Читать книгу Die Endzeit-Eva - Julia Schneider - Страница 5
Prolog
ОглавлениеSeit Anbeginn der Zeitrechnung finde ich mich fortwährend in ebendieser Situation wieder. Zumindest seit Anbeginn meiner Zeitrechnung. Diese beläuft sich, ähnlich der christlichen Jahreseinteilung, vor und nach Christi, in die Abschnitte vor und nach meiner ersten Erfahrung mit dem Tod. Diese fand auf den Tag genau vor zwei Jahren statt.
Seltsamerweise erscheint mir die Zeit nach meinem persönlichen Jahr null um etliches länger als die komplette Weltgeschichte in ihrem gesamten Verlauf. Wie eine Katze lande ich nach jedem Fall auf meinen Pfoten, obgleich ich doch gar nicht scharf auf sieben Leben bin. Denn die 32 Jahre, die ich auf diesem Planeten verbracht habe, sind bereits bis auf den Grund ausgeschöpft und reichen mir zur Genüge. Mangels Inhalten fühlen sie sich leer und ausgehöhlt an. Würde ich in sie hineinrufen, wäre das Echo grenzenlos. Man könnte ewig in ihnen umherwandern, ohne auf Leben zu stoßen, stets begleitet vom Widerhall der eigenen Schritte, auf watteweichem, nachgiebigem Boden, der einen verschluckt, wenn man zu lange darauf verweilt. Und mögen die vielen Gänge meiner Lebensjahre auch noch so spannungsgeladen wirken, muss man bei der intensiveren Expedition doch feststellen, dass jede Abzweigung letztlich nur zum Hauptgang mit dem weichen Boden und dem grenzenlosen Echo zurückführt. Ein immerwährender Kreislauf, der längst zum Stillstand gekommen ist, und lediglich ab und zu von neugierigen Forschern kurzfristig reanimiert wird. Todsterbenslangweilig. Langeweile, wie wir sie in Form der Betrachtung eines millionenschweren Gemäldes kennen: ein dicker roter Balken auf einer ansonsten leeren weißen Leinwand. Kann jedes Kind malen, das dem Windelalter entsprungen ist. Doch das weltberühmte Kürzel – selbst ernannte Experten sprechen auch von der »Signatur« – in der unteren rechten Ecke des Bildes löst in uns den Druck aus, etwas darin erkennen zu müssen. Also steht man so lange starren Blickes vor dem Gemälde, bis es uns einlullt, und vorherrschende Gedanken wie beispielsweise »Wer zum Teufel bezahlt zwei Millionen Euro für einen roten Strich?« abgelöst werden von dem, was uns schon seit Jahren tagtäglich durch den Kopf schwirrt. So sieht der eine nach intensiver Betrachtung plötzlich die Reinkarnation seiner verstorbenen Großmutter in dem roten Balken und den Sinn seines eigenen Lebens oder die Wahrheit der komprimierten Welt; ein anderer wiederum erkennt die sachliche Symmetrie unseres Daseins oder die geometrische Anordnung menschlichen Denkens. Man kann so einiges sehen, wenn man das möchte.
Ich kann das nicht. Seit dem Jahr null habe ich diese Gabe verloren. Wenn ich einen roten Balken sehe, sehe ich: einen roten Balken. Keine Reinkarnationen, keinen Sinn, keine reine und letzte Wahrheit. Mit etwas gutem Willen stelle ich mir vielleicht – wenn mir gerade danach ist und ich befürchte, andernfalls gedanklich wegzudösen – noch den Macher des Bildes vor; wie er von der Welt gefrustet in einem Liter Absinth versinkt, um seinen Gefühlen auf der Leinwand Ausdruck zu verleihen, und im Vollsuff sich denkt, Wunder, was für ein Werk er da geschaffen habe, bevor der Rausch nachlässt, und er am folgenden Morgen nur einen roten Balken vorfindet. Etwas verlegen setzt er noch schnell sein weltberühmtes Kürzel – Entschuldigung, seine Signatur – darunter und lässt die Menschheit nebenbei wissen, dass nur Narren den Sinn dieses Bildes nicht erfassen können. Guten Gewissens geht er schließlich mit seinen Kumpels in den Puff, um sich selbst zu feiern. Des Königs neue Kleider funktioniert nämlich ganz wunderbar in der Moderne.
Solch kleine Gedankenfluchten gönne ich mir zeitweise, doch im Grunde ist es, was es ist: ein roter Balken auf einer weißen Leinwand. Ohne Wenn und Aber. Ein Pinsel, ein Farbtopf, keine Idee, kein Bock. Nur ein farbiger Strich und der unbegründete Fanatismus, der Welt zwingend zu demonstrieren, welch ein Genie man sei. Und genauso dicht, wie Genie und Wahnsinn beieinanderliegen, genauso nah stehen sich bisweilen Langeweile und Kunst.
Insofern betrachtet, ist mein Leben ein Kunstwerk, wie es die Welt noch nicht erlebt hat. Wer schafft es schon, 32 Jahre ohne Inhalt zu hinterlassen und damit eine ganze Gesellschaft zu beschäftigen? Jede Minute werden sie Stück für Stück auseinandernehmen und analysieren, um wieder und wieder auf nichts zu stoßen. In jeder nachfolgenden Generation wird sich ein neuer Forscher heranwagen, neue Thesen und Vermutungen aufstellen, Ecken und Winkel finden, die noch keiner vor ihm betrachtet hat, um letztlich wie seine Vorgänger auf das große Nichts zu stoßen. Doch genau dieses Nichts sorgt für die Unsterblichkeit, sie wird zum Kult. Im Laufe der Jahre werden sich mangels wissenschaftlich-psychologischer Erklärungen Mythen darum ranken, neue Methoden daran ausgetestet, vielleicht sogar düstere Legenden erfunden werden, die die Welt im Sturm fluten.
Und das alles nur, weil wir etwas sehen wollen, das nicht da ist. Weil unsere Gesellschaft ein Nichts nicht akzeptieren kann. Dabei könnte alles so einfach sein, wenn wir einen roten Balken einfach nur einen roten Balken sein ließen.