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Sonntag, 3. März 2019

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Es war nicht mal acht Uhr morgens und Empeldes wolkenverhangener Himmel grau getränkt, als Polizeipsychologe Heinrich Himfeld am grünen Hochhaus in der Berliner Straße eintraf. Schlecht gelaunt orderte er mit einem Wink seines Fingers einen Kaffee.

Der Winter wollte einfach nicht enden. Seit Wochen wurde sein Körper von einer hartnäckigen Kälte penetriert und er wusste gar nicht mehr, wie es war, ohne Erkältung durch den Alltag zu gehen. Himfeld hatte eine furchtbare Nacht hinter sich. Nach seinem Vortrag als Gastredner an der Fachhochschule des Mittelstandes in der Lister Straße hatte er sich von einigen verbissenen Erstsemestern breitschlagen lassen, auf ein Getränk im Lindwurm einzukehren, um sich von ihren dilettantischen Thesen malträtieren zu lassen, die eigentlich nur aus Profiler stammen konnten – den eigentlich staubtrockenen Kern des Psychologiestudiums hatten sie noch nicht im Geringsten erfasst. Himfeld langweilten derartige Kneipengänge, und in seiner Freizeit war er für gewöhnlich keineswegs interessiert, sein Wissen an übermotivierte Laien weiterzugeben. Was ihn hingegen ganz und gar nicht langweilte, waren junge Studentinnen, die den ungewöhnlichen Minusgraden zu dieser Jahreszeit mit freizügigen Outfits trotzten. Wenn er sich richtig erinnerte, war der Name der gestrigen Kandidatin Janine gewesen – vielleicht war es aber auch Jessica oder Jacqueline gewesen.

Wie auch immer – sie hatte in der ersten Reihe seiner Vorlesung gesessen und mit ihrer rechten Hand ihren Rock über den unendlich langen überschlagenen Beinen glatt gestrichen. Wie zufällig fuhren ihre künstlichen Acrylfingernägel dabei mehrmals über die Schnalle ihres hohen Krokodillederstiefels, was unweigerlich den Wunsch in Himfeld hervorrief, die Schnalle zu öffnen, um ihr das tote Tier von den Beinen zu streifen. Dazu dieser dezent laszive Blick und die Grübchen, die bei jedem angehauchten Lächeln hervortraten …

Beachtlich dieser allzu harmonische Dreiklang: Fingerspiel, Körpereinsatz, Mimik. Wie hätte er sich da ausschließlich auf seinen seit Jahren längst ausgereizten Vortrag konzentrieren können?

Die Krokodillederstiefel ließen ihn zumindest seine Erkältung kurzfristig vergessen und der Einladung in die Bar folgen. Nach dem zweiten Glas Wein stellte er fest, dass die kilometerlangen Beine nicht das Einzige waren, mit dem Janine/ Jaqueline/Jessica aufwarten konnte. Sie hatte strahlend blaue Augen – seine Lieblingsfarbe –, die seinem immer tiefer wandernden Tunnelblick folgten. Jedes weitere Glas Wein tat sein Übriges. Irgendwann war er an dem altbekannten Punkt angelangt, an dem er feststellte, was für ein verdammt attraktiver Typ er doch war, und selbstbewusst – oder betrunken – genug war, um einen Annäherungsversuch zu starten: »Genug von meinen Analysen. Viel interessanter finde ich, was in Ihrer Psyche vor sich geht.« Darauf folgte das ebenso altbekannte Lächeln zwischen Scham und Darauf-habe-ich-gewartet, begleitet von der gezuckerten Aussage: »Da gibt es nicht viel zu erzählen.« Das Ganze wurde in verhängnisvoll-traurig aufgesetzte Blicke gehüllt, die einen wissen ließen, dass sie darauf brannte, ihr tragisches Kindheitstrauma, das es niemals gegeben hat, in die ewige Freiheit analysiert zu bekommen. Die übliche Geschichte vom armen reichen Mädchen, das sich in seiner Schönheit gefangen fühlt und bei dem keiner nachvollziehen kann, warum die Augen in diesem mystisch-schönen Gesicht bei näherer Betrachtung das Leid der gesamten Weltgeschichte widerspiegeln. Dass sie auf eine gute Note aus war, verstand sich von selbst. Doch wen störte dieses kleine Vorspiel, wenn es denn letztlich zum Höhepunkt führte?

Ja, Himfeld war ein Profi. Er lebte nach dem Prinzip der vertrauten Akkordschiene. Eine einzige Akkordfolge und tausend Möglichkeiten: immer der gleiche Satz mit immer anderen Erfolgen. Am Ende wollte schließlich jeder seine Seele errettet wissen, und wenn dies auch mit einem anständigen Beischlaf bezahlt wurde. So auch Janine/Jaqueline/Jessica und viele vor ihr. Doch in diesem speziellen Fall hatte es einen unerwarteten Ausgang gegeben. Himfeld war bereits dabei gewesen, das Geheimnis hinter den wunderschönen traurigen Augen zu erforschen, als plötzlich ein breitschultriger Hüne in das Licht der schwach strahlenden Deckenbeleuchtung trat, das ihren Spot die vergangenen Stunden auf das kleine Fingernagelpiercing seines Gegenübers geworfen hatte. Für einen kurzen Moment dachte Himfeld noch, dass das, was sie von sich gegeben hatte, ausnahmsweise mal nicht durchweg gequirlte Scheiße war – jedenfalls, sofern er zugehört hatte. Im Gegensatz zu vielen Kollegen vertrat er nämlich die Meinung, dass ein gewisses Maß an Intelligenz durchaus zu außergewöhnlich netten Stunden beitragen konnte.

Doch das spielte keine Rolle mehr, als der dunkle Schatten seine Hand ausstreckte und Jessica – er hatte ihren Namen irgendwann im Gespräch erfragen können; eine seiner leichtesten Übungen – mit einem Blick unmissverständlich klarmachte, mit ihm nach Hause zu kommen. Himfeld sah nur noch die Rücklichter des davonbrausenden 7er-BMW und schon war der Traum von Krokodillederstiefeln um ansonsten nackte Haut ausgeträumt. Was folgte, war abzusehen: nächtliches Nachhausewanken durch Schneegestöber, das seine Erkältungskeime dankend zum willkommenen Anlass nahmen, sich zu vermehren, der übliche Du-bist-ja-betrunken-Streit mit seiner Frau und kaum mehr als zwei oder drei Stunden durchgehusteten, verrotzten Schlafes, bevor sein Telefon klingelte und ihn wissen ließ, dass er den Notdienst für einen Kollegen übernehmen musste.

Nun beobachtete Himfeld aus den Augenwinkeln, wie ein kleiner, schlaksiger Streifenpolizist nervös auf ihn zukam und bereits vor seiner Ankunft am Einsatzort anfing, Himfeld über die vorherrschende Situation zu informieren. Die abwehrende Geste seiner Hand ließ den Kleinen jedoch umgehend verstummen, und Himfeld nutzte die dargebotene Stille, um heiser in die Menge zu brüllen: »Was genau hält euch davon ab, mir endlich meinen verdammten Kaffee zu bringen?« Nur wenige Sekunden später erschienen vor seinen Augen Dampfwolken, deren Ursprung ein randvoll gefüllter Pappbecher war. Himfeld kümmerte sich nicht darum, dass ein Großteil davon überschwappte und seinen Handrücken verbrühte, als er danach griff. Braune Tropfen spritzen in den Neuschnee, direkt neben die auf und ab wippenden Füße des angespannt dreinblickenden Streifenpolizisten, der unübersehbar in den Startlöchern stand und nur auf ein Zeichen des Polizeipsychologen wartete, um endlich seinen Text loszuwerden.

Himfeld setzte sich auf den Beifahrersitz seines Wagens und betrachtete den Menschenauflauf zwischen den zwei Hochhäusern. Gemächlich nippte er an seinem Kaffee, bis nur noch der Boden des Pappbechers mit brauner Flüssigkeit benetzt war. Dann erst bedachte er den aufgeregten Polizisten neben sich. Wohl ein Neueinsteiger, kann noch nicht lange im Dienst sein, vermutete Himfeld und sah demonstrativ gelangweilt wieder durch die Windschutzscheibe auf die Menschenmassen, als der Jüngling seinen Mund öffnete, um loszulegen. Genüsslich registrierte Himfeld das dennoch fortgeführte Schweigen, weil er den Kaffeebecher wieder ansetzte – und dann noch ein weiteres Mal, bis er den Kaffee endlich mit einem letzten Schluck leerte. Er atmete tief durch und schnäuzte sich ausgiebig die Nase, bevor er aus dem Auto stieg, die Tür verschloss und den Einsatzort anpeilte. »So …«, sagte er schließlich, ohne den neben ihm her hüpfenden Beamten anzusehen, »ich wäre dann so weit. Wo genau drückt denn der Schuh?«

Wie eine mittlere Lawine stürzten die Worte aus dem jungen Mann heraus: »Selbstmörderin. Da … da oben, die will springen. Ganz bestimmt. Sieht sehr entschlossen aus und geht auf keine Kontaktversuche ein. Ich weiß nicht, was wir … Sie sind doch der Fachmann, oder? Steht auf dem Dach des Hochhauses …«

»Welches der beiden?«, unterbrach Himfeld ihn. Er ließ seinen Blick über die diversen Supermärkte und die Fahrschule gleiten, bevor er sich wieder den Wohnhäusern, die meisten versteckt hinter hohen, kahlen Bäumen, zuwandte.

»Äh … das höhere. Links«, stammelte der Beamte. »Eine Bewohnerin des Hauses gegenüber …«, er blickte auf seinen Notizblock, »… Frau Schrag hat uns benachrichtigt. Sie ist um sieben Uhr aufgestanden und auf den Balkon gegangen, um ihre Morgengymnastik zu machen. Da fiel ihr eine Frau auf. Sie saß auf dem Dach, ließ ihre Beine gen Tiefe baumeln, rauchte eine Zigarette und summte irgendeine Melodie. Frau Schrag fragte sie, was sie dort mache, und wählte gleich darauf den Notruf. Wir haben ziemlich sichere Hinweise, dass die Frau …«

»Was hat sie geantwortet auf die Frage von Frau Schrag?«, fuhr Himfeld ihm abermals dazwischen.

»Bitte?«

Himfelds Finger deutete gen Dach. »Die Frau … was hat unsere potenzielle Selbstmörderin auf die Frage, was sie dort mache, geantwortet? Oder war sie schon nicht mehr dialogbereit? Hat sie geweint?«

»Ach so, tja …«, der Beamte kratzte sich am Kopf, »sie hat tatsächlich geantwortet. ›Ich sitze auf dem Dach, rauche eine Zigarette und singe‹, waren ihre Worte.«

Einen Moment blieb Himfeld stehen, unfähig, sich ein kleines Schmunzeln zu verkneifen. »Sie ist also zugänglich für Ansprache«, murmelte er und setzte seinen Weg fort.

Eilig folgte ihm der junge Polizist. »Jaja, durchaus. Nachdem Frau Schrag uns angerufen hat, ging sie wieder auf den Balkon. Als die potenzielle Selbstmörderin Frau Schrag sah, fragte sie, ob der Zigarettenrauch sie stören würde, was Frau Schrag bejahte. Da gab die Frau vom Dach ihr den Tipp, doch einfach wieder reinzugehen …«, erneut blickte er auf seine Notizen, »… es sei viel zu kalt, um blöde gaffend auf dem Balkon herumzustehen. Als Frau Schrag sich nicht rührte, fügte die Frau noch hinzu, sie wäre ohnehin gleich weg, und wünschte ihr noch einen schönen Tag.«

»Scheint, als hätten wir es mit einer kleinen Komikerin zu tun«, mutmaßte Himfeld halblaut, bevor er fragte: »Klingt eher nach einer Hilfeschreinummer. Wie lange, sagten Sie, steht sie da oben?«

Erleichtert, endlich so etwas wie Anteilnahme bei Himfeld entdeckt zu haben, sprudelte es erneut aus dem jungen Polizisten heraus, obgleich er keine wirkliche Antwort parat hatte: »Das können wir nicht mit Gewissheit sagen. Von der Augenzeugin wurde sie erstmals um kurz nach sieben gesehen, aber es gibt Anzeichen dafür, dass sie schon …« Reflexartig ging er in Deckung vor dem ungestüm ausgestreckten Arm Himfelds, als hätte er einen Schlag ins Gesicht erwartet. Stattdessen schob Himfeld lediglich seinen Jackenärmel ein wenig zurück, um die Uhr an seinem Handgelenk freizulegen. »Gleich Viertel nach acht«, murmelte er, blieb stehen und überlegte einen Augenblick, »sie wartet zu lange.« Dann sah er den schmächtigen Beamten erstmals an, schenkte ihm ein herablassendes Grinsen und klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter. »Die springt nicht mehr. Rufen Sie Ihre Frau an, sie soll Ihnen das Frühstück vorbereiten. In einer Stunde sind wir hier durch.« Er schnäuzte sich die Nase, sah den verwirrten Blick des Beamten, boxte ihn sacht mit der Faust gegen die Hühnerbrust und ergänzte unterschwellig höhnend: »Falls Sie eine Frau haben.«

Schnellen Schrittes ging er auf eines der Einsatzfahrzeuge zu, doch der Polizist sprintete hinterher. »Bei allem Respekt, aber es gibt deutliche Hinweise darauf, dass sie auf jeden Fall springen wird, Herr Himfeld. Wir glauben zu wissen, wer sie ist.«

»Prima«, merkte Himfeld halbherzig an, »dann kann ich die Gute ja mit Namen anreden.«

»Ihr Name ist …«, versuchte der Polizist es noch einmal, doch Himfeld war bereits weitergegangen und begrüßte den Einsatzleiter.

Genervte wälzte sich Rainer Werding in seinem Bett hin und her. Um Viertel nach sechs war er endlich von seiner Nachtschicht zu Hause gewesen, hatte noch schnell gefrühstückt und sich dann ins Bett gelegt. Er wollte fit sein für sein Date heute Abend.

Seit einigen Wochen chattete er regelmäßig mit diversen Damen, die wie er Interesse an anonymem Sex hatten. Seit er denken konnte, war er Junggeselle und langsam hatte er eingesehen, dass er sich angesichts seiner abnormen Leidenschaften an diesen Zustand für den Rest seines Lebens gewöhnen musste. Aber das störte ihn nicht weiter, denn er hatte den perfekten Chatroom gefunden. Schneller, namenloser Sex unter dem Motto: Alles kann, was gefällt! Er schmunzelte in sich hinein. Denn obwohl das, was sich abspielte, nur ihm gefiel und der jeweiligen Dame weniger bis gar nicht, so war er doch sicher vor jeglichen Anzeigen oder übler Nachrede. Bei den Damen handelte es sich nämlich in der Regel um vernachlässigte Ehefrauen, die sich eher die Zunge abgebissen hätten, als auch nur einer Menschenseele davon zu berichten, dass sie ihre Zeit, die sie eigentlich für den Haushalt nutzen sollten, damit verbrachten, irgendwelche Kerle im Internet ausfindig zu machen, die es ihnen so richtig besorgten. Werding war sich sicher, dass nicht eine der Damen, die er an den vergangenen Wochenenden getroffen hatte, auf einer ihrer Tupperpartys ihren hochkarätigen Freundinnen vorgeheult hätte, dass sie auf der Suche nach wollüstiger Leidenschaft an einen Sadisten geraten waren, der ihnen Dinge abverlangte, die sie sich nicht einmal vorstellen konnten.

In stiller Vorfreude auf das bevorstehende Treffen legte er sich das Kissen auf den Kopf, um trotz des Lichts, das, obwohl es wolkig war, viel zu hell durch sein Fenster fiel, ein wenig Schlaf zu finden. Doch seit über einer Stunde war vor seinem Haus der Teufel los. Ständig hörte er Sirenen, vermischt mit Geschrei und Gebrüll. Immer mehr Menschen schienen den Weg zu dem Hochhaus zu finden, in dem Werding wohnte, und brachten ihn somit um seinen wohlverdienten Schlaf. Vergeblich suchte er in seinem Nachtschrank nach Ohropax.

»Scheiße«, grummelte er ärgerlich, als ihm einfiel, dass sie in der Küche lagen. Einen Moment versuchte er noch krampfhaft, den Lärm zu ignorieren, bis er letztlich doch wütend seine Decke zurückschlug und seinen massigen Körper auf nackten Füßen in die Küche schob. Durch seine Feinrippunterwäsche hindurch kratzte er sich am Hintern, während er überlegte, in welche Schublade er das Päckchen mit den Ohrstöpseln gelegt hatte. Sein Blick fiel auf eine halbvolle Bierflasche vom Vorabend, die auf der Fensterbank stand. Die Hand bereits ausgestreckt, taperte Werding darauf zu und leerte sie in einem Zug, als ihm plötzlich das Blaulicht direkt unter seinem Fenster auffiel.

Nun wurde er doch neugierig, griff sich ein weiteres Bier aus dem Kühlschrank und ging auf den Balkon. Bereits im Begriff, nach unten zu sehen, nahm er aus den Augenwinkeln eine Bewegung auf dem Dach schräg gegenüber wahr, die seine Aufmerksamkeit erregte. Er hielt inne, als er ein nur allzu bekanntes Geräusch vernahm: das Kreischen seiner Nachbarin, Frau Schrag. »Nun werden Sie mal nicht frech, junge Frau«, zeterte diese gerade – sicher nicht zum ersten und vermutlich auch nicht zum letzten Mal, »die freundlichen Männer wollen Ihnen nur helfen.« Junge Frau, hallte es erotisierend in Werdings Kopf nach.

Er stellte die Bierflasche ab und beugte sich ein Stück über die Brüstung, um auf das Dach des Nachbarhauses schauen zu können. Und da stand die junge Frau: in der Kälte am Rande des Daches bibbernd. Die zwei Beamten, die auf Frau Schrags Balkon standen, ließ sie nachdrücklich wissen: »Ich fordere die beiden freundlichen Männer jetzt ein letztes Mal auf, zu verschwinden. Hauen Sie ab und nehmen Sie diese Furie mit! Ich werde es nicht noch einmal sagen!«

Die Beamten zogen augenblicklich mit einer zappelnden Frau Schrag in ihrer Mitte ab. Noch auf dem Hausflur hörte Werding seine Nachbarin keifen, dass dies ihre Wohnung sei und niemand das Recht hätte, sie dort hinauszuwerfen. Als ihre Stimme verstummte, wandte Werding seinen Blick wieder der jungen Frau zu, die mit einem letzten Blick auf Frau Schrags Balkon sicherzugehen schien, dass alle abgezogen waren, bevor sie sich hinsetzte, ausgiebig ihre Nase putzte und schließlich eifrig anfing, irgendetwas in ein Heft zu kritzeln.

Die Situation schien Werding eindeutig: die Frau auf dem Dach, Feuerwehr, Krankenwagen und Polizei unter ihm. Ganz klar: Selbstmordversuch. Schnell lehnte er sich zurück und stand stocksteif da, bis ihm das Bier einfiel. In drei großen Schlucken leerte er die Flasche und überlegte. Was sollte er tun? Musste er überhaupt irgendetwas tun? Sollte die Verrückte doch springen. Was scherte es ihn? Er griff nach seinen Zigaretten, die über Nacht auf dem Balkon gelegen hatten und vom Schnee durchgeweicht und feucht waren. Ungeachtet dessen zündete er sich eine an, die nach dem zweiten Zug gleich wieder erlosch. Werding bemerkte es nicht einmal. Vorsichtig pirschte er sich wieder an die Brüstung und sah aufs Dach hinüber. Für einen geplanten Selbstmord wirkte diese Geisteskranke ziemlich entspannt, fand er. Seelenruhig schrieb sie in ihr Heft und schunkelte hin und wieder unbeschwert mit den Beinen, die über den Rand des Daches hingen, als warte sie auf ihre beste Freundin und nicht auf den Tod.

Abrupt hörte sie auf zu schreiben und sah hoch. Blitzschnell verschwand Werding hinter seiner Trennwand und hielt überflüssigerweise den Atem an. Ob sie ihn gesehen hatte? Werding spürte seinen Herzschlag so stark, dass er dachte, er würde gleich das gesamte Hochhaus zum Wackeln bringen. Alles blieb ruhig. Langsam pendelte sein Puls wieder der Normalfrequenz entgegen. Wohlbedacht, kein Geräusch von sich zu geben, beugte er sich erneut langsam vor, um einen weiteren Blick zu riskieren, als ihn plötzlich die verzerrte Stimme eines Megafons zusammenfahren ließ: »Tun Sie es nicht. Es gibt so vieles, wofür es sich zu leben lohnt!«

Himfeld ließ das Megafon sinken, ein neuer Hustenanfall bahnte sich an. Hektisch verschwand seine Hand in der Manteltasche, um dort nach einem Salbeibonbon zu suchen. So konnte er seinen Standardeinstieg nicht stehen lassen. Es war wichtig, dass er jetzt weitersprach. »Wo sind denn diese verdammten Dinger?«, fluchte er, legte das Megafon aufs Autodach und suchte nun mit beiden Händen. Das dauert zu lange, dachte er angestrengt, während ihm bereits vor lauter Husten die Tränen aus den Augenwinkeln liefen.

Schnupfen rann ihm aus der Nase, als der junge Beamte ihn vorsichtig ansprach: »Äh, Herr Himfeld … sie … sie hat Ihnen geantwortet.«

»Was?«, röchelte der Polizeipsychologe überrascht und steckte sich ein Hustenbonbon in den Mund, das zum Glück innerhalb weniger Sekunden eine leichte Wirkung zeigte.

Der Beamte räusperte sich und nickte. »Sie hat etwas heruntergerufen. Es klang ziemlich sarkastisch.«

»Was …«, drängte Himfeld mit einem flauen Gefühl im Magen, »was hat sie gesagt?«

Er spürte, dass es dem jungen Polizisten ein innerer Vorbeimarsch war, ihm eine Retourkutsche geben zu können, indem er die Reaktion der Frau auf Himfelds leidenschaftslose Schulbuchdarstellung wiedergab: »Sie sagte: Ach was

Verärgert griff Himfeld nach dem Megafon, hustete ein letztes Mal und setzte es dann an die Lippen. »Mein Name ist Heinrich Himfeld. Es tut mir leid, dass ich mich nicht eher vorgestellt habe, aber ich bin erkältet und hatte einen Hustenanfall.« Geschickter Schachzug, dachte Himfeld bei sich, sie soll mich als einen Menschen aus Fleisch und Blut erleben, ehrlich, verletzlich und somit vertrauenswürdig. Er war sich sicher, dass die Masche ziehen würde, um eine Vertrauensbasis herzustellen, und dass sie sich ihm bald öffnen würde. Und tatsächlich kam umgehend eine Antwort vom Dach: »Gute Besserung!«

Verdutzt ignorierte Himfeld das verstohlene Schmunzeln der anwesenden Beamten, bevor er sich zusammenriss und fortfuhr. Aus jahrelanger Erfahrung wusste er, dass es wichtig war, den Kontakt nicht abbrechen zu lassen, war er einmal hergestellt. Eine einzige Minute des Schweigens konnte über Leben und Tod entscheiden. »Äh … danke. Wie geht es Ihnen? Sie müssen doch wahnsinnig frieren. Darf ich Ihnen etwas Warmes zu trinken hochbringen lassen?«

Gespanntes Warten folgte, doch alles blieb still. Generell liebte Himfeld die Situationen, in denen alle Augen auf ihn gerichtet waren, in denen man in ihm die einzige Hoffnung sah, das Geschehen noch in den Griff zu bekommen. Nicht umsonst genoss er einen exzellenten Ruf, was das Verhindern von Suiziden betraf. Das bestätigte seine eigens angelegte Statistik.

»Ich hätte Kaffee«, gab das Megafon verzerrt seine Worte wieder. »Sie können aber auch einen Tee haben, das würde nur einen Moment länger dauern. Aber ich bin sicher, mit etwas Warmem im Bauch lässt es sich besser reden. Eine Decke könnten Sie auch bekommen.«

Keine Reaktion.

Gut, dann also zurück zum Lehrbuch. »Ich kann verstehen, dass niemand zu Ihnen hochkommen darf. Manchmal möchte man lieber allein sein. Das kenne ich auch. Aber wir können auch so reden.« Der Einsatzleiter gab ihm einen Wink und deutete auf den Bauplan des Hochhauses. Himfeld nickte. Er verstand. Die Beamten hatten den Plan gesichtet und vermutlich einen Einstieg zum Dach gefunden, an dem sie sich unbemerkt verstecken konnten, solange es Himfeld gelang, die junge Frau abzulenken.

Er wartete, bis drei Beamte im Gebäude verschwunden waren, bevor er das Megafon wieder an die Lippen führte. »Hören Sie, ich möchte wissen, warum Sie da oben stehen. Was ist der Grund für Ihre Verzweiflung? Glauben Sie mir, es gibt kein Problem, das man nicht lösen könnte. Lassen Sie mich Ihnen hel … ha … haaa–« Ein Niesen platzte aus ihm heraus, bevor er das Megafon ausschalten konnte. Verzerrt hallte ein kräftiges Prusten über den Hof zwischen den Häusern, gefolgt von einem lauten Quietschen, das aus dem drangsalierten Gerät fuhr. Erschrocken hielten sich die Schaulustigen die Ohren zu. Dann wurde es wieder still.

»Gesundheit«, erklang ein Schrei vom Dach und Himfeld merkte, wie Wut in ihm aufstieg. Aber das war nicht alles. Irgendetwas war falsch an der gesamten Situation. Normalerweise hatte er es mit verzweifelten Menschen zu tun, die entweder schon mit allem abgeschlossen hatten und für jede Ansprache unzugänglich waren, oder eben mit denen, die innerlich einfach nach Hilfe schrien und im Prinzip nur jemanden brauchten, der ihnen zuhörte. Die kleine Komikerin da oben hingegen schien bei glasklarem Verstand zu sein. Sie führte ihn ziemlich gekonnt vor. Ihr merkwürdiges Verhalten irritierte ihn, doch nun war es zu spät, den Plan zu ändern. Die Beamten warteten sicherlich schon vor der Tür des Daches auf ihren Einsatz. Himfeld war also gezwungen, sie weiter bei Laune zu halten, auch wenn das auf seine Kosten ging. »Jeder war schon mindestens einmal in einer Situation, die er für ausweglos hielt. Ich habe schon viele Menschen gesehen, die wie Sie dann springen wollten und sich letztlich dagegen entschieden haben. Zu einigen davon habe ich noch Kontakt und inzwischen sind sie froh, dass sie es nicht getan haben. Sie haben ihre Probleme in den Griff gekriegt. Sie wollen leben. Sie genießen ihr Leben. Und Sie können das auch. Was auch immer es ist, es gibt nichts, worüber Sie mit mir nicht reden können. Aber ich halte es für besser, das unter vier Augen zu machen. Ich könnte zu Ihnen hochkommen und …« Abrupt ließ Himfeld das Megafon sinken und wandte sich an den Einsatzleiter: »Hat sie eben geantwortet? Ich hab doch irgendwas gehört.«

Der Einsatzleiter lief rot an und stammelte: »Ja, hat sie, aber ich … ich hab’s nicht so genau verstanden.«

»Sie hat gesagt, Sie sollen Ihre Klappe halten«, informierte der junge Beamte ihn freiheraus. Seine Mundwinkel zuckten.

»Wie bitte?«, fuhr Himfeld ihn an. Seine Augen funkelten wild, doch der Beamte blieb vollkommen unbeeindruckt davon. »Das waren ihre Worte, nicht meine.«

Den Wind aus den Segeln genommen, musterte Himfeld sein Gegenüber. »Wie heißen Sie überhaupt?«

»Seliger. Hannes Seliger.«

»So so«, brummte Himfeld und wandte sich wieder dem Geschehen zu. »Irgendwas stimmt bei der nicht.« Er griff erneut nach dem Megafon, dann fiel ihm etwas ein und er richtete das Wort wieder an den Frischling Seliger. »Sagten Sie nicht, Sie wüssten den Namen unserer Selbstmordkandidatin?«

Langsam wurde der Beamte selbstsicherer. »Ich sagte, dass wir glauben zu wissen, wer sie ist.«

»Ja – und?«, herrschte Himfeld ihn an.

Nun konnte Seliger sein Grinsen nicht länger verbergen. »Eva Blessing.«

»Gut«, entgegnete Himfeld gereizt und setzte sich das Megafon wieder vor die Lippen. Doch dann hielt er inne. Sekunden später sah er den Beamten mit großen Augen an. »Sie meinen, die Eva Blessing? Scheiße, warum sagt mir das denn keiner? Sind Sie sicher?«

Der Einsatzleiter zuckte, von einem Nicken begleitet, die Achseln. »So gut wie. Frau Schrag hat eine Personenbeschreibung abgegeben und …«

Mit einem Handzeichen unterbrach der Polizeipsychologe ihn und sah gebannt nach oben. »Was macht sie denn jetzt?«

Alle Blicke folgten ihm. Einer der Beamten zückte ein Fernglas und sah hindurch. »Sieht so aus, als unterhalte sie sich mit einem Bewohner des anderen Hauses.«

»Was?« Himfeld brüllte fast und riss ihm das Fernglas aus der Hand. Es stimmte. Eva Blessing stand gestikulierend auf dem Dach. Ihr Kopf war in Richtung des dicken Mannes gewendet, der in Feinrippunterwäsche und mit einem halben Liter Lindener in der Hand auf dem Balkon stand.

»Kann ich bitte eine Zigarette haben?«

Stocksteif verharrte Werding hinter der Wand und gab keinen Pieps von sich.

»Hey, Sie«, rief die Frau vom Dach gegenüber nun etwas nachdrücklicher, »ich weiß, dass Sie da sind. Ich habe Sie gesehen.«

Werding hielt den Atem an und rührte sich nicht vom Fleck.

»Sie tragen weiße Feinrippunterwäsche mit einem gelben Fleck in der Leistengegend, haben braune Haare mit grauen Strähnen und sind ziemlich fett«, rief die Frau wie zum Beweis. Werding sah an sich hinunter, als wolle er kontrollieren, ob sie tatsächlich ihn meinte. Leider konnte er jeden Zweifel aus dem Weg räumen. Vorsichtig sah er um die Ecke. »Meinen Sie mich?«

Die Frau hob skeptisch die Augenbrauen, streckte beide Hände von sich und sah sich suchend um. »Sind ja sonst nicht so viele in Feinripp unterwegs hier oben. Natürlich meine ich Sie.«

Werding traute sich noch ein Stück vor und musterte die Frau von oben bis unten. »Tragen Sie eine Waffe?«

Nahezu beleidigt stemmte die Frau die Hände in die Hüften. »Nur, wenn ich vorhätte, mich zu erschießen.« Fragend sah er sie an, bis sie ihre Taschen von innen nach außen stülpte und ihm einen bestätigenden Blick zuwarf. »Nein, ich habe keine Waffe. Noch nie gehabt. Ich bin auch kein verkackter Amokläufer oder was auch immer Sie denken. Ich will einfach nur in Ruhe vom Dach springen, wenn möglich, noch heute. Und vorher würde ich gerne noch eine Zigarette rauchen, aber meine Schachtel ist mir runtergefallen.« Sie deutete nach unten in die Tiefe.

Werding sah die etlichen Stockwerke hinab, blickte dann wieder zu der Frau. »Für eine Selbstmörderin sind Sie ziemlich locker.« Es war als Frage gemeint, blieb jedoch unbeantwortet. Er räusperte sich. »Sie wirken so … so undramatisch.«

Schweigend erwiderte sie seinen fragenden Blick.

»Ich meine …«, versuchte Werding es erneut, »sollten Sie nicht verzweifelt sein oder … oder ängstlich?«

Sie verzog keine Miene. »Sollte ich das?«

Nickend zuckte er die Achseln und sah hinunter. »Ja, ich meine … also, ich hätte die Hosen gestrichen voll. Ich brauche nur runterzugucken, dann wird mir schon schwindelig.«

Eine weitere Minute verstrich, in der sie ihn reglos anschaute, bevor sie sich gefährlich weit vorbeugte, die Tiefe betrachtete und hinunterspuckte. Unbeeindruckt hob sie ihren Blick. »Ist eine Frage der Einstellung. Was ist mit der Zigarette?«

Werding griff nach seiner Schachtel und nahm sich selbst noch eine Zigarette heraus. »Die sind aber nass«, ließ er sie wissen, bevor er ausholte und die Packung zu ihr rüber warf. Eine Windböe erfasste das Päckchen, sodass Blessing sich weit vorbeugen musste, um sie aufzufangen. In letzter Sekunde erhaschte sie die aufgeweichte Pappschachtel und kam ins Wanken. Nur noch auf einem Fuß stehend, schaffte sie es, sich auszubalancieren und in einen sicheren Stand zurückzukehren.

Werding merkte, dass ihm die Knie weich wurden, als er die Frau am äußersten Rand des Daches herumturnen sah. Ganz im Gegensatz zu ihr selbst. Während ihres Balanceaktes hatte sie nicht mal mit der Wimper gezuckt. Lediglich ein kleines »Upps« war ihr entglitten. Für Werding ein sicheres Zeichen dafür, dass sie es ernst meinte. Erneut sah er die Stockwerke hinab, blickte auf die immer größer werdende Menschenmenge, die ihre Köpfe nach oben reckte, sah das Blaulicht und den großen Feuerwehrwagen.

Langsam wurde ihm übel. Beim Gedanken daran, dass die Frau, mit der er sich gerade unterhielt, in wenigen Minuten nicht mehr sein würde als ein zermatschter Fleck auf dem grauen Asphalt unter ihm, hätte er sich fast übergeben. Säuerlich stieg sein Bier aus dem Magen empor und er schluckte es trocken hinunter. Irgendetwas musste er tun. Nur was? Es war ja nicht so, dass er sich jemals intensiver mit der Psyche einer Frau beschäftigt hätte. Eigentlich war ihm deren Seelenleben auch scheißegal, solange sie seine sexuellen Wünsche befriedigten. Für gewöhnlich sah er in Frauen nicht mehr als einen nackten Körper, jedenfalls bei den hübschen Exemplaren. Auch die Frau auf dem Dach hätte ihn unter normalen Umständen vermutlich angesprochen, aber derzeit regte sich in seinem Körper zu seinem Erstaunen rein gar nichts. Ganz im Gegenteil. Zum ersten Mal in seinem Leben spürte er den bitteren Geschmack von so etwas wie Verantwortungsgefühl, und das ließ jeglichen Trieb in ihm erlöschen. Einen Moment zog er in Erwägung, einfach wieder reinzugehen, sich die Ohropax zu schnappen und ins Bett zu legen. Doch irgendetwas hielt ihn davon ab. Er konnte zumindest versuchen, sie von ihrem Sprung abzuhalten. Das würde bestimmt in den Medien Erwähnung finden. Werding zögerte nur noch einen winzigen Augenblick, dann zündete er sich eine Zigarette an und lehnte sich über die Brüstung. Die Frau saß mittlerweile wieder, die Beine am Rand des Daches herunterbaumelnd, und kritzelte etwas in ihr Heft.

»Darf ich Sie was fragen?«

Die Frau blickte von ihrem Heft auf, pustete Zigarettenrauch aus und bedeutete Werding mit einem knappen Nicken, dass er loslegen sollte.

»Warum wollen Sie springen?« stammelte er unbeholfen. »Möchten Sie nicht … ich meine, gibt es keine Lösung für Ihr Problem?«

»Welches Problem?«, entgegnete sie unbekümmert und wartete einen Moment auf seine Antwort. Als diese ausblieb, wandte sie sich wieder ihrem Heft zu.

Gleichermaßen erstaunt wie fieberhaft suchte Werding nach Worten: »Na ja, Sie werden ja nicht grundlos springen, oder?«

Ohne von ihrem Heft aufzusehen, schüttelte die Frau den Kopf.

Wie wild zog Werding an seiner Zigarette. »Und was ist der Grund?«

»Den wollen Sie nicht wissen.«

»Doch«, platzte es aus Werding heraus, der inzwischen wirklich neugierig geworden war. »Sind Sie krank? Haben Sie Liebeskummer oder keine Freunde? Haben Sie Ihre Arbeit verloren?«

Wieder nur ein Kopfschütteln.

In Windeseile kramte er sämtliche Erinnerungen an Dramen, die er im Fernsehen gesehen hatte, hervor, um aufmunternde Worte zu finden. »Ich sehe hier vor mir eine hübsche junge Frau und ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, was Sie veranlasst, sich das Leben nehmen zu wollen«, ratterte er hölzern und unbeholfen drauf los. Und scheinbar auch nicht besonders glaubhaft, denn nun schaute die Frau wieder von ihrem Heft auf, legte es beiseite und betrachtete ihn aus eiskalten grauen Augen, die ihn fast zu durchbohren schienen. Trotz der Kälte bemerkte Werding plötzlich einen Schweißtropfen seinen Rücken herunterlaufen, als die Frau aufstand und sich in ihrer vollen Größe vor ihm aufbaute. Obwohl sie weit von ihm entfernt stand, jagte sie ihm eine Heidenangst ein.

»Ich weiß nicht, wen Sie da gerade zitieren«, gab sie ungerührt von sich, »aber Sie sehen in mir nicht mehr als einen Körper mit den entsprechenden weiblichen Attributen und einer Schminkmurmel oben drauf. Sie interessiert weder der Grund, warum ich springen will, noch sonst etwas. Also warum tun Sie uns beiden nicht den Gefallen und gehen wieder in Ihre Wohnung? Saufen Sie sich Ihren Bauch in Form oder holen Sie sich einen runter oder was auch immer Sie sonst um diese Zeit treiben, aber ich für meinen Teil hätte jetzt gerne meine Ruhe.«

Werdings Herz schlug ihm bis zum Hals. Er fühlte sich ertappt und wollte sich eigentlich nur noch verkriechen, doch gleichzeitig fühlte er sich außerstande, von diesem Gespräch abzulassen. Die erste Unterhaltung mit einer Frau, bei der er tatsächlich zuhörte. Nicht ein einziges Mal hatte er sie sich nackt vorgestellt.

Unerwartet riss ihn die verzerrte Stimme des Polizeipsychologen aus seinen Gedanken: »Bitte, sprechen Sie mit mir!«

»Herrgott, jetzt halt doch mal die Schnauze!«, brüllte die Frau vom Dach herunter und fluchte anschließend vor sich hin.

Aus einem Grund, den er selbst nicht verstand, beugte Werding sich schneller über die Brüstung, als er registrieren konnte, und rief zu ihr hinüber: »Ich möchte es wissen – warum Sie springen wollen!« Doch die Frau schüttelte lediglich den Kopf und widmete sich unbeirrt wieder ihrem Heft.

Der Megafonmann schickte erneut eine seiner Standardfloskeln gen Dach, als Werding plötzlich Ärger verspürte. »Warum hacken Sie so auf mir rum? Ich wollte Ihnen nur helfen. Aber wissen Sie was? Eigentlich kann es mir völlig egal sein, was aus Ihnen wird!«, klagte er sie beleidigt an. Als ihm jedoch klar wurde, dass er auf diese Weise nicht weiterkam, überwog erneut die Neugierde. »Ich wollte doch nur wissen, warum Sie springen wollen. Mehr nicht.«

»Warum wollen Sie den Grund unbedingt erfahren?«, entgegnete die Frau, ohne mit dem Schreiben aufzuhören.

»Weil es mich interessiert!«, platzte es zu Werdings eigener Überraschung aus ihm heraus.

»Sehen Sie«, antwortete sie, legte nun endlich wieder das Heft beiseite und sah zu ihm hinüber, »und damit sind Sie dem Grund schon dicht auf den Fersen.« Ahnungslos sah er sie an, während sie sich erhob und ihre Hände in den Jackentaschen vergrub. »Es gibt eine Millionen Möglichkeiten, sich zu begegnen und nicht bei einer davon hätte es Sie auch nur ansatzweise interessiert, wer ich bin oder wohin ich gehe und warum ich tue, was ich tue.«

Während ihrer rhetorischen Pause musste er sich leider eingestehen, dass sie recht hatte.

»Sie sind ein Ignorant. Sie sehen nur sich. Alles andere ist Ihnen egal.« Sie zündete sich eine weitere Zigarette an und sah einen Moment dem Rauch nach, der vom Wind verweht wurde, bevor sie ihren Blick wieder zu Werding gleiten ließ. »Verstehen Sie mich nicht falsch, das war kein Vorwurf. Es ist ein Fakt. So wie es ein Fakt ist, dass ich genauso bin wie Sie. Dass jeder genauso ist wie Sie. Wir sind alle Ignoranten.«

Zitternd beobachtete Werding, wie die Frau gelassen ihre Zigarette rauchte. Er wartete auf weitere Ausführungen, doch es kamen keine. Vorsichtig fragte er nach: »Und deswegen wollen Sie springen? Weil wir alle Ignoranten sind?«

Erstmals huschte ein kleines Lächeln über ihr Gesicht. »Nein. Ich will springen, weil ich die Welt so sehe, wie sie ist. Glauben Sie mir, wenn Sie die Welt nur eine Minute aus meiner Sicht betrachten würden, stünden Sie vermutlich hier neben mir und könnten es kaum erwarten, unten anzukommen. Aber daran, dass Sie meine Ausführungen nicht verstanden haben, erkenne ich, dass Sie nichts zu befürchten haben.«

In Werdings Kopf schien sich alles zu drehen. Am liebsten hätte er eine Flasche Wodka auf ex getrunken, um seinen schier überbordenden Gedanken ein Ende zu setzen. Nie zuvor hatte sein Gehirn derartig rotiert. Er bemerkte, von sich selbst schockiert, dass aufrichtiges Interesse die Gleichgültigkeit überwog.

»Sie haben recht, ich habe es nicht verstanden«, versuchte er sich in Ehrlichkeit. Seine Neugier war nicht mehr zu bändigen. Längst ging es ihm nicht mehr darum, irgendjemanden zu retten und als Held dazustehen. Es war, als wäre alles um ihn herum ausgelöscht. Keine Polizei, keine sensationsgierige Menschenmenge, keine Feuerwehr. Nur er und die erhoffte Antwort dieser ihm unbekannten Frau. Er war bereit, alles zu sagen, alles von sich preiszugeben, nur um den Grund zu erfahren – na ja, fast alles. »Aber ich möchte, dass Sie es mir erklären. Nennen Sie mir den Grund. Wie sehen Sie die Welt?«

Mit unverkennbar durchdringenden Augen hielt sie seinem wissbegierigen Blick stand und schüttelte den Kopf. »Das kann ich Ihnen nicht sagen. Ihr Leben wäre nie wieder, wie es einmal war.«

Werding hielt es nicht mehr aus. »Das ist mir egal. Wenn es Ihr Gewissen erleichtert: Ich bin ein Arschloch. Ein Ekel, das die Welt nicht braucht. Ich habe keine Kinder, keine Familie, es gibt nur mich. Wie auch immer sich mein Leben verändern würde, es könnte nur besser werden. Sagen Sie mir den Grund!«

Wieder die Stimme aus dem Megafon, die ungehört in der klirrend kalten Winterluft verhallte.

»Bitte!«, fügte er nachdrücklich hinzu, während er sich noch fragte, warum es ihm eigentlich so wichtig war. »Ich will es wissen!«

Nachdenklich sah die Frau ihn an. Werding merkte, dass sie langsam ungeduldig wurde. Fortwährend huschte ihr Blick in die Tiefe und er sah so etwas wie Ärger in ihren Augen aufblitzen, sobald die vermeintlich beruhigenden Worte des Polizeipsychologen durchs Megafon rasselten. Er schickte Stoßgebete gen Himmel, dass diese Ansagen aufhörten, zumindest, bis er die Antwort hatte. Irgendetwas ließ ihn glauben, dass die Antwort dieser Frau ihn wirklich auf einen anderen Lebensweg bringen könnte, dass sein Lebensglück von diesen Worten abhinge, dass er künftig ein anderer sein würde. »Bitte!«, wiederholte er ungeduldig und zugleich voller Angst, dass sie dem Druck, der von der Menschenmasse und dem Rettungsdienst unter ihnen ausging, nicht mehr lange standhalten könnte und springen würde, bevor er die Antwort bekommen hatte. Wieder schnellte ihr Blick nach unten. Sie drückte ihre Zigarette aus und fuhr sich mit der Hand durch die Haare.

»Nein, nein, nein!«, rief Werding hektisch. »Sagen Sie es mir!«

Etwas in ihrem Blick hatte sich verändert, als sie fragte: »Sie wollen es wissen? Sie wollen wirklich wissen, wie diese Welt ist – ohne all den Glitter und den Glamour, ungeschminkt, hässlich und vollkommen unverhüllt?«

»Ja!«, rief Werding ihr zu und spürte gleichzeitig, dass ein ungutes Gefühl in ihm hochstieg. Seine Neugierde war allerdings nicht mehr zu bremsen.

»Sind Sie absolut sicher?«, erkundigte sie sich ein letztes Mal.

Ein heißer Schauer überkam Werding, als die Frau ihm direkt in die Augen sah und er nur noch ein kehliges »Ja« hervorbringen konnte.

Eine seltsame Ruhe umspielte ihre Gesichtszüge, als sie gottergeben die Achseln zuckte und die Hände ausbreitete.

Mittlerweile hatte Himfeld der Eifer gepackt. Eva Blessing! Er konnte nicht glauben, dass ihm das vorher keiner gesagt hatte. Überall standen Journalisten herum und das Leben dieser traurigen Berühmtheit da oben und somit auch seine Karriere hingen von diesem einen Namen ab – und niemand hatte ihm etwas gesagt.

Vor etwa zwei Jahren hatte sich die Dame, die er zuvor für eine klassische, nicht ernst zu nehmende Hilfeschreikandidatin hielt, aufgrund merkwürdiger Umstände zu einer skurrilen Art der Prominenz entwickelt. Wenn er hier versagte, würde das die halbe Welt erfahren und das war das Letzte, was Himfeld gebrauchen konnte. Die Lage sah jedoch nicht besonders gut aus. Mehrfach hatte er versucht, den Kontakt zu ihr wiederherzustellen, doch sie hatte nicht geantwortet. Die Sache wurde langsam ernst.

Himfeld hielt sich das Fernglas vor die Augen und beobachtete mit einem üblen Gefühl in der Magengegend, wie Frau Blessing mit dem Mann vom Balkon redete. Plötzlich holte der Mann aus und warf etwas zu ihr hinüber. Blitzschnell reagierte Himfeld und gab dem Einsatzleiter ein Zeichen, der umgehend sein Funkgerät zückte. Himfeld brauchte einen Augenblick, um seinen Herzschlag zu regulieren, nachdem er beobachtet hatte, wie Eva Blessing beim Versuch, das Päckchen aufzufangen, fast vom Dach gefallen wäre. Doch das Nicken des Einsatzleiters bestätigte ihm, dass die Aktion sich gelohnt hatte. Zwei Beamte des SEK hatten es geschafft, sich unbemerkt aufs Dach zu schleichen und geschützte Positionen einzunehmen.

Nun galt es, Frau Blessing in ein intensives Gespräch zu verwickeln, sodass sie sich an sie heranschleichen und sie überwältigen konnten. Doch sie ging auf nichts ein. Und sie saß viel zu dicht am Rand des Daches, um es auch ohne Ablenkung zu versuchen.

»Frau Blessing!«, brüllte Himfeld ins Megafon. »Ich will Ihre Unterhaltung nicht stören, aber ich wollte Sie fragen, ob Sie mit mir reden würden, wenn ich mich auf einen der Balkone in dem Haus gegenüber stelle. Ich verspreche, dass ich nicht auf Ihr Dach kommen werde. Ich will nur mit Ihnen reden, Frau Blessing.«

Nichts. Keine Reaktion. Himfeld drehte sich zu seinen Kollegen um, um zu fragen, ob jemand wüsste, wer der Typ auf dem Balkon sei. Sein Plan besagte, ihn miteinzubeziehen, doch es war bereits zu spät. Ein einzelner greller Schrei hallte über die Menge der Schaulustigen, gefolgt von einem dumpfen Aufprall. Die Welt schien für eine Sekunde zu verstummen, bevor die Menge auseinanderstob und der gesamte Hof von panischen Schreien erfüllt wurde. Himfelds Kopf fuhr herum. Er hatte das Gefühl, dass seine Knie unter dem Gewicht seines Körpers nachgeben wollten, doch er hielt sich tapfer und schloss sich dem Pulk von Beamten und Rettungssanitätern an, die wie von der Tarantel gestochen auf den leblosen Körper zurannten und ihn umringten.

Völlig außer Atem stieß Himfeld wenig später dazu. Er konnte nichts sehen außer den roten Jacken der Sanitäter, die sich im Kreis versammelt vornüberbeugten. Zwischen ihren Füßen trat Blut hervor. Viel Blut.

»Das gibt es doch gar nicht«, hauchte einer von ihnen und sah fassungslos nach oben.

»Aber …«, stotterte ein anderer und fuhr sich mit den Händen mehrfach über den Kopf. Ungeduldig trat Himfeld von einem Fuß auf den anderen. »Kann mir mal jemand sagen, was hier los ist?«, raunzte er die Sanitäter an, die sich äußerst merkwürdig verhielten.

Einer von ihnen drehte sich langsam zu Himfeld um. Sein Gesicht war ein einziges Fragezeichen. »Das ist nicht …«, nuschelte der Sanitäter wie aus weiter Ferne.

»Das ist nicht – was?«, herrschte Himfeld ihn an, doch als ein anderer Sani blitzschnell aufsprang, um sich ein paar Meter weiter zu übergeben, konnte Himfeld einen Blick auf den matschigen Fleck erhaschen, der leblos auf dem Asphalt lag. Er wog schätzungsweise 350 Pfund und trug Feinrippunterwäsche.

Heinrich Himfeld verspürte noch immer gelegentlich einen Hauch von Übelkeit, aber er hatte seine Fassung zurückerlangt.

Nie zuvor hatte er etwas Derartiges erlebt. Er stand förmlich unter Schock, während der Leichenwagen mit dem einst speckigen, nun zermatschten Mann davongefahren war, der sich aus unerklärlichen Gründen vom Balkon des einen Hochhauses gestürzt hatte.

Den Trubel um sich herum hatte Himfeld kaum wahrgenommen, bis der Einsatzleiter ihn in einen Streifenwagen verfrachtete. Wie in Watte gepackt hatte Himfeld sich während der gesamten Fahrt zum Polizeirevier dessen fassungslose Plattitüden angehört, ohne selbst auch nur einen einzigen klaren Gedanken zu fassen. Das Einzige, das er klar und deutlich vor sich sah, waren die stahlgrauen Augen von Eva Blessing, als sie von zwei Beamten des SEK in einen der Streifenwagen gesetzt wurde. Für den Bruchteil einer Sekunde hatten ihre Blicke sich getroffen, doch so sehr er sich auch bemüht hatte, so etwas wie Trauer, Angst oder sogar Zorn in ihren Augen zu entdecken – es war nichts zu erkennen gewesen. Dennoch konnte er sich nicht erinnern, jemals einen solch intensiven Blick gesehen zu haben. Die Frage war nur, was er aussagte.

Nach langem Hin und Her auf der Wache, das keinen der Anwesenden auch nur einen winzigen Schritt vorangebracht hatte, beschloss Himfeld, nach Langenhagen in die zuständige Psychiatrie zu fahren, in die Eva Blessing eingeliefert worden war.

Inzwischen war es später Nachmittag und es hatte sich noch immer niemand bemüßigt gefühlt, ihn über den aktuellen Stand in Kenntnis zu setzen. Er ließ sich von einer Schwester ein paar rezeptfreie Mittelchen für seine Erkältung geben und steckte sein letztes Kleingeld in den Getränkeautomaten. Dieser spuckte gerade einen Plastikbecher mit heißem Wasser hervor, als endlich ein hagerer älterer Mann in einem weißen Kittel um die Ecke bog und auf ihn zusteuerte. Himfeld erkannte Dr. Robeski, hatte er doch nahezu alle seine Vorträge besucht.

»Herr Himfeld, nehme ich an?« Ohne eine Antwort abzuwarten, streckte Robeski seine Hand zum Gruß aus und ging, noch während Himfeld sie ergriff, weiter auf eine der weißen Türen am Ende des Ganges zu, öffnete sie und deutete auf einen ausladenden cognacfarbenen Sessel in dem Raum dahinter. »Bitte.«

Himfeld setzte sich und ließ Robeskis Büro einen Augenblick auf sich wirken. Steriler Minimalismus, dachte er halb amüsiert, halb anerkennend. Außer dem wuchtigen Schreibtisch und den noch ausladenderen Sesseln gab es lediglich eine etwas legerer wirkende Sitzecke an der Fensterfront. Außer den Bücherregalen, die in die Wand eingelassen und mit Türen versehen waren, sodass man ihren Inhalt nicht erkennen konnte, gab es nichts mehr zu sehen. Schniefend tunkte Himfeld einen Teebeutel in sein heißes Wasser und drückte drei Aspirin aus der Verpackung. Emotionslos registrierte der ältere Weißkittel sein Tun, setzte sich dann eine Brille auf und betrachtete die vor sich liegende Akte. Er blätterte sie Seite für Seite durch, bevor er die Brille wieder abnahm und sich in seinem Bürostuhl zurücklehnte. »Sie mussten lange warten, darum will ich mich kurzfassen. Eva Blessing, geboren am siebten Dezember ’86 in Hannover«, bestätigte er nun endlich den Verdacht der Einsatzcrew. »Mit siebzehn Jahren von der Stadt aufs Dorf gezogen – eher ungewöhnlich –, genauer nach Egestorf am schönen Deister … kennen Sie die Gegend?«

Irritiert über die Unterbrechung, sah Himfeld auf. »Was? … Egestorf … äh, nein. Das heißt, ja. Es gehört zu Barsinghausen, oder?«

Geduldig wartete Robeski das Gestammel des Polizeipsychologen ab. »Wenn Sie mal den Kopf frei kriegen wollen, gehen Sie einfach im Deister spazieren. In Egestorf hält der Zug quasi direkt im Wald. Wunderbar! Aber wie dem auch sei …«, er wandte sich der Akte zu, »nach einer Ehrenrunde in der siebten Klasse legte sie ein glänzendes Abitur ab und finanzierte sich ihr Philologie-Fernstudium als Hostess deutschlandweit auf Messen. Ich schätze mal, sie ist aufs Land gezogen, weil die Mieten dort einfach günstiger sind. Zumindest erhielt sie keinerlei finanzielle Unterstützung vom Staat, den Eltern oder Ähnliches. Bis 2017 war sie als Lektorin tätig.« Er machte eine kurze Pause, in der Himfeld unschwer erkennen konnte, dass Dr. Robeski nicht halb so viel Interesse an diesem Fall hatte wie er selbst. Robeski griff in die Akte und zückte einen Zeitungsartikel, den er auf den Tisch warf. »Und danach bekannt durch Funk und Fernsehen.« Er lachte kurz tonlos auf, dann glätteten sich seine Gesichtszüge sofort wieder. »Die Geschichte kennen Sie vermutlich.«

Etwas verlegen räusperte Himfeld sich und warf einen kurzen Blick auf den Zeitungsartikel. »Ehrlich gesagt verfüge ich nur über ein gefährliches Halbwissen, was Frau Blessing betrifft. Im Gegensatz zu vielen meiner Kollegen habe ich diesen Fall so gut wie gar nicht verfolgt. Fiel ja auch nicht in meine Zuständigkeit, sie lebte damals ja noch in … äh … irgendwo am Deister. Sie hat …«, fieberhaft kramte er seine Erinnerungen hervor, »hat sie nicht ein Buch geschrieben?«

Robeski hob eine Augenbraue angesichts seines Unwissens und nickte. »Das ist korrekt.«

Erleichtert schnäuzte Himfeld sich die Nase. »Sehen Sie, jetzt erinnere ich mich auch wieder. Die Polizei hatte damals mit dem Fall nichts zu tun, da es sich eindeutig um einen Selbstmordversuch handelte. Und kaum ebbten die Berichte über Blessings Desaster ab, war – zack, zack – auch schon ihr Buch auf dem Markt.« Himfeld schnaubte etwas verächtlich und setzte ein leicht überhebliches Grinsen auf. »Ich habe es immer abgelehnt, ihre Geschichte in den Medien zu verfolgen, weil sie meines Erachtens das Thema Suizid in ihrem Buch verherrlicht hat, und etwas Derartiges kann ich in meiner Stellung und auch aus persönlichen Gründen nicht gutheißen.«

Ungeachtet Himfelds plötzlicher Heiterkeit schürzte Robeski die Lippen und kratzte sich an der Nase, bevor er ihn trocken wissen ließ: »Tja, da liegt der Hund begraben.«

»Wie bitte?«

Robeski begann, sich kaum merklich in seinem Bürostuhl hin und her zu drehen. »Ganz offensichtlich haben Sie das Buch nicht gelesen, was selbstverständlich keine Schande und jedem selbst überlassen ist. Unschön ist, dass Sie über einen Text urteilen, dessen Inhalt sie nicht kennen. Demnach würde ich Ihnen raten: Entweder das Buch lesen und mitreden oder andernfalls schweigen.« Himfeld spürte Ärger in sich aufsteigen, blieb jedoch stumm, als Robeski sich leicht nach vorne beugte und fortfuhr: »Ich weiß nicht, was genau Sie zu Ihrer Ansicht bewogen hat, aber Sie können mir glauben, dass Frau Blessing ihren Selbstmord alles andere als verherrlicht hat. Und schon gar nicht wollte sie andere dazu verleiten, es ihr gleichzutun.« Er stand auf, ging zum Regal und zog ein Buch heraus, das er Himfeld vor die Nase legte. Dann tippte er mit dem Finger darauf. »In diesem Buch werden Sie nicht eine einzige Zeile finden, die sich für oder gegen überhaupt irgendetwas ausspricht. Es ist viel eher ein Auszug assoziativer Gedanken, die einem jeden von uns während des Alltags durch den Kopf gehen, zum Beispiel, während wir im Stau stehen oder in der Warteschleife der Telekom festhängen.«

Himfeld verfluchte sich selbst wegen seines mangelnden Wissens zum Fall Blessing. Dies war der interessanteste Fall der letzten zehn Jahre und er war nicht informiert – aus Bequemlichkeit! Er fühlte sich unterlegen. Ein nahezu unbekanntes Gefühl für ihn. So schnell wie möglich wollte er dieses Gespräch beenden. »Gut«, sagte er darum beherzt, »dann werde ich mir das Buch schleunigst zu Gemüte führen. Doch vorerst benötige ich Akteneinsicht. Wie ich sehe, haben Sie nebst Ihren eigenen Aufzeichnungen auch schon die Akte aus der psychiatrischen Klinik in Wunstorf angefordert, in der Frau Blessing nach ihrem ersten Selbstmordversuch behandelt worden ist. Gibt es noch Unterlagen aus einer fortlaufend ambulanten Therapie?« Himfeld erhob sich und griff nach der Akte, doch Robeski war schneller und drückte sie mit der Hand auf den Tisch zurück. Fragend sah Himfeld ihn an.

»Schweigepflicht«, erinnerte Robeski ihn sachlich. »Ich weiß nicht, was Polizisten permanent dazu veranlasst, zu glauben, sie stünden über dem Gesetz, aber in meiner Klinik nehmen wir die Schweigepflicht sehr ernst.«

Himfeld baute sich vor ihm auf. »Dr. Robeski, bei allem Respekt, aber diese Angelegenheit ist Sache der Polizei. Ich bin nicht hier, um Frau Blessing psychologisch zu betreuen oder zu therapieren. In erster Linie bin ich Vertreter der Polizei, dessen Auftrag es war, einen Selbstmord zu verhindern. Nun hingegen haben wir einen Fall zu lösen und ich hatte bereits Kontakt zu Frau Blessing aufgenommen, als sie auf dem Dach stand. Angesichts ihrer offensichtlich labilen Psyche hielt mein Vorgesetzter es darum für das Beste, mich mit ihr sprechen zu lassen. Denn immerhin gibt es eine Leiche, wie Sie vielleicht wissen.«

Unbeeindruckt zuckte Robeski die Schultern. »Die gibt es jeden Tag. Überall auf der Welt.«

»Ja …«, brachte Himfeld zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, »aber an den anderen Todesfällen war Frau Blessing nicht beteiligt.«

»Nun, an diesem auch nicht«, wandte Robeski ein. »Zugegeben, die Umstände sind ein wenig seltsam, aber Frau Bles-sing hatte keinerlei Einfluss auf den Tod dieses Herrn. Sie war nicht einmal nahe genug dran, dass man nachprüfen müsste, ob sie ihn vielleicht gestoßen haben könnte. Sie hat nur mit ihm gesprochen. Er ist gesprungen.«

Energisch schüttelte Himfeld den Kopf. »Er ist gesprungen, aufgrund dessen, was sie ihm erzählt hat. Das ist ein Unterschied.«

Robeski sah auf seine Uhr und stand auf. Er mimte den Beschäftigten. »Tatsächlich? Dann bringen Sie mir eine richterliche Anordnung und ich werde Ihnen Akteneinsicht gewähren. Bis dahin obliegt dieser Fall unserer Zuständigkeit.« Forsch ging er an Himfeld vorbei. »Ich allerdings würde Ihnen raten, nicht Ihre Zeit zu verschwenden. Frau Blessing hat den Mann nicht einmal gekannt.«

»Sie haben schon mit ihr gesprochen?«, fragte Himfeld verblüfft. Normalerweise wurden Menschen nach einem Selbstmordversuch zunächst ruhiggestellt, da sie ohnehin kaum ansprechbar waren.

Robeski blieb an der Tür stehen und nickte. »Sogar sehr lange. Erst, nachdem sie erfahren hat, dass sie vorerst hierbleiben muss, ist sie explodiert. Da mussten wir ihr leider einen leichten Gnadenhammer verabreichen.«

Himfeld platzte fast vor Neugierde. »Was hat sie gesagt? Was geht in ihr vor, nachdem …« Robeski drehte sich zu ihm um und unterbrach ihn mit einer Handbewegung. »Sie können sich Ihre Fragen sparen. Frau Blessing war weder geistig verwirrt noch geschockt. Alles, was ich Ihnen sagen kann, ist, dass ich eine etwas übermüdete Frau mit leichter Unterkühlung vor mir sitzen hatte, die sachlich meine Fragen beantwortet hat.«

Er öffnete die Tür. An seinem Blick sah Himfeld, dass Eva Blessing Robeski offenbar doch mehr Rätsel aufgab, als er sich selbst eingestehen wollte. Er schien mit sich zu ringen, ob er weiterreden sollte, tat es aber schließlich doch: »Wenn es keine Beweise für das gäbe, was sich heute Morgen abgespielt hat, würde ich eher Sie und Ihre Kollegen für verrückt erklären, weil Sie mir eine kerngesunde, geistig vollkommen zurechnungsfähige junge Frau ins Haus geschleppt haben.«

Der utopische Wunsch, seine Frau möge nicht zu Hause sein, blieb unerfüllt. Himfeld vernahm ihre Schritte bereits, als er, von einem Hustenanfall geschüttelt, seinen Schlüsselbund ans Bord hängte und sich aus seinem Mantel schälte. Mental rollte er schon die Augen gen Himmel, noch bevor ihr immer gleiches Begrüßungsritual seinen Lauf nahm, auf das so gut Verlass war wie auf ein Schweizer Uhrwerk: »Weißt du eigentlich, wie spät es ist?«

Himfelds Mantel verfehlte den Kleiderhaken und landete auf dem perfekt polierten Parkett im Flur. Ein pochender Schmerz hinter Stirn und Schläfen ließ den Polizeipsychologen zusammenfahren, als er sich bückte, um ihn aufzuheben. Doch wenigstens ließ das Rauschen in seinen Ohren die Folgefrage »Wo bist du gewesen?« nur gedämpft erklingen, den er mit einem dreifachen Niesen und einem ausgiebigen Schnäuzen der Nase beantwortete. Diese verdammte Erkältung würde ihn noch frühzeitig ins Grab bringen, wenn das hysterische Gekreische seiner Frau dem Virus nicht zuvorkäme. »Wo soll ich denn schon gewesen sein? Bei der Arbeit natürlich.«

»Bei der Arbeit?«, wiederholte sie, allerdings nicht kreischend, sondern eher resigniert, und sah auf die Uhr. »Um diese Zeit? An einem Sonntag?«

Himfeld hängte seinen Mantel nun erfolgreich an den Haken und wickelte den Schal vom Hals. »Du weißt, ich hatte Bereitschaftsdienst, was bedeutet, dass man auch zu unwirtlichen Zeiten Bereitschaft zum Dienst zeigen muss«, grummelte er kaum verständlich. Noch bevor sie zu einer weiteren Frage ansetzen konnte, fügte er schnell hinzu: »Falls es dir schon mal aufgefallen sein sollte, bin ich krank und wünsche mir nichts sehnlicher, als mit einem heißen Tee im Bett zu liegen. Wo – außer bei der Arbeit – hätte ich also sonst sein sollen?«

Ilona Himfeld betrachtete ihren Mann nachdenklich, dann wandte sie sich ab. »Es fällt mir zunehmend schwer, dir zu glauben. Zumal dich deine Erkältung letzte Nacht auch nicht sonderlich gestört hat. Geschlafen hast du jedenfalls nicht. Aber warum rede ich überhaupt noch?«

Himfeld setzte zu einer Erklärung an, fühlte sich letztlich jedoch außerstande, eine abzugeben, und winkte antriebslos ab, während er Richtung Badezimmer schlurfte. Ein Blick in den Spiegel verriet ihm, dass er genauso grauenvoll aussah, wie er sich fühlte. Gottergeben ließ er wie aus weiter Ferne das Gezeter seiner Frau über sich ergehen, während er sich mit allem zudröhnte, das eine Linderung von Erkältungssymptomen versprach.

Es war schon weit nach Mitternacht, als Himfeld endlich zur Ruhe kam. Wie ein Schluck Wasser in der Kurve ließ er sich ächzend auf dem kleinen Gästesofa seines Arbeitszimmers nieder. Er hätte es einfach nicht ertragen, neben seiner Frau im Bett zu liegen, sie atmen zu hören, ihre von Eifersucht verseuchte Anwesenheit zu spüren. So hatte er ihr gesagt, er wolle aus Rücksicht auf sie nicht im Ehebett schlafen, er sei schließlich ansteckend.

Himfeld starrte an die Decke, während zum ersten Mal an diesem Tag Wärme in seinem Körper Einzug hielt. Eigentlich hatte er erwartet, umgehend einzuschlafen, sobald er in die Horizontale kam. Doch irgendetwas hielt ihn wach. Er drehte sich nach links. Er drehte sich nach rechts. Auf dem Bauch musste er es gar nicht erst versuchen. Er war kein Bauchschläfer. Nach nicht einmal einer Viertelstunde knipste er das Licht der Schreibtischlampe wieder an und richtete sich auf. Gähnend sah er sich in seinem Arbeitszimmer um. Die Wände mussten unbedingt mal wieder gestrichen werden. Der einstige Cremeton glich inzwischen eher einem verblassten Nikotingelb. Und der Schreibtischstuhl hatte ebenfalls schon bessere Tage gesehen. Das könnte ich eigentlich in meinem nächsten Urlaub erledigen, dachte er bei sich, stand auf und schritt durchs Zimmer, um die Wände aus der Nähe zu betrachten. Im eigenen Schatten strich er mit den Händen über die Raufasertapete und ertastete einige ausgefranste Stellen. Vielleicht wäre ein vollständiger Tapetenwechsel sogar noch angemessener, grübelte er, sich der Mehrdeutigkeit des Satzes mehr als bewusst, weiter.

In Gedanken versunken taperte er zum Sofa zurück, ohne auf seine Aktentasche zu achten, die ihn um ein Haar zu Fall gebracht hätte. In letzter Sekunde gelang es ihm, seinen Fuß aus dem Trageriemen zu befreien und somit einen Sturz zu verhindern. »Scheiße«, murmelte Himfeld, um den Schreck zu verdauen, und setzte sich auf die Kante des Sofas. Gerade wollte er sich wieder hinlegen, da fiel sein Blick auf eine weiße Plastiktüte, die aus der Tasche gerutscht war. Erst jetzt fiel ihm wieder ein, dass der Einsatzleiter ihm das Buch von Eva Blessing mitgegeben hatte. Himfeld griff danach und betrachtete das Cover. Das Buch wirkte wie in eine Siebzigerjahretapete eingeschlagen – ein florales Muster in Moosgrün, Orange und Gelb. Es erinnerte an einen aus der Bahn geratenen LSD-Trip. Erst bei genauerer Betrachtung fielen Himfeld die beliebig über das Muster verteilten Buchstaben auf, die verschnörkelt mit dem wenig geschmackvollen Hintergrund eine Symbiose eingingen. In der Mitte prangte in dicken schwarzen Lettern der Titel. Na, da hat sich wohl ein Althippie ausgetobt, dachte Himfeld nüchtern, doch aus irgendeinem Grund durchfuhr ihn ein Kribbeln.

Es vergingen einige Minuten, bis er laut zu sich sagte: »Was soll’s? Ich kann ja ohnehin noch nicht schlafen.« Er schüttelte sein Kissen auf, kuschelte sich unter die Decke und begann zu lesen.

Stell dir vor, du wärst das Dekoobst an einem Cocktailglas.

Wenn es nicht da wäre, würde es jeder vermissen, obgleich es für das eigentliche Vorhaben, den Verzehr einer Flüssigkeit, komplett nutzlos ist. Der Cocktail würde ohne dieses Obst vermutlich aus reiner Einbildungskraft heraus nicht einmal halb so gut schmecken, am Ende jedoch landet es nur achtlos im Aschenbecher.

»Na, das fängt ja schon gut an«, ätzte Himfeld und hob unbeeindruckt die Augenbrauen. Seine Vorliebe für Pseudo-Philosophen, die sich an Banalitäten aufhängten, hielt sich stark in Grenzen. Er war daher vollauf damit beschäftigt, dieses Buch von vornherein furchtbar zu finden. Ob ich mir wohl noch einen Bronchialtee mache?, überlegte er, als ein neues Hustengrollen seinen Anfall ankündigte. Er wog noch ab, ob die Aussicht auf einen Tee ihm das Bemühen des Aufstehens, die Kälte des Flurs und das Warten auf das Ploppen des Wasserkochers wirklich wert waren, als er auch schon wie von Zauberhand mit der Nase wieder im Buch versank.

Liebe macht blind. Ein viel zu oft belächelter Satz unter dem Deckmantel gespielter Allwissenheit. Und ebenso sinn- und wirkungslos wie ein Wasserkocher oder Pizzamesser – Erfindungen in einer Welt, die längst keine Erfindungen mehr braucht. Die schon alles erfunden hat und mit derartigem luxuriösem Schnickschnack aufwarten muss, um sich vermeintliche Unannehmlichkeiten zu ersparen. Vor der Erfindung des Pizzamessers hat es niemanden gestört, seine Pizza mit einem normalen Messer zu schneiden. Heute spart man lediglich die Prozedur mit Gabel und Messer ein, sprich: ein Besteckteil weniger, das abgewaschen werden muss. Genauso verhält es sich mit dem Satz »Liebe macht blind«. Erzählt man jemandem, wie bescheuert man sich seinem Auserwählten gegenüber verhalten hat, um seine Aufmerksamkeit zu erregen, oder was für einen Mist man in der Beziehung gebaut hat, um sich seiner Aufmerksamkeit zu vergewissern, spart das Gegenüber sich nachvollziehbare, aber gesellschaftlich verpönte Reaktionen wie: »Ach Mädchen, ich würde dir ja gern etwas anderes sagen, weil ich dich eigentlich ganz sympathisch finde, aber so peinlich, wie du dich aufgeführt hast, möchte ich am liebsten nie wieder mit dir gesehen werden. Sieh zu, dass du dich mal wieder einkriegst und wie ein halbwegs normaler Mensch aufführst, sonst will bald niemand mehr etwas mit dir zu tun haben.«

Nein, dies alles wird mittlerweile ersetzt durch ein mitleidiges, aber wohlwollendes Lächeln und den Satz »Tja, Liebe macht eben blind«, und spräche man laut aus, was einem wirklich durch den Kopf geht, so würde ein »Und nun lass uns das Thema wechseln, ich verfalle ja schon beim Zuhören ins Fremdschämen« folgen.

Und der Satz entspricht nicht einmal der Wahrheit. Liebe macht nicht blind. Liebe macht rotztütendämlich im Kopf. Der eine mag diese vorübergehende geistige Umnachtung mit Esoterik erklären, der andere mit der Chemie unseres Körpers, aber Fakt ist, dass man sich selbst zum Hampelmann macht. Niemand anderes ist schuld daran: Nicht die Chemie, nicht die Sterne und schon gar nicht der oder die Auserwählte. Für seine Taten ist jeder selbst verantwortlich, was wiederum auch den überaus charmanten Satz »Es gehören immer zwei dazu« relativiert. Schwachsinn! Wenn etwas in meinem Leben nicht so läuft, wie ich mir das wünsche, bin ich allein dafür verantwortlich. Ich bin dafür verantwortlich, in solchen Momenten entweder einen anderen Weg einzuschlagen, der mich zum gewünschten Ziel führt, oder mich mit dem Ist-Zustand zufriedenzugeben.

Wer immer diese Zeilen liest, wird nun sicherlich voll inbrünstiger Weisheit eine meiner weiteren Lieblingsfloskeln zitieren: »Wer so redet, hat noch nie richtig geliebt!«

Doch! Das habe ich. Mit jeder einzelnen Faser meines Körpers habe ich jeden einzelnen verschissenen Schmetterling in meinem von Gefühlen übersäuerten Magen gespürt, bis in meinem Kopf gähnende Leere herrschte. Wie unter einer Tauchglocke wandelte ich mit einem grenzdebilen Grinsen auf den Lippen durch mein rosarotes Dasein, unfähig, zu registrieren, dass ich die richtige Ausfahrt schon vorgestern verpasst hatte. Wäre mir zu jener Zeit eine gute Fee mit drei Wünschen im Gepäck begegnet, hätte ich ihr einen Tee angeboten und gefragt, was ich für sie tun kann.

An das schlaue Sprichwort »Je höher der Aufstieg, desto tiefer der Fall« erinnerte ich mich leider erst, als Wolke sieben mich ziemlich uncharmant von sich stieß. Und so musste ich, ganz ohne Hilfsmittel, dafür sorgen, mich in der vermeintlich so beneidenswerten himmlischen Höhe zu halten, als Routine, Alltag und nicht zuletzt Realität Einzug hielten. Somit war meine damals noch vorhandene Fantasie gefragt und ich lernte schnell, mir die Dinge so schönzureden, dass ich mich mit letzter Kraft in einer gewissen Höhe – meist nur knapp einen Zentimeter über dem staubigen Asphalt, aber immerhin nicht darauf – hielt. Stets in der immer wieder hinausgezögerten Gewissheit, dass der Höhenflug irgendwann wieder ganz von alleine einsetzen würde, machte ich allen etwas vor: meinen Freunden. Meinen Eltern. Meinen Kollegen. Den Nachbarn. Dem Kioskbesitzer an der Ecke. Fremden, die mich gar nicht kannten. Und nicht zu vergessen, mir selbst, die ich auch längst nicht mehr kannte.

Ja, ich habe geliebt. Und wenn ich etwas daraus gelernt habe, ist es, dass dieses Gefühl das letzte ist, das ich jemals wieder verspüren möchte in meinem Leben. Denn Schmetterlinge sind auch nur verkappte Raupen, Tauchglocken gehören ins Wasser und nicht an Land und rosarot war ohnehin nie meine Farbe. Um es auf den Punkt zu bringen: Das Problem war nicht, dass ich geliebt habe. Die rapide Absenkung meines IQ bestand vielmehr in dem innigen Wunsch, zurückgeliebt zu werden.

»Starker Tobak«, ätzte Himfeld und pfiff einmal kurz durch die Zähne. »Warum müsst ihr Frauen immer so melodramatisch sein? Da schleicht sich irgendwann die Gewohnheit in eure Beziehung und der Kerl himmelt euch nicht mehr so an wie am ersten Tag, und schon wähnt ihr den Weltuntergang herbei – warum nur?« Er verdrehte die Augen, schlug schwungvoll die Decke zurück, stand auf und horchte eine Minute lang durch die geöffnete Tür in den Flur. Alles war still.

Auf Zehenspitzen schlich er zu seinem Schreibtisch und öffnete die unterste Schublade. Ein innerer Jubel stieg in ihm auf, als er die dort vermutete Zigarettenschachtel erblickte. Vor etwa zwei Jahren hatte er Ilona zuliebe mit dem Rauchen aufgehört, aber zeitweise fiel ihm der Verzicht noch so schwer wie am ersten Tag. Sorgsam darauf bedacht, kein lautes Geräusch von sich zu geben, öffnete er das Fenster weit und setzte sich in die Decke eingewickelt auf das klirrend kalte Fensterbrett. Tief sog er die ersten Züge genussvoll ein, dann widmete er sich wieder seiner Lektüre.

Das Fachpersonal der Landesnervenklinik hat erst vor Kurzem begonnen, mich ins Hier und Jetzt zurückzuholen. Zumindest in das, was sie als das Hier und Jetzt bezeichnen. Für mich erschließt sich seit meinem Erwachen die gesamte Welt als eine einzige Lüge. Vielleicht nicht die Welt, wohl aber die Gesellschaft mit ihren selbst gewählten Moralvorstellungen, Regeln, Riten und Strukturen. Warum zum Beispiel sollte ich nachts schlafen, wenn ich doch tagsüber müde bin? Oder mittags essen, wenn ich erst nachmittags Hunger verspüre? Warum sollte ich den Tod meiden, wenn das Leben mich ängstigt?

Weil wir das immer so gemacht haben? Weil es sich so gehört?

Weil die Psychologen bezeugen, dass Menschen temporäre Rituale benötigen, um die Seele zu festigen? Oder Psychiater sich aus medizinischer Sicht für einen ausgewogenen Tag-/ Nachtrhythmus und feste Essenszeiten aussprechen? Ganz zu schweigen von den Therapeuten, unabhängig mit welchem Schwerpunkt: Verhalten, Gestalt oder Psychotherapeut. Mag ja sein, dass ein ritualisierter Tagesablauf einem Sicherheit schenkt und irgendwie in der Bahn hält. Aber ich halte es nun mal für schwachsinnig, sich ein Steak in die Pfanne zu schmeißen, nur, weil es zwölf Uhr mittags ist, wenn ich keinerlei Appetit verspüre. Und ebenso wenig möchte ich Energie in ein Leben verschwenden, in dem ich ebenso sinn- und nutzlos rumhänge wie in einer öffentlichen Toilette, wenn ich doch gar nicht muss. Noch vor wenigen Wochen hätte ich den Menschen um mich herum all diesen Schmus nur zu gerne abgekauft, ja sogar selbst danach gelebt.

Ich finde es richtig drollig, wie die Ärzte sich freuen und gegenseitig jovial auf die Schulter klopfen, weil sie sogenannte Fortschritte bei mir erkennen. Als Fortschritt bezeichnen sie meines Erachtens den Umstand, dass ich lebe und bislang keine Anstalten gemacht habe, an dieser Situation etwas zu ändern. Ich möchte diesen freundlichen Menschen die Illusion nicht rauben.

Es ist erschreckend, die Welt plötzlich aus meiner Sicht zu sehen, ich würde sie als »ungeschminkt« bezeichnen. Es löst in etwa den ungläubigen Schockzustand aus, den man erreicht, wenn man einen Prominenten ungestylt und ohne versierte Photoshop-Bearbeitung in einem Klatschmagazin sieht. Wobei hier zumindest immer eine kleine Portion Schadenfreude den Schock abmildert. Und apropos Freude: Mein Glück ist, dass ich meinen Humor nicht verloren habe, das macht es erträglich. Mittlerweile bin ich felsenfest davon überzeugt, dass man in seinem Leben alles verlieren darf: seine Zähne, seine Haare, seinen Verstand … aber geht der Humor flöten, ist Sense! Doch Humor hin oder her, trotzdem bin ich hier gezwungen, mich mit allem auseinanderzusetzen. Mit meiner Vergangenheit, meiner Beziehung, meinem Leben, mit mir. Und da ich nicht vorhatte, mein restliches Leben auf der Geschlossenen zu verbringen, gebe ich mir wirklich alle Mühe.

Dass ich lediglich im Zeitlupentempo mit der Arbeit an mir selbst und meiner Psyche vorankomme, liegt leider nicht an einem mangelnden Erinnerungsvermögen. Zu gerne würde ich behaupten können, vieles unwiderruflich verdrängt und im Unterbewusstsein verschlossen zu haben, doch bedauerlicherweise erinnere ich mich an alles. Nur zu gut! Es ist wirklich schwer, etwas zu vergessen, das man vergessen will.

Es ist eben nur so, dass ich all die Jahre die Geschehnisse in meinem Kopf so lange modifiziert habe, bis sie für mich erträglich wurden. Meine Erinnerungen im ungetrübten Originalzustand würde ich nicht verkraften. Sogar in meinem Tagebuch habe ich mir selbst einen vorgelogen. Die einzigen brauchbaren Hinweise auf die Realität und das, was ich wirklich fühlte, finde ich auf Hunderten kleiner Post-its und Schmierzettel. Eine blöde Angewohnheit, die mich schon mein ganzes Leben lang begleitet. Manchmal, an den unpassendsten Orten und zu den unpassendsten Zeiten, überkommt es mich, und ich greife zu Stift und Papier, um aufzuschreiben, was mir gerade durch den Kopf geht.

Zugegeben, meist ist das nicht besonders viel, eher so etwas wie assoziative Ergüsse, die vermutlich keinen wirklichen Sinn ergeben. Aber was auch immer diese Worte ergeben, sie waren stets ehrlich. Also sitze ich hier Tag für Tag stundenlang vor einem Riesenpappkarton voller Post-its und alter Collegeblocknotizen und versuche, mich zu erinnern, was ich wann und warum vor mich hingesäuselt habe, um hinter das Geheimnis meines Desasters zu kommen. Ich bräuchte dringend Struktur und Übersicht in diesem Papierwulst, traue mich jedoch nicht, den Karton an die Wand zu hängen, meine Gedanken darauf zu ordnen und somit für jedermann lesbar auszustellen. All das kam aus meinem Inneren und dort soll es auch bleiben.

Aufgrund meines kooperativen Verhaltens wurde mir ein Laptop gestattet, in den ich nun all meine Gedanken von den vielen kleinen Merkzetteln übertrage, um Ordnung in mein mentales Chaos zu bringen.

Meine Hoffnung: mich selbst wiederzufinden.

Meine Angst: mich selbst wiederzufinden.

Doch in erster Linie muss ich vermutlich beten, dass die Ärzte dies nie zu lesen bekommen. Vermutlich komme ich dann nie wieder hier raus …

Die Endzeit-Eva

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