem hässlichen kleinen Sträußchen in der Mitte auf der Tischdecke, und Robert aß eine Tomatensuppe, weil er sich nicht traute, etwas anderes zu bestellen, alles viel zu teuer. In solche Restaurants ging man einfach nicht, das wusste er auch schon mit elf oder zwölf. Valerie hatte glasige Augen, der Kellner brachte ihr einen Lolli.
Robert kann sich, wenn er an seinen Vater denkt, nur an solche Restaurants erinnern. Vielleicht, weil ihre Treffen immer so stattfanden. Marco spielte, und Robert saß an der Seite, geduldet von den Kellnern, nur ein kleiner Junge, ach, gebt dem Knirps doch mal ’ne Cola.
Woher weiß man eigentlich, fragt sich Robert, dass diejenigen, die behaupten, deine Eltern zu sein, das auch wirklich sind? Müsste man das nicht irgendwie spüren? Ein Wissen ganz tief drinnen? Stattdessen kann er sich seinen Vater ja kaum vorstellen, das Bild erscheint nur ganz langsam, und am leichtesten fallen ihm dabei immer die behaarten Unterarme. Unterarme, das ist es also, was am Ende bleibt. Von seiner Mutter hat er wenigstens Valerie, lauter Erinnerungen, lange her zwar, alle schon löchrig geworden durch die Zeit, aber eine Kindheit immerhin, etwas, das sich zusammensetzen lässt.
Warum guckst du so komisch?, fragt Valerie.
Der dicke Imbissbesitzer steht noch immer da. Lasst es euch schmecken, sagt er und schaut einen Moment zu lang zu Valerie. Valerie streicht ihr Haar nach hinten, sticht in ihre Pommes, ohne zurückzuschauen. Valerie kaut, schluckt. Robert vergisst fast seine eigenen Pommes.
Danke, dass wir zusammen hingehen konnten, sagt sie. Ich finde es alleine immer unheimlich.
Robert nickt. Die Pommes sind heiß, er schiebt sie im Mund herum. Valerie knabbert am fettigen Rand.
Was hattest du für einen Eindruck?, fragt er.
Die Frage ist blöd, das weiß er selbst, aber Valerie guckt noch immer so, als wäre sie gar nicht da. Ständig wandert ihr Blick umher.
Ich weiß nicht, sagt sie. Okay? Wie immer.
Sie ist richtig dünn geworden, sagt Robert.
Valerie nickt. Stimmt. Aber sie war auch vorher schon dünn. Nicht so wie ich.
Du bist nicht dick, sagt Robert. Doch überhaupt nicht.
Valerie lächelt, ein ehrliches Lächeln, kurz huscht ihr Blick zu ihm.
Weiß ich ja.
Sie schweigen wieder, kauen. Der Imbissbesitzer schnippelt am Dönerspieß herum und summt dabei. Robert glaubt, dass er andauernd herüberschielt.
Guck mal. Valerie zeigt nach draußen. Hinten haben sich die Wolken auseinandergeschoben, lila ist darunter der Himmel, davor die Bahngleise. Es sieht aus wie eine Berlin-Postkarte vom Touristenstand.
Kitschig, sagt Robert.
Aber schön, sagt Valerie.
Wenn du meinst.
Stell dir vor, sagt Valerie und wirkt auf einmal doch wie ein Kind. Sie rutscht sogar auf dem Stuhl herum. Stell dir vor, alles würde auf einmal wegbrechen, einfach zusammenbröckeln außerhalb dieses Fensters. Ich seh das so richtig vor mir. Wie in einem Film, man sieht uns hier sitzen in diesem Imbiss, und genau da, wo das Gebäude endet, bricht der Asphalt weg, einfach nach unten, als wäre die Straße ein Wasserfall.
Du bist ein bisschen unheimlich, Valle.
Nee, im Ernst, stell dir das mal vor.
Sie hat sich vorgebeugt. Ihre Haare hängen schon fast in den Pommes.
Ja, schon gut, ich seh’s ja vor mir.
Ist doch irre, oder?
Ja, ziemlich irre. Du bist irre.
Idiot. Valerie schlägt in seine Richtung, trifft die Pommes, sie schlittern über den Tisch. Auf der schwarzen Platte ist jetzt ein Fettfleck, einige Pommes liegen verstreut drumherum.
Jetzt musst du mir welche von deinen abgeben, sagt Robert.
Valerie lacht.
Der Imbissbesitzer glupscht schon wieder zu ihnen herüber.
Du bist ein Idiot.
Meinetwegen, sagt Robert und fängt Valeries Hand auf, bevor sie ihn trifft.
Du guckst wohl noch immer so gerne Filme, sagt Robert.
Wer schaut nicht gerne Filme, sagt Valerie.
Wir könnten mal zusammen ins Kino, wenn du willst.
Valerie guckt ein bisschen misstrauisch, findet er.
Okay?, sagt sie. Es klingt wie eine Frage.
Seine Stimme wird etwas zu hastig: Wir gucken auch, was du willst.
Sie schweigt. Im Ernst, Robert, sagt sie dann und schiebt ihm ihre Pommes hin. Du musst mich echt nicht behandeln, als wär ich ein Baby oder so.
Mach ich nicht, sagt Robert, er sagt es vielleicht schon wieder einen Tick zu schnell.
Ich würde gern mit dir ins Kino. Wir stecken doch da jetzt zusammen drin. Aber wir müssen deswegen ja auch nicht zu Hause versauern oder so.
Valerie nickt. Hatte ich nicht vor, sagt sie. Aber danke.
Er hat es verkackt, er weiß es. Dabei hatte er das doch alles so gut durchdacht. Wenn Sie Ihrer Schwester das Gefühl geben wollen, da zu sein, dann müssen Sie das auch klar artikulieren. Schreiben Sie ihr doch einen Brief.
Wie er es hasst, dass er sich alles, was die Psychotante gesagt hat, so gut merken kann. Na ja, fast alles. Manchmal hat er sich auch nur das Nebensächlichste gemerkt. Sandra hat immer gesagt, dass er hinterher alles aufschreiben soll, die wichtigsten Punkte, die neuen Erkenntnisse. Hier, in dieses Notizbuch. Sie hielt ihm ein kleines blaues Ding hin mit einem Kugelschreiber dazu. Der Aufkleber von Woolworth war noch dran.
Einmal hat er es sogar versucht, aber seine Gedanken sind anders, wenn er sie aufschreibt, haben eine andere Stimme. Das bringt nichts. Da könnte er auch gleich Fantasy-Geschichten schreiben. Oder einen ausgedachten Dialog mit Sandra.
Trotzdem würde er sich dann jetzt vielleicht an mehr erinnern als an diese blöden Merksprüche. Oder an den faltigen Ausschnitt der Psychotante, der Krater zwischen ihren Brüsten, der links und rechts von feinen Rissen gesäumt ist.
Valerie kaut auf einer Pommes herum, schaut ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an.
Ich werde jetzt erst mal hierbleiben, sagt Robert. Bis wir wissen, wie’s weitergeht. Also, du musst dir keine Sorgen machen, dass ich – wir stehen das zusammen durch. Wirklich, versprochen. Hundert Prozent. Und das hat nichts damit zu tun, dass du ein Baby bist. Auch Hundert Prozent.
Valerie sagt nichts dazu, aber sie lächelt ein wenig.
Der Imbissbudenbesitzer stellt das Radio lauter und Valerie schaut nach draußen.
Später sitzt Robert auf dem Sofa und fühlt sich irgendwie an gestern Nacht erinnert. Schon wieder ist es draußen fast schwarz, weil das Licht der Straßenlaternen nicht bis nach oben reicht.
Valerie ist in ihrem Zimmer und lernt. Zumindest hat sie das gesagt. Man hört leises Dudeln von Musik. Am liebsten würde Robert klopfen, noch mal mit ihr sprechen. Nur, worüber, weiß er auch nicht so recht.
Sein Handy klingelt erneut. Er schiebt es unter das Sofakissen, er will Valerie nicht stören. Wahrscheinlich hört sie es ohnehin nicht. Er zieht das Handy wieder hervor, starrt auf den Namen.
Wenn Sandra doch einfach mal aufhören würde, immer genau dann anzurufen, wenn es ihm am wenigsten passt.
Er wartet, bis es aufhört zu klingeln, dann schreibt er eine SMS, schickt sie nicht ab.
Seitdem er hier ist, kommen ihm seine Probleme mit Sandra weit weg vor, und noch weiter entfernt ist der ganze Rest, der ganze Azubischeiß, die Firma, die anderen.
Seit er hier ist, ist alles, was mit Marburg zu tun hat, irgendwie verflogen, in ihm verstreut. Er könnte es sicher zusammenkratzen, wenn er wollte. Er hatte das vorgehabt. Sich mal hinsetzen und nachdenken, nach vorne schauen. Nicht ganz so, wie die Psychotante ihm das geraten hat. Nicht mit diesen Kärtchen. Aber trotzdem, einfach mal alles ordnen. Jetzt, wo er wieder auf dem Damm ist, wo er alles in Ordnung bringen kann. Nur, jetzt hat er keine Lust mehr dazu. Jetzt ist es auch egal.
Robert steht auf, sucht in den Schränken. Es ist überhaupt nichts mehr zum Essen da. Nicht einmal Nudeln. Er fragt sich, wie Valerie und die Mutter hier zusammen gewohnt haben. So wie es in den Schränken aussieht, war bestimmt kaum jemand hier. Beide sind irgendwie verschwunden, die Mutter in der Krankheit und Valerie, wohin, weiß er auch nicht.
Ich geh einkaufen, brüllt er in den Flur. Es kommt keine Reaktion, nur die Musik dudelt weiter. Okay, ruft Valerie dann, ein dünnes Stimmchen.
Die frische Luft draußen ist angenehm. Er überlegt, vielleicht jemanden anzurufen, ein Bier zu trinken. Aber wen könnte er schon fragen? Seine alten Kiffer-Kumpels bestimmt nicht, jetzt, wo er das endlich alles hinter sich hat. Aber das andere Früher ist schon zu lange her, seine Schulfreunde, er kennt ja kaum noch die Namen. Dann fällt ihm Eric ein. Ein Aussteiger wie er. Aussteiger, das klingt natürlich nach viel zu viel. Aber genauso fühlt er sich schließlich.
Wenn er darüber nachdenkt, hat er doch keine Lust auf Eric. Allein die Fragen. Trotzdem, er muss jetzt gut aufpassen, sich nicht hängen lassen. Das hatte er schon, er kennt die Gefahr. Vielleicht könnte er Fußball gucken gehen mit Eric, irgendwas Unverfängliches.
Er hat das Handy schon in der Hand. Als er die SMS von Sandra sieht, steckt er es schnell zurück.
Im Kaiser’s ist es rappelvoll. Er erinnert sich gut an die Arbeit hier, er hatte meistens die Spätschicht. Hoffentlich trifft er niemanden, den er kennt. Aber die Kassierer sind alle jung, vermutlich Schüler, sitzen genauso gelangweilt da wie er damals. Es war trotzdem ein tolles Gefühl, Geld zu haben, das weiß er noch. Wie stolz er war, als er an die Kasse durfte, nicht nur Regale einräumen. Nicht, dass das was gebracht hätte. Er hat es natürlich versiebt damals, so wie alles.
Valerie ist nie über das Regale-Einräumen hinausgekommen, soweit er weiß. Als die Mutter krank wurde, hat sie aufgehört.
Das ist so lange her, er erinnert sich kaum noch an die Details. Vielleicht sollte er Valerie fragen, wie es für sie war. Vielleicht sollten sie sich zusammensetzen und alles durchsprechen, sich gemeinsam erinnern. Der Kaiser’s ist eigentlich ein guter Ansatzpunkt. Damals waren sie beide anders und das Leben irgendwie gleichförmig. Damals hätte ihm die Psychotante das mit den Kärtchen gar nicht erst erzählen müssen.
Robert hievt seine Einkäufe auf das Band und wartet, bis der kleine Pickelige alles über den Scanner gezogen hat.
Könnte ich Ihren Ausweis sehen?, fragt der Junge, schaut ihm dabei nicht in die Augen. Entschuldigen Sie, ich muss das fragen.
Klar, sagt Robert, möchte fast lachen.
Ich bin dreiundzwanzig, sagt er. Bitteschön.
Er weiß, dass er auf dem Ausweis ganz anders aussieht, dicker, glücklicher. Das Bild ist fünf Jahre alt.
Der Pickelige nickt, der hinter ihm wartet schon und Robert schiebt seinen Wagen davon.
Zu Hause steht Valerie im Flur und hat bereits ihre Jacke an.
Wo willst du hin?, fragt er.
Mal raus, sagt sie.
Bist du verabredet?
Sie sieht irgendwie anders aus. Hat sie sich noch mal nachgeschminkt? Ihr Puppengesicht ist jetzt wieder da, ihre Augen sind groß und glasig.
Ja, sagt Valerie, ein Freund.
Aha, sagt Robert. Ich wollte eigentlich was kochen.
Sorry, sagt Valerie. Hat sich spontan ergeben.
Nein, nein, schon okay, sagt Robert, versucht, entspannt zu wirken. Sie sieht so erwachsen aus mit diesem roten Mund. Es steht ihr nicht. Es sieht billig aus, wenn die Lippen so glänzen. Das hat er mal zu Sandra gesagt. Zu Valerie würde er so was nie sagen. Stimmen tut es trotzdem.
Dann ein anderes Mal, du musst schließlich auch mal was Richtiges essen.
Valerie verdreht die Augen.
Sie stehen sich im Flur gegenüber, und vom Hausflur zieht muffig feuchte Luft herein.
Ich geh dann mal, sagt Valerie. Warte nicht, ich weiß nicht, wie spät es wird.
Robert fragt nicht nach, er will es, aber er hält sich zurück. Gibt es eine Uhrzeit, wann sie zu Hause sein muss? Ist das überhaupt seine Aufgabe? Sie ist erwachsen, sagt er sich, sie weiß, was sie tut. Nicht bedrängen, leben lassen.
Viel Spaß, sagt er.
Danke, dir auch.
Wie kann es sein, denkt er dann, dass zwischen dem hier und vorhin im Imbiss nur wenige Stunden liegen. Dass man in dem einen Moment so ein Gefühl hat, so eine Stimmung, und im anderen ein ganz anderes Gefühl, als hätte es nie einen Übergang gegeben, als sei alles, was man fühlen oder denken kann, ganz unverbunden, kleine Fetzchen im Nichts.
Die Tür rumst, bevor er noch etwas sagen kann. Und wie ein Idiot steht er da mit seinen Taschen, während über ihm die Lampe im Takt von Valeries Schritten wankt.