Читать книгу Die Endzeit-Eva - Julia Schneider - Страница 8

Montag, 4. März 2019

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Schnupfen tropfte auf die Seite und weitete sich ein Stück über das Papier aus. Bäh, pfui. Angewidert wischte Himfeld die Feuchtigkeit weg, griff nach einem neuen Taschentuch und hielt es sich unter die Nase, während er weiterlas.

Man träumt sein ganzes Leben lang davon, dass eine Veränderung eintritt. Dass von einem Tag auf den anderen etwas passiert, das einem klarmacht, warum man überhaupt auf dieser Erde ist, wofür man geschaffen wurde, und das alles andere, was einem zuvor wichtig war, klein und unbedeutend erscheinen lässt.

Meist tut man nicht besonders viel dafür, dass es eintritt, man sucht nicht danach, weil man überzeugt davon ist, dass die wahre Bestimmung einen finden wird. Wonach sollte man auch suchen? In den meisten Fällen hat man ja gar keine genaue Vorstellung von dem, was es sein sollte. Viel eher glaubt man, dass es einen völlig unerwartet erwischt wie in den Hollywoodstreifen: Ein ganz normaler Mensch wird von einer Spinne gebissen und verwandelt sich in Spiderman, den Retter der Menschheit. Oder ein mysteriöser Fremder verkündet uns plötzlich am Busbahnhof, dass wir der einzige noch lebende Nachkomme von Jesus und Maria Magdalena sind und uns in großer Gefahr befinden, weil diverse Teufelsbruten uns nach dem Leben trachten. Oder aber die einfache Variante: Wir bekommen auf der Arbeit, die uns gerade zum Hals raushängt, einen Anruf und werden zu einer Testamentsverkündung eingeladen, bei der sich herausstellt, dass irgendein reicher Verwandter, den wir gar nicht richtig kennen, uns zum Alleinerben ernannt hat, weil er uns für einen Menschen reinen Herzens hält, der wir ja – zumindest in unserer Vorstellung – auch tatsächlich sind.

So oder ähnlich werden vermutlich viele stille Träume aussehen, während wir tagtäglich morgens aufstehen, uns im Halbschlaf die Zähne putzen, durch den Berufsverkehr quälen, acht Stunden lang unserem Vorgesetzten in den Hintern kriechen und unseren aufgestauten Frust an den Praktikanten auslassen. Nach Feierabend ärgern wir uns über die lange Schlange und die unfreundliche Kassiererin im Supermarkt, der Hunger quält uns, und wir stehen noch eine weitere Stunde im Stau, bevor wir abends müde und kaputt vorm Fernseher einschlafen mit dem guten Vorsatz, am nächsten Tag endlich mal ins Fitnessstudio zu gehen, für das wir schon seit einem Dreivierteljahr den Mitgliedsbeitrag zahlen, ohne es je von innen gesehen zu haben. Am Wochenende geht es dann weiter mit der Jagd nach einem Lebenspartner oder der Planung für den Jahresurlaub oder dem sechzigsten Geburtstag der Großtante, auf den eigentlich keiner – inklusive uns – Lust hat, weil sie ein spießiges, unerträgliches Etwas ist, das im Prinzip ihr Leben darauf ausgerichtet hat, die Nachbarn wegen falscher Mülltrennung anzuschwärzen und die Kennzeichen der Autos zu notieren, die vor ihrem Häuserblock falsch parken.

Aber zwischendrin, sei es während eines wichtigen Kundengesprächs oder in der Warteschleife irgendeiner Beschwerdestelle oder an einer roten Ampel, die nie darauf programmiert gewesen zu sein scheint, grün zu werden, da hängen wir unseren Sehnsüchten nach, der Angst, dass das nicht alles im Leben sein kann, dem unterschwellig oppositionellen Fanatismus, dass man für Höheres geschaffen wurde, während alle anderen Menschen nur wie ein unwissender, wuselnder Ameisenhaufen um uns herumzurennen scheinen, jeder mit seiner eigenen kleinen Aufgabe und ohne den Wunsch, eine neue zu bekommen, oder etwas an dieser Gleichförmigkeit der Hin-und-her-Rennerei ändern zu wollen.

Lässt man eine Ameise inmitten ihres emsigen Tuns auf einen Finger laufen, läuft sie einfach weiter, unfähig, ihr Ziel aus den Augen zu lassen, obwohl sie es auf unserer Hand ohnehin niemals erreichen würde. Und so skurril es auch klingen mag, ist es bei uns Menschen nicht anders. Wir steigen ins Auto, um zur Arbeit zu fahren. Da wir am Vortag jedoch aufgrund der hohen Spritpreise nicht getankt haben, bleiben wir plötzlich auf der Landstraße liegen. Keiner von uns würde in dem Moment denken: »Oh, wo bin ich denn hier gelandet? Was für ein atemberaubender Sonnenaufgang. Ich werd mich mal ein bisschen umsehen.« Nein, wir rufen den ADAC an oder einen Freund oder wir gehen mit unserem Kanister zur nächsten Tankstelle, um unser Ziel trotzdem möglichst schnell zu erreichen. Wir rennen! Immer weiter. Genauso wie die Ameisen. Und fast jeder von uns träumt davon, eines Tages in eine andere unbekannte Richtung zu rennen. Doch manchmal sollten Träume eben besser Träume bleiben.

Ich weiß, wovon ich spreche, denn ich habe meinen sicheren, schon längst durchgetrampelten Pfad verlassen, alles hinter mir gelassen und eine neue Richtung eingeschlagen. Aber ich weiß auch, wovon ich spreche, wenn ich sage, dass man, sobald endlich die langersehnte Veränderung eingetreten ist, sich in Kürze nichts sehnlicher wünscht, als in die Routine zurückzukehren. Routine in Form unseres eigenen persönlichen Ameisenhaufens mit einer Königin an der Spitze, die das strukturelle Denken für uns übernimmt. Man kann sich das Ganze vorstellen wie eine Urlaubsreise. Zunächst mögen die exotischen unbekannten Speisen vielleicht noch spannend sein, aber spätestens am dritten oder vierten Tag bleibt man an der deutschen Currywurst-Schnitzel-Pommes-Bude hängen, um ein Stück Heimat zu konsumieren.

So in etwa hat es sich bei mir ereignet, nur, dass meine Currywurst-Schnitzel-Pommes-Bude als Metapher für Sicherheit und Routine stand. Etwas, das mir zuvor mehr als verhasst war. Sicherheit und Routine waren für mich damals gleichbedeutend damit, lebendig begraben zu werden. Nun sind sie für mich der wichtigste Bestandteil meines Lebens. Sicherheit, Routine, Struktur und ein gesundes Maß an genussvoller Langeweile lassen mich aufblühen und ich bin stolz, mich als Ameise inmitten eines wuselnden Haufens zu sehen, die zwar nur mit einer einzigen winzigen Aufgabe betraut ist, diese aber nie aus den Augen verliert und somit einen kleinen, aber wichtigen Beitrag dazu leistet, dass das systemische Ganze funktioniert. Und ich brauche die Routine, um in der Gewissheit zu leben, mich jederzeit wieder dagegen entscheiden zu können.

Himfeld drückte seine Zigarette aus und zündete sich eine weitere an. »Na, das nenne ich doch mal eine ordentliche Persönlichkeitsstörung«, schoss es ihm durch den Kopf, nicht ohne zu registrieren, dass der mittlerweile überfüllte Aschenbecher ihm als eigentlichen Nichtraucher die gleiche Diagnose offerierte.

Er warf einen Blick auf das Datum des Textes, dann auf seine Notizen. »So so, das hast du also gen Ende deines Psychiatrieaufenthaltes geschrieben«, dachte er laut und zuckte die Achseln. »Und noch immer steckst du voll von Widersprüchen: Erst hasst du Rituale und Strukturen, nun sehnst du dich danach. Und zu Allmachtsfantasien scheinst du auch zu neigen. Siehst du dich insgeheim etwa als Superheldin oder als Erlöserin? Spiderman, Nachkomme von Jesus … tztztz … Ich schätze mal, die waren nicht so scharf auf Langeweile, Sicherheit und Routine wie du, Eva.«

Der Kälte trotzend, wickelte er sich enger in die Decke ein und las und las. Er verfolgte Blessings Meinung über das Rechtssystem, was ihrer Meinung nach bedeutende Lücken aufwies und oft eher die Täter als die Opfer schützte. Er quälte sich durch Tiraden über Hundeerziehung und blumige Thesen über das Dasein und die Intelligenz von Tieren allgemein, versuchte, Blessings Gedankengänge über nichtige Themen nachzuvollziehen, wie beispielsweise die Tatsache, dass es Size-Zero-Models gab und inzwischen auch Curvy-Models, nicht aber Models, die die gängigste Größe 38 trugen. Dann beschäftigte sich das Buch auch mit philosophisch anmutenden Exkursen über die Ironie des Schicksals oder die Einsamkeit im eigenen Kopf. Als Himfeld gerade zu den Ausführungen menschlichen Balzverhaltens gelangte, riss ihn ein unangenehmes, aber wohlvertrautes Geräusch aus seinen Gedanken. Hektisch sah er sich im Zimmer um, bis sein Blick auf den Wecker fiel. Er sprang auf, schaltete ihn aus und starrte ungläubig auf das Display. Es war 6.30 Uhr!

»Das kann ja wohl nicht wahr sein«, murmelte er und sah abwechselnd vom Wecker zum Buch und wieder zurück. So etwas war ihm noch nie passiert. Hatte er wirklich eine komplette Nacht durchgelesen? Und – was viel schlimmer war: Stand ihm gerade allen Ernstes ein Achtstundentag auf der Arbeit bevor, nachdem er nicht nur gesundheitlich angeschlagen war, sondern zudem nicht eine Minute geschlafen hatte?

»Verfluchte Sch…«, entfuhr es ihm aus tiefstem Herzen und er ließ sich auf die Schlafcouch zurückfallen. Ein tiefes Gähnen zwang ihn in die Senkrechte. Wenn er jetzt einschlief, würde er vermutlich bis zum Abend durchschlafen. Himfeld stand auf und ging zur Tür. Er sah sich noch einmal nach dem Buch um, das ihn die ganze Nacht über wachgehalten hatte und nun friedlich auf der Fensterbank ruhte.

»Noch mal passiert mir das nicht«, ließ er das Buch wissen, schüttelte den Kopf und sah zu, dass er unter die Dusche kam.

Mit einem Klemmbrett bewaffnet, bemühte sich Frau Krempel, mit Herrn Himfeld Schritt zu halten, während er durch den Flur des Reviers jagte und auf sein Büro zusteuerte.

»Um zehn Uhr Begleitung eines Mitarbeitergesprächs, um halb zwölf kurzes Briefing zu der Angelegenheit in Misburg und um Viertel nach eins ist Ihre Anwesenheit bei der Vernehmung von den Eheleuten Joscheck gewünscht …«, mit der freien Hand fing sie in letzter Sekunde seinen Mantel auf, den Himfeld sich einfach achtlos abstreifte, »… ach ja, und Einsatzleiter Fenske würde Sie gern noch in eigener Sache sprechen.«

»Wann?«, brummte er und sie überflog rasch ihre Notizen.

»Wusste er noch nicht. Er kommt, wenn er Zeit hat.«

Himfeld öffnete die Tür zu seinem Büro, drehte sich um und wartete, bis Frau Krempel ihm die restlichen Termine offenbart hatte. Als sie fertig war, schnäuzte er ausgiebig seine Nase und erkundigte sich grummelig: »Warum trinke ich noch keinen Kaffee?«

Fragend sah sie ihn an, bis sie verstand und hochfuhr. »Oh, natürlich. Sofort.« Umgehend setzte sie sich in Bewegung, aber kam rasch noch einmal zurück, um die Tür hinter sich zuzuziehen. Er nutzte die Gelegenheit und rief ihr noch »Und nicht wieder den Zucker vergessen« zu.

Selbst durch die geschlossene Tür konnte er das quietschende Geräusch von Krempels Sneakern hören, als sie sich langsam entfernte. Er riss die Tür auf, streckte den Kopf in den Flur und setzte noch einen drauf: »Und bitte heben Sie die Füße beim Gehen an.«

Oder kaufen Sie sich Pumps, das hilft jeder Frau gegen das Schlurfen, dachte er noch gehässig, während er sich stöhnend auf seinem Stuhl niederließ und mit unbewegter Miene den riesigen Stapel Akten, der sich auf seinem Schreibtisch türmte, betrachtete. Er schluckte drei Aspirin und eine Handvoll Vitaminergänzungspräparate, als es an der Tür klopfte.

Statt des erhofften Kaffees erschien Fenskes Kopf im Türrahmen. »Passt es gerade?« Himfeld bedeutete seinem langjährigen Freund einzutreten. Auch wenn sie rein beruflich betrachtet nur wenige Berührungspunkte hatten, sahen sie sich regelmäßig und standen im regen Austausch über ihre jeweiligen Fälle. Genau genommen trafen sie dienstlich nur bei der Deeskalation von Geiselnahmen oder Überfällen aufeinander, wenn Himfeld bei Verhandlungen mit dem jeweiligen Straftäter hinzugezogen wurde – und natürlich bei der Verhinderung von Selbstmorden. Fenske musste immer an vorderster Front agieren, weil er mehr Muskeln als Hirn hatte, wie Himfeld stets zu scherzen pflegte, obwohl er tief in seinem Inneren wusste, dass Fenske einiges auf dem Kasten hatte. Das wusste er nicht zuletzt von den überraschend intelligenten Strategien, die Fenske bei Spieleabenden an den Tag legte.

Fenske ließ sich auf einem Stuhl nieder und betrachtete den Polizeipsychologen ausgiebig. »Du siehst beschissen aus, Hein. Letzte Nacht auch nicht viel geschlafen, was?«

Himfeld antwortete mit einem ohrenbetäubenden Niesen. Fenske nickte verständig und fuhr sich mit der Hand mehrfach über den Kopf, als könne er immer noch nicht glauben, was passiert war. »Was für eine Geschichte! Hast du schon Zeitung gelesen?«

Grimmiges Nicken.

Fenske tat es ihm gleich. »Was zum Teufel ist da oben vor sich gegangen?«

»Ich habe nicht den blassesten Schimmer. Und das wird sich auch kaum ändern, wenn unsere Rechtsabteilung sich weiterhin derart stümperhaft anstellt, und der Psychiatrie keine stichhaltige Grundlage liefert, die mich berechtigt, mit Frau Blessing zu reden. Gibt es da schon was Neues?«

Fenske zuckte die Achseln. »Rein rechtlich betrachtet steht Robeski auf der sicheren Seite. Seine Klinik, seine Patientin. Im Gegensatz zu uns ist er der festen Überzeugung, dass Blessing nichts mit dem Tod des Mannes zu tun hat, also gibt es auch keinen Grund, sie zu befragen. Für ihn war es ein Selbstmord. Und nur, weil wir vermuten, dass Blessing ihn in den Tod getrieben hat, wird es nicht zu einer Anklage kommen. Das reicht derzeit nicht einmal für eine Anstiftung zum Selbstmord.«

Ärgerlich schlug Himfeld mit der geballten Faust auf den Tisch, erhob sich und sah aus dem Fenster. »Verdammt! Ich würde jeden Eid schwören, dass dieser Mann niemals gesprungen wäre, wenn er nicht mit Frau Blessing gesprochen hätte. Er hätte vermutlich nicht mal daran gedacht. Und ich bin sicher, die Öffentlichkeit sieht das genauso. Die verlangen nach Antworten und wir stehen da wie Deppen, weil Professor von und zu uns nicht mit der Hauptzeugin sprechen lässt. Habt ihr schon etwas über den Typen rausfinden können, der gesprungen ist?«

Fenske hielt eine Akte hoch. Erst jetzt registrierte Him-feld, dass er sie schon die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte. »Ein asozialer Niemand. Ist schon ein paarmal auffällig geworden wegen sexueller Belästigung und saß einmal in U-Haft wegen Verführung Minderjähriger. Ist aber nie zu einem Prozess gekommen, die Klage wurde noch vor Prozessbeginn zurückgezogen. Diebstahl steht auch auf der Liste.« Fenske blätterte kurz in der Akte und sah Himfeld anschließend vielsagend an. »Ein Sechserträger Oettinger. Der Kerl war so besoffen, dass er mit dem Ding einfach aus der Tankstelle rausspaziert ist, ohne zu bezahlen.«

»Toller Typ«, bemerkte Himfeld herablassend.

»Nicht unbedingt ein Verlust für die Menschheit«, entgegnete Fenske ebenso trocken.

Eine Zeit lang saßen sie sich schweigend gegenüber. Himfeld mit offenem Mund, da er inzwischen keine Luft mehr durch die Nase bekam, und einer Frage im Kopf, die ihm auf der Seele brannte. Sein Stolz jedoch verbot, sie laut auszusprechen. Er griff nach seinen Taschentüchern und war selbst überrascht, als er die nachfolgenden Worte aus seinem eigenen Mund vernahm: »Sag mal, du weißt nicht zufällig … also, ich muss gestehen, dass ich den Fall Blessing vor zwei Jahren nicht wirklich in den Medien verfolgt habe …«

Fenske winkte ab. »Geht mir genauso, Hein. Hab es auch nur am Rande verfolgt. So richtig kam man ja nicht drum herum.«

Die Aussage des Einsatzleiters verschaffte Himfeld wenig Erleichterung. Für ihn als Top-Psychologen, der in den wichtigsten Polizeikreisen Rang und Namen pflegte, war es mehr als nur ein Frevel, dass er dem spektakulärsten Selbstmordversuch (so viel hatte er zumindest mitbekommen, ohne sich jedoch um Details zu scheren) der vergangenen Jahre kaum Beachtung geschenkt hatte. »Um es auf den Punkt zu bringen: Ich habe lediglich mitbekommen, dass irgendeine liebeskranke junge Frau wieder mal Aufmerksamkeit durch einen inszenierten Freitod erhaschen wollte. Sie muss ein derartiges Aufhebens darum gemacht haben, dass die Medien davon erfuhren und rein zufällig«, Himfeld formte mit den Fingern hämisch Anführungszeichen, »auch noch Aufzeichnungen von ihr gefunden wurden, die umgehend veröffentlicht wurden und einen unerklärlichen Hype ausgelöst haben – vor allem bei debilen Jugendlichen. Ehrlich gesagt bin ich immer davon ausgegangen, dass Frau Blessing auf diese Weise einfach nur Publicity für ihr Buch machen wollte, was ihr ja letztlich auch gelungen ist.«

Nachdenklich sah Fenske ihn an. Sein Blick machte deutlich, dass er gelinde gesagt unangenehm überrascht war ob Himfelds Ahnungslosigkeit. Ganz offensichtlich hatte er dem Psychologen, trotz des bekundeten Desinteresses, deutlich mehr Wissen zugeschrieben. Vorsichtig seine Wortwahl überdenkend, räusperte Fenske sich: »Na ja, Publicity hin oder her … auf mich wirkte es nie so, als hätte sie sich diesen Rummel um ihre Person oder ihr Buch gewünscht. Nicht ein einziges Mal hat sie ein Interview gegeben, sondern sich immer sehr bedeckt gehalten. Abgesehen davon: Ich weiß, heutzutage gibt es viele Verrückte, die für zehn Minuten im Fernsehen ihre Familie verkaufen würden, aber ich denke, es gehört schon etwas mehr dazu, um sich so etwas anzutun.«

Himfeld fühlte sich unwohl, doch seine Neugierde war mittlerweile zu groß. »Um sich was anzutun? Wie genau hat sie denn versucht, aus dem Leben zu scheiden?«

Die Stirn in Falten gelegt, lehnte Fenske sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Du hast wirklich gar nichts von dem Fall mitbekommen, oder?« Nach einem Blick in Himfelds Gesicht entschied er sich, ihn nicht weiter zappeln zu lassen. »Sie hat eine Packung Schlaftabletten mit Wodka runtergespült …«

»Ha!«, unterbrach Himfeld ihn nahezu triumphierend. »Also doch die Hilfeschreinummer, wie sie im Buche steht.«

Fenske beugte sich vor und fuhr ungeachtet des Einwands fort: »Dann hat sie noch einen Streifen Paracetamol hinterhergeworfen und sich die Pulsadern aufgeschnitten. Als sie sich zu guter Letzt vom Balkon stürzen wollte, konnte ein Freund sie noch in letzter Sekunde davon abhalten.«

Mit weichen Knien ließ Himfeld die Worte auf sich wirken, während Fenske sich wieder zurücklehnte. »Sie hat sich regelrecht selbst weggemetzelt, Hein. Vor der Einnahme der Tabletten hat sie sich mit einer Rasierklinge ›Keep on rockin’ in the free world‹ in den Arm geritzt. Schien wie ein kurzes Statement anstelle eines Abschiedsbriefes.«

»Kein Abschiedsbrief?«, versicherte sich Himfeld nachdrücklich.

Der Einsatzleiter nickte. »Ganz ehrlich: Wenn überhaupt jemals ein Selbstmörder sein Leben ernsthaft beenden wollte, dann diese Frau. Sie hat nichts unversucht gelassen …«

»… lebt aber noch immer«, ergänzte Himfeld nachdenklich.

»So ist es. Und das erklärt auch die unzähligen Anhänger ihres Buches. Jeder hat gesehen, dass Eva Blessing es mehr als ernst meinte, und dir als Psychologen muss ich nicht erklären, dass die Menschen einem erst dann aufmerksam zuhören, wenn es ernsthaft um das Thema Tod geht. Und da sie wirklich alles gegeben hat, um sich umzubringen, und sich trotzdem bester Gesundheit erfreut, scheint sie auf viele unsterblich zu wirken. Erschwerend kommt hinzu, dass viele sich in den Worten ihres Buches wiederfinden und … tja, keine Ahnung … sich wohl irgendwie verstanden fühlen. Scheinbar hat sie einer halben Generation aus der Seele gesprochen. Ich habe in dem Buch nur mal ein bisschen geblättert. Was soll ich sagen? Ist nicht mein Jahrgang, wir sind mit anderen Werten und Problemen aufgewachsen, ich kann mich in diese Generation nicht mehr hineindenken. Meine Frau hat das Buch komplett gelesen. Ihr ging es ähnlich wie mir. Sie konnte nicht gerade behaupten, darin lebensverändernde Weisheiten gefunden zu haben, aber es hat sie zumindest beschäftigt. Das Buch steht noch immer in unserem Regal, obwohl Martina für gewöhnlich nahezu alle gelesenen Bücher in die Bibliothek gibt oder sonstwohin spendet. Ich weiß nicht, ob du schon mal reingeschaut hast …«

»Bin dabei«, fuhr Himfeld ihm barsch dazwischen und fragte sich, warum er auf einmal das dringende Bedürfnis verspürte, Fenske loszuwerden.

Es klopfte an der Tür und Frau Krempel erschien mit dem Kaffee. Ein Blick auf Fenske ließ sie innehalten. »Oh, Herr Fenske. Kann ich Ihnen auch eine Tasse bringen?«

»Nein«, antwortete Himfeld blitzschnell anstelle des Einsatzleiters und deutete auf den Berg Akten auf seinem Schreibtisch. »Du siehst ja, Frank, ich hab zu tun.«

Fenske verstand den Wink mit dem Zaunpfahl, erhob sich und klopfte zum Abschied auf den Tisch. »Morgen Abend Doppelkopf bei mir?«

Himfeld nickte und massierte sich dann umgehend die Schläfen, um den aufkeimenden Kopfschmerz in Schach zu halten. »Und bis dahin ist unserer Rechtsabteilung hoffentlich eine Begründung eingefallen, die mich zur Befragung von Frau Blessing berechtigt.«

Irrsinn

Es überrascht mich nicht, dass ehemalige Mitschüler beim Klassentreffen nach zwanzig Jahren gewachsen sind. Was ich hochwerfe, kommt wieder runter. Essen verschwindet unter Schimmelkulturen, wenn man es zu lange stehen lässt. Auch der als heilig geltende Papst stirbt irgendwann. Wenn wir Bäume abholzen, bleibt uns die Luft weg. Es liegt in der Natur des Menschen zu lügen. Vielleicht ist die Lüge wichtiger als die Erfindung des Feuers, wahrscheinlich jedoch nicht.

Wer nicht schwimmen kann, geht unter. Schulen lehren. Die Lehre als Geißel der Menschheit. Hätte ich nicht diese Metapher gewählt, wär’s eine andere gewesen. Gingen mir die Worte aus, gäbe es diverse Möglichkeiten, mich auszudrücken. Wäre dieser Text gestern entstanden, hätte er einen anderen Inhalt. Der Winter ist kälter als der Sommer. Auf einen Sonntag folgt immer ein Montag. Alles Fakt. Wer nicht duscht, bleibt dreckig. Wer sich nicht die Hände wäscht, überträgt Keime. Ungewaschene Haare werden fettig. Nur den Namen kann man nicht reinwaschen. Sprache als Schlüssel zur Gesellschaft. Doch Sprache verwirrt. Hätte ich etwas Besseres zu tun, würde ich jetzt nicht schreiben. In diesem Augenblick stirbt jemand. Klingelt das Telefon, hat man die Wahl, mit jemandem zu sprechen oder auch nicht. Liebe kann man nicht im Internet runterladen. Vorgestern war meine Stimmung besser. Vorgestern war gestern nichts anderes als morgen. Und morgen wird es vorvorgestern sein.

Kann ich nicht ändern.

Wer immer das gerade liest, macht in diesem Moment nicht das, was er am liebsten tun würde.

Niemand ist in irgendetwas so gut, dass es nicht ein anderer besser kann. Unsere Seelen bluten langsam aus, die Schreie sterben schnell. Ich fürchte, unsere Kultur zu verlieren. Der Mensch soll die intelligenteste Spezies des Planeten Erde sein, aber benötigt Statussymbole, um etwas zu demonstrieren und etwas darzustellen? Planktontierchen, die wir Menschen als niedere Kreaturen bezeichnen, brauchen das nicht. Gewitter reinigen die Luft. Ja. Nein. Vielleicht. Und. Weil. Wenn.

Wintergärten sind sinnlos. Tischläufer auch.

Es gibt keine Worte, das auszudrücken, was ich wirklich meine. Merkt man vielleicht. Hätte ich vorhin nicht einen Umweg fahren müssen, würde ich in diesem Moment vielleicht etwas anderes denken. Darüber schon mal nachgedacht? Denkt überhaupt irgendjemand mit?

Ich fühle mich einsam. Du fühlst dich einsam. Er, sie, es fühlt sich einsam. Wir fühlen uns einsam. Ihr fühlt euch einsam. Sie fühlen sich einsam. Weil wir es sind. Nicht besonders einfühlsam.

Mittwochs und freitags finde ich meine Texte gut. Dienstags, donnerstags und samstags beschissen. Sonntags habe ich frei und montags keine Motivation für eine eigene Meinung.

Meine Gedanken verkümmern mangels Input. Zu viele Wiederholungen im Fernsehen. Macht durch den Verzicht an Interpretationen.

Kaltes Salzwasser ist schwerer als warmes Süßwasser. Eine Stunde hat sechzig Minuten. Ein Jahr zwölf Monate. Ein Tag zu wenig Stunden. Japan ist eine Insel, die Haut ein Organ und Gefühle sind nichts weiter als eine chemische Reaktion.

Aber es würde mich wirklich interessieren, wie es mir eigentlich geht.

Verärgert über sich selbst klappte Himfeld das Buch zu und warf es auf den Tisch.

»Das kann doch wohl nicht wahr sein«, brummte er zum wiederholten Male an diesem Tag, nachdem er auf den Aktenberg gelinst hatte, der seit Fenskes Verschwinden noch genauso unberührt und ungelesen dalag wie zuvor.

Kaum dass der Einsatzleiter samt Frau Krempel Himfelds Büro verlassen hatte, steckte der Polizeipsychologe bereits mit der Nase wieder in dem Buch, obgleich er sich eigentlich dringend auf das anstehende Mitarbeitergespräch hätte vorbereiten müssen.

Nachdenklich ließ er nun seinen Blick vom Buch zum Aktenberg und wieder zurück gleiten. »Ich vernachlässige meine Arbeit wegen … wegen …«, erstmals besah er sich den Titel des Buches, welcher ihm ein innerliches Grinsen bescherte, »Sprechdurchfall

Gedehnt verächtlich zog er das Wort wie Kaugummi, bevor er das Buch umdrehte und das kleine Bild der Autorin betrachtete. Ein Blick in ihre grauen Augen versetzte ihn erneut in die Schrecksekunden, die sich am Hochhaus abgespielt hatten. Minutenlang ließ er Blessings unbewegtes Porträt auf sich wirken. Abgesehen von den Augen war nichts Herausragendes an ihr. Mit ihren braunen, mittellangen Haaren, einer Standardnase und weder vollen noch besonders schmalen Lippen würde er sie sogar als unscheinbar bezeichnen. Kaum Wiedererkennungswert und nicht unbedingt das, was Himfeld als sein Beuteschema bezeichnen würde. Generell war blond in seinen Augen ein Muss und wenn die Augen schon nicht blau waren, dann doch zumindest grün. Aber irgendetwas war da an diesem Bild …

»Was stimmt mit dir nicht?«, murmelte er leise zu dem kleinen Foto und verfluchte sich diesmal nicht, als er seinem Bedürfnis nachgab und das Buch wieder aufklappte.

Manchmal frage ich mich, ob ich an dem letzten Schmerz derart ehrgeizig festhalte, um die Leere zu füllen oder die guten Erinnerungen einzuzementieren. Einer von Millionen Gedanken, der auf seinem Weg verhungert. Die Augenblicke verschwinden, und je mehr ich lerne, desto mehr wünschte ich, ich hätte nie gefragt, was ich fürs Leben wissen muss.

Doch das Leben ist keine Hure – es macht auch dann noch weiter, wenn es längst nicht mehr bezahlt wird.

Wir denken, auch wenn wir keine exogenen Anregungen erhalten. Wir spüren uns, selbst wenn wir keine Berührungen konsumieren. Wir können sterben, auch wenn wir nie richtig gelebt haben. Wir leben von den Reaktionen anderer wie ein Auto, das aufgetankt werden muss, um zu fahren. Wie ein Blinder seinen Stock begehrt, tasten wir uns an den Quittungen, die wir für unser Verhalten ernten, vorwärts; hangeln uns von Wort zu Wort, von Blick zu Blick, halten uns kurz an Komplimenten fest, rasten auf Inseln vermeintlicher Erfolge, erfahren Hindernisse durch Nichtachtung, stagnieren an Kritik.

Es fehlt nicht an Zeit. Zeit existiert nicht. Zeit ist eine Erfindung der Menschheit. Genauso wie Religionen, Geld und die Treue. Woran also soll man glauben? Das Recht des Stärkeren? Den Selbsterhaltungstrieb? Ernüchternd, aber wahr. So läuft es seit Jahrmillionen. Warum sollte die Natur bei der Spezies Mensch eine Ausnahme machen?

Das Einzige, woran man zweifellos festhalten kann, ist der Glaube an sich selbst. Nur über sich selbst hat man die volle Kontrolle. Nur sich selbst kann man überwachen und steuern. So, wie man auch nur sich selbst für alles verantwortlich machen kann.

Somit komme ich zu dem Schluss, dass du, zutiefst in deiner Selbstgerechtigkeit begraben, nie etwas anderes warst als das intelligible Odium meiner Allüren.

Unhöflich, wie das Leben selbst, verschwinde ich nun in mir selbst. Weil ich es kann!

Die Endzeit-Eva

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