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Dienstag, 5. März 2019
ОглавлениеNicht mal der Kreis, in dem ich mich drehe, bewegt sich noch. Um mich herum nur noch blinde und taube Standfiguren aus Wachs. Gedämpfte Worte verzerren ihre Gesten wie hinter Milchglas. Ich wünsche mich zurück in die oberflächliche Welt der Floskeln. Zumindest manchmal. Heute ist so ein Tag.
Vorgestern schienen meine Wege noch wie ein bekanntes Labyrinth, in dem sich der Ausgang mit jedem Schritt darauf zu entfernte. Doch solange ich schweige, wird mir zugehört. Ein echtes Phänomen der modernen Gesellschaft. Sobald ich beginne zu reden, schlägt mir nur mühsam verborgene Langeweile entgegen. Ich spüre es an den Blicken, die im Raum umherirren, dem Räuspern, das meine Sprechgeschwindigkeit unterschwellig beschleunigen soll, sowie dem steten Sitzpositionswechsel meines Gegenübers. Nur wenn ich aufhöre zu reden, erwachen sie wieder aus ihrer Starre und wollen mehr wissen.
Dann jedoch möchte ich nur noch lethargisch rebellierend alte Wunden aufkratzen, um auf Leben zu stoßen und letztlich doch wieder nur in dem langen Moment zu verharren, der sich mein Leben nennt.
Himfeld leerte seinen restlichen Cappuccino mit einem großen Schluck und stellte die leere Tasse auf den Tisch. Im Café war es heute voller als üblich und er war angesichts des Lärms ein wenig unkonzentriert. Nachdenklich betrachtete er die letzten Worte aus Blessings Buch.
Den Milchbart an seiner Oberlippe nicht bemerkend, fragte er sich, ob er diesen Worten ebenso viel Beachtung beigemessen hätte, wenn Blessing sie nicht kurz vor ihrem ersten Suizidversuch geschrieben hätte. Letzte Worte sagten eine Menge über den jeweiligen Menschen aus. Fast genauso viel wie der Mageninhalt oder das Blutbild eines Verstorbenen während einer Obduktion: Man kann tausendmal abstreiten, die Tafel Schokolade oder das Riesenstück Sahnetorte gegessen zu haben, doch der Körper lügt nicht. Ähnlich verhält es sich bei den letzten Worten eines Selbstmörders. Ist der Abschiedsbrief sehr langatmig, unterschwellig vorwurfsvoll und steckt voller Erklärungen und vor allem Schuldzuweisungen, wird zumeist ziemlich schnell deutlich, dass der Selbstmordversuch von vornherein nur halbernst gemeint war. Eine kurze Erklärung hingegen und die üblichen Entschuldigungsfloskeln sind schon eine ganz andere Nummer, hauptsächlich anzutreffen bei Frauen. Männer hinterlassen meist gar nichts, da sie sich für den Grund ihres Freitods derart schämen, dass sie auch die letzte Möglichkeit noch ergreifen, um dieses Geheimnis zu verschleiern, selbst über den Tod hinaus.
So einen surreal anmutenden Text wie den von Eva Blessing findet man eher selten vor. Himfelds Auffassung nach deutete er daraufhin, dass sie wirklich vollends mit allem abgeschlossen hatte und nicht einmal mehr das Bedürfnis verspürte, jemanden an ihren Begründungen teilhaben zu lassen. Vielleicht dachte sie auch, es würde ohnehin keiner verstehen. Ihre letzten Worte schienen gar nicht für die Nachwelt bestimmt zu sein, sondern stellten vielmehr einen letzten gedanklichen Erguss dar, den sie loswerden musste. Offensichtlich hatte sie ja bereits ihr gesamtes Leben lang ständig alles aufgeschrieben, was ihr gerade durch den Kopf ging. Himfeld schnäuzte sich die Nase und warf einen Blick auf seine Uhr. Die Mittagspause war fast vorbei und er musste noch seine Unterlagen für einen Vortrag zusammensuchen. Zum ersten Mal seit Langem hatte er keine Lust, seiner Aufgabe als Gastredner nachzukommen. Die Studenten nervten ihn zwar, aber eigentlich gefiel er sich in der Rolle des überlegenen Dozenten und renommierten Psychologen.
Eilig notierte er sich einige Anmerkungen zu Blessings letztem Text auf seinem Notizblock, als sich plötzlich ein langes, wohlgeformtes Paar Beine, umhüllt von eng anliegenden Jeans, in sein unmittelbares Blickfeld schoben. Er sah auf und – umgehend war die Arbeit vergessen. »Jasmin«, begrüßte er die junge, ihm als Krokodillederstiefel bekannte Studentin bemüht lässig.
Kurzzeitig erstarb ihr verführerisches Lächeln, als sie ihn korrigierte: »Jessica.«
Verdammt! »Natürlich«, räusperte er sich und deutete auf den Stuhl gegenüber, während er seinen Papierkram zur Seite schob, »Jessica. Das ist ja eine schöne Überraschung. Setz dich.« Früher als sonst wechselte er zum Du. Was machte es für einen Sinn, die Farce von gespielter Höflichkeit und professioneller Distanz aufrechtzuerhalten?
Jessicas Lächeln erhielt neues Leben, als sie sich einen ewig wirkenden Moment lang die Jacke von den Schultern streifte und seiner Aufforderung nachkam. Ihr blonder langer Zopf glänzte seidig, die Lippen hatte sie heute mit einem zartrosa Lipgloss gekonnt in Szene gesetzt. Während sie ihre Beine überschlug, bedachte sie den Polizeipsychologen eines Blickes, der keinen Zweifel daran ließ, dass sie nicht zufällig hier aufgetaucht war.
»Du wolltest zu mir?« Er ließ es wie eine Frage klingen.
Die dichten Wimpern gesenkt, blickte sie theatralisch auf den Tisch, dann folgte ein gekonnter Augenaufschlag. Sie nickte. »Irina sagte mir, dass ich Sie mittags hier finden würde.«
Irina … ein wohliger Schauer überkam Himfeld, als er an die bildhübsche Irina dachte. Ja, er erinnerte sich. Und Irina kannte nicht nur sein Stammcafé, in dem er für gewöhnlich seine Mittagspause verbrachte. Sie hatten sich durchaus etwas intensiver kennengelernt. Blieb nur noch zu hoffen, dass Jessica aus dem gleichen Holz geschnitzt war.
Lässig fuhr er sich mit der Hand durch die Haare und beugte sich ein wenig vor. »Was kann ich für dich tun?«
Ihre langen, feingliedrigen Finger tänzelten auf ihrer Tasche. »Ich brauche dringend Hilfe bei meiner Hausarbeit und … wie soll ich es sagen …« Ihre Blicke waren wesentlich abgeklärter als ihre schüchtern wirkenden Worte. Himfeld gefiel diese Mischung aus Verlegen- und Verschlagenheit und musste sich ein schiefes Grinsen verkneifen. Wie zufällig fuhren Jessicas Finger an ihrem Hals entlang. »Irina meinte, Sie könnten mir vielleicht helfen.«
Volltreffer. Himfeld beugte sich ein wenig weiter vor. Noch ein bisschen weiter und er würde auf dem Tisch liegen. »Da lässt sich sicher etwas machen. Meine Sprechstundentermine sind zurzeit allerdings nahezu ausgebucht.« Aufgesetzt verzweifelt sah sie ihn an in Erwartung dessen, was er ihr auch gleich anbot. »Wenn ich überhaupt noch etwas Zeit finde, dann vorwiegend abends.« Er schrieb seine Handynummer auf die Rückseite seiner Visitenkarte, lehnte sich zurück und streckte sie ihr nur so weit entgegen, dass sie zu ihm kommen musste. »Am besten rufst du mich an.«
Jessica stand auf und trat direkt vor ihn. Noch einen Millimeter weiter und sie wäre auf seinem Schoß gelandet. Er spürte, wie ihr Knie leicht die Innenseite seines Oberschenkels streifte. Etwas tiefer als nötig beugte sie sich zu ihm herunter, griff nach der Visitenkarte und fuhr unerwartet mit ihrem Daumen über seine Oberlippe. Irritiert sah er sie an.
»Milchschaum«, erklärte sie und leckte die Reste von ihrem Finger, bevor sie ein zartes Wort des Dankes hauchte und das Café verließ.
Robeski knallte das Telefon auf den Tisch, um es gleich darauf wieder aufzunehmen und die Stationsnummer zu wählen.
»Station sieben, Christina Lehndorf«, flötete ihm eine junge Stimme eine Spur zu enthusiastisch entgegen.
»Robeski hier. Ich wollte wissen, ob Sie ebenfalls ständig Anrufe von der Presse erhalten.«
»Ja, hier ist die Hölle los«, entgegnete die Stationsschwester aufgeregt. »Sogar das Fernsehen … Wir kriegen ständig Anfragen für Interviews und …«
Mit zusammengekniffenen Augen massierte Robeski sich die Stirn. »Das hatte ich befürchtet. Frau … äh …«
»Lehndorf«, half ihm die junge Frau und kicherte leise. »Aber sagen Sie gern Chrissi, Herr Professor Robeski.«
»Was ich sagen wollte, Frau Lehndorf«, entgegnete er ihr knapp und hoffte, sie hörte die unmissverständliche Betonung in seinen Worten. »Es ist äußerst wichtig, dass keiner von Ihnen mit der Presse spricht. Bitte teilen Sie das auch Ihren Kollegen mit. Das ist eine dienstliche Anweisung. Sie unterliegen alle der Schweigepflicht und daran möchte ich Sie noch einmal erinnern. Eine Missachtung der Schweigepflicht wird Konsequenzen haben.«
Kurze Stille. »Ähm, ja, natürlich, Herr Professor Robeski.«
»Kann ich mich darauf verlassen?«
Erneute Stille.
Er musste wohl deutlicher werden. »Ich möchte keinen von Ihnen im Fernsehen sehen. Zumindest nicht, was den Fall Blessing betrifft. Für die Zeitung und die«, er seufzte tief auf, diese Worte lösten noch immer ein tiefes Unbehagen in ihm aus, »sozialen Medien gilt natürlich das Gleiche.«
Ein weiteres leises Kichern. »Okay, dann versuche ich es doch eher bei einer Castingshow.«
Robeski befand sich irgendwo zwischen einem Augenrollen und einem Schmunzeln. »Da wünsche ich Ihnen viel Erfolg, Frau Lehndorf. Hauptsache, der Name Blessing fällt nicht außerhalb dieses Hauses.«
»Prima, Professor. Das kriegen wir hin.«
Robeski beendete das Gespräch, lehnte sich in seinem Bürostuhl zurück, der ein wenig zu wuchtig für seine hagere Gestalt wirkte, und gönnte sich einen Moment der Ruhe. Kurz darauf schoss er wieder nach vorne und schaltete sein Telefon stumm.
Erst jetzt fühlte er seinen Puls langsam runterfahren. Robeski stand auf, schritt zum Fenster und verschränkte die Arme hinter dem Rücken, während er vereinzelte Schneeflocken beobachtete, die von dem kalten Wind hin und her getrieben wurden. Nur noch drei Monate trennten ihn von seinem wohlverdienten Ruhestand. Seine Schreibtischschublade war bereits prall gefüllt mit Prospekten von Häusern in Österreich, von denen er eines käuflich zu erstehen gedachte, um dort seinen Lebensabend friedlich und fernab jeglicher Geisteserkrankungen zu verbringen.
Den Großteil seiner alltäglichen Pflichten in der Klinik hatte er schon vor Wochen an junge, noch überengagierte Berufseinsteiger abgegeben. Die von ihnen vorgeschlagenen Behandlungsmöglichkeiten musste Robeski nur noch absegnen. Da das Ego junger Ärzte allerdings zum Höhenflug tendierte, zogen sie Robeski ansonsten so gut wie gar nicht mehr zurate, wollten sie doch dringend unter Beweis stellen, dass sie ihre Fälle sehr wohl im Griff hatten. Robeski kam das sehr entgegen, er war schließlich mit der Auswahl eines geeigneten Hauses beschäftigt. Und wenn ihn die Tatkraft dann doch noch mal überkam, war sein Wort ohnehin das einzige, das zählte. Niemand zweifelte ihn an, jeder war bedacht auf sein Wohlwollen. Das war wohl auch das Mindeste nach fünfundvierzig Jahren Berufserfahrung ohne auch nur die geringsten Mängel. Robeski war sich seines berechtigten Ansehens durchaus bewusst und genoss seine letzten Monate in der Klinik. Stress war ihm fremd geworden, die Tage gestalteten sich nach seinen Vorstellungen. Bis auf den vorgestrigen.
Warum, ertappte er sich selbst bei der Frage, musste mir das Schicksal ausgerechnet jetzt diese Psycholotte ins Haus schicken?
Damals, nach Eva Blessings erstem Selbstmordversuch, hatte er sich einen derartigen Fall noch gewünscht. Eine letzte Herausforderung einer durchaus interessanten oder zumindest nicht alltäglichen Persönlichkeit. Obgleich Frau Blessing damals nicht in den Zuständigkeitsbereich der Landesnervenklinik Langenhagen fiel, hatte er den Fall in den Medien verfolgt und war tatsächlich einer der Ersten, die ihr Buch gelesen hatten. Aber nun brachte das Ganze ihm nichts als eine Menge Stress und Ärger. Der Fall wurde von der Presse noch brisanter dargestellt, als er ohnehin schon war, selbst über die deutschen Grenzen hinaus. Die Journalisten rannten jedem, der nicht schnell genug weglaufen konnte, die Bude mit unqualifizierten Fragen ein, und brachten letztlich, mangels verwertbarer Informationen, nur unbrauchbare, hanebüchene Eigeninterpretationen zustande.
Auch Frau Blessing selbst machte ihm das Leben nicht unbedingt leichter, obgleich er sie nicht mal als unkooperativ bezeichnen konnte. Ganz im Gegenteil. Sie beantwortete seine Fragen geradeheraus, schien viel Wert auf Ehrlichkeit zu legen und hatte sich sogar dafür entschuldigt, ihm so viel Ärger zu bereiten. Das passierte nicht allzu oft in seiner langen Laufbahn. Es war schwierig, zu benennen, was genau sie so anstrengend machte. Und abgesehen von der Blessing und den zahlreichen Journalisten klebte ihm die Polizei am Allerwertesten, allen voran dieser selbstverliebte, gelackte Polizist Tausendschön, der seine psychologische Ausbildung vermutlich im Kindergarten erhalten hatte.
Robeski löste sich vom stärker werdenden Schneetreiben, kehrte zu seinem Schreibtisch zurück und starrte zum wiederholten Male die beiden Blessing-Akten an, sowohl die aus Wunstorf als auch seine eigens angelegte. Er las und blätterte und blätterte und las, während er vor sich hin murmelte: »Keine Schizophrenie und – überraschend, aber eindeutig – keine bipolare Störung … selbst Depressionen können wir ausschließen, trotz suizidaler Tendenzen … vielleicht depressive Verstimmungen, aber auch das veranlasst keinen anderen Menschen, an deiner Stelle in den Tod zu springen. Ein kleiner Borderliner ist sicher an dir verloren gegangen und, bei allem nötigen Respekt, Eva, wirkt es manchmal, als hätten sich einige Störungen aus dem autistischen Spektrum in deinen Genen eingenistet … du hast von allem ein bisschen und doch wieder nichts, das zum Vollbild reicht, nicht mal annähernd …« Robeski lehnte sich zurück, starrte zur Decke und beendete seine Grübelei, basierend auf Fachwissen wie auch persönlichen Erfahrungen, salopp mit »Also, letztlich so wie jeder andere Mensch auch«.
Hoch konzentriert schloss er die Augen. Minutenlang. Die Ellenbogen auf die Stuhllehnen gestützt, bekamen seine Finger einen Kugelschreiber zu fassen, den er achtlos auf den Schreibtisch fallen gelassen hatte. Robeski drehte ihn, umfasste ihn mal fester, mal lockerer, lies die Mine mit einem Klick ein-und ausfahren, bevor er den Kugelschreiber erneut drehte. Die vereinzelten Schneeflocken hatten sich mittlerweile zu einem kleinen Gestöber vereint, als Robeski endlich wieder kopfschüttelnd seine Augen öffnete und mit einem Blick auf die Akte murmelte: »Was zur Hölle stimmt nicht mit dir?«
Och nee, stöhnte Himfeld innerlich, nun dichtet sie auch noch! Er verdrehte die Augen und nahm sich fest vor, die folgenden Zeilen lediglich zu überfliegen. Ich hasse Gedichte. Da hab ich immer das Gefühl, bedeutungsschwanger gucken zu müssen. Als wäre dieser Sprechdurchfall nicht schon anstrengend genug … Lyrik hat in Prosa einfach nichts verloren; ganz gleich, wie surreal sie auch sein mag. Aber vielleicht ist gerade dieses Gedicht wichtig, um den Fall nach vorne zu bringen, meldete sich leise die Stimme der Vernunft in ihm. Komm schon, sei ein Profi! Es brauchte einige Schnäuzer ins Taschentuch, einen Hustenanfall und den Einsatz vom nahezu aufgebrauchten Nasenspray, bis Himfeld sich dazu überwinden konnte weiterzulesen.
Schneewittchens Rausch
Deine Nähe, niemals nah genug.
Nicht nehmend, sondern gebend
Mit liebevoller, blanker Wut
Die wahre Welt erlebend.
Du schenkst die wahre Illusion,
Verschonst für kurze Stunden,
Mich rettend vor dem sich’ren Hohn
Des Lebens vieler Wunden.
So weiß wie Schnee, das Blut fließt rot,
Aus Ebenholz der Sarg,
Seh ich dich in Schneewittchens Tod
Und dem, was er verbarg.
Hast mehr zu sagen als and’re,
Verlierst doch nie ein Wort,
Gedanken, auf denen ich ewig wandle,
Sind plötzlich einfach fort,
Sind leicht und schweben über mir,
Verschwinden nach Belieben.
Von ganzem Herzen dank ich dir,
Denn du hast sie vertrieben.
Ohne dich ist alles grau und trist,
Mein Atem ein Gewehr.
Wenn du besonders grausam bist,
Genieß ich dich noch mehr.
Verliere mich, kenn’ kein Zurück,
Die Grenze längst passiert,
So ist das Leben, Stück für Stück:
Man gewinnt und man verliert.
Ich hab dir nicht mehr viel zu geben,
Nur noch das letzte Stück von mir,
Das ich jedoch voll Überzeugung
Gern in deinem Rausch verlier’.
»Ha!«, entfuhr es Himfeld lauthals triumphierend. Wie gut, dass ich weitergelesen habe. »Drogen! Dachte ich es mir doch!«
Die Menschen in der brechend vollen Bahn drehten sich nach ihm um. Verlegen steckte er Blessings Buch zurück in die Tasche. Zum Glück waren Selbstgespräche in öffentlichen Verkehrsmitteln keine Seltenheit, und schon wenige Sekunden später wandten sich die Fahrgäste wieder ihrem eigenen Leben zu. Dennoch atmete Himfeld auf, als er seine Station erreichte und sich durch die Menschenmenge hindurch zur Tür und in die Kälte hinaus bewegte.
Ein rauer Wind ließ seinen Kopf schildkrötenartig im Mantelkragen versinken, während er sich ärgerte, die Einladung zur Vernissage angenommen zu haben. Wären die quirligen Studentinnen, die ihn, um seine Anerkennung ringend, eingeladen hatten, nur nicht so verdammt entzückend gewesen, dann müsste er sich nun nicht selbstverliebter Wegwerfkunst zum Thema Art is Us herumschlagen, sondern würde dick eingemummelt auf der Couch vorm Inhalationsgerät sitzen und Blessings Buch lesen. Blessings Buch? Er fühlte sich beim Gedanken daran, mit Neugier auf die nächste Lektüresession zu blicken, ertappt. Ich meinte natürlich irgendein gutes Buch. Ich könnte auch fernsehen. Oder schlafen.
Aber so spielte das Leben nun mal, und eine Stunde in Gesellschaft von kleinen, knackigen Hintern würde ihn schon nicht umbringen, selbst wenn deren Trägerinnen sich vermutlich an pseudo-intellektuellem Künstlergefasel gegenseitig übertreffen wollten. Er hatte schon Schlimmeres erlebt.
Während Himfeld den Maschsee hinter sich ließ und auf die Aula der Waldorfschule zusteuerte, wurden Stimmen und Gelächter lauter und er wunderte sich, warum die Vorfreude auf seine Paraderolle – der Hahn im Korb zwischen langbeinigen Studentinnen – sich nicht einstellte. Musste wohl an der Erkältung liegen. Der eisige Wind trieb Himfeld Tränen in die Augen, blind tastete er in seiner Tasche nach den Tempos. Sein Wühlen blieb erfolglos. Stattdessen identifizierte sein Tastsinn abwechselnd das Buch, das ihm fortwährend in die Hände fiel, sowie eine gerade gekaufte Schachtel Zigaretten. Abrupt sah Himfeld sich um. Niemand zu sehen, der ihn kennen könnte. Eiligen Schrittes stellte er sich schützend an eine Bushaltestelle und zündete einen Glimmstängel an. Nachdem der erste Hustenreiz sich gelegt hatte, griff er, ohne es wirklich gewollt zu haben, wieder nach Blessings Buch.
Eigentlich habe ich sehr gerne Spaß. Warum habe ich dann so wenig davon? Sehe ich den Spaß nur nicht? Gehe ich ihm absichtlich aus dem Weg? Gönne ich ihn mir nicht? Oder finde ich mich in melancholischen Phasen einfach besser zurecht und habe Angst, mich im Spaß zu verirren? Das wäre schade, denn ich habe tatsächlich viel Spaß am Spaß. Es gibt so vieles, worüber ich herzhaft lachen kann. Warum gestehe ich mir das einfach nicht zu?
Früher dachte ich, es wäre eine Todsünde, Spaß zu haben, während überall auf der Welt Menschen leiden. Also hatte ich Spaß und dabei ein schlechtes Gewissen, was mir wiederum ein besseres Gefühl gab. Ich feierte, tanzte, spielte und trank, vergaß jedoch nie, dabei meinen demonstrativ bedeutungsschwangeren Blick aufzusetzen, der andere wissen ließ: Ich kann nicht wirklich glücklich sein, wenn es anderen mies geht. Heute sehe ich das anders: Es macht keinen Sinn, beispielsweise das Essen zu verweigern, weil man im Fernsehen Berichte über hungernde Kinder sieht. Was hat das hungernde Kind davon, wenn ich, im Überfluss badend, abmagere? Wenn ich wahres Mitgefühl verspüre und helfen möchte, ist es dann nicht viel eher so, dass ich selbst bei Kräften bleiben muss, um mich für andere einzusetzen? Oder wenn ich Bilder von Kriegen sehe, von Menschenrechtsverletzungen, Folter oder Mord. Wer profitiert davon, wenn ich zu Hause mit einer Flasche Rotwein in Selbstmitleid versinke und andere, die das nicht machen, innerlich verdamme? Ist es nicht effizienter, die Kriege um mich herum, auf die ich Einfluss nehmen kann, zu beenden? Und sei es nur ein banaler Streit zwischen Nachbarn, der lediglich einen Schlichter benötigt. Ganz zu schweigen von dem – manchmal ebenso trivialen – Krieg in meinem Inneren. Ich muss nicht gleich an die Decke gehen, weil mir jemand die Vorfahrt nimmt oder mir den letzten Parkplatz vor der Nase weggeschnappt hat oder einfach schlauer und schöner ist als ich. Ich kann nicht die Welt retten, aber ich kann bei mir anfangen. Ganz still und heimlich nur für mich selbst lernen, abends in den Spiegel zu schauen und zufrieden zu sein, ohne gleich in Vollzeit die Mutter Theresa zu spielen und damit herumzuprahlen. Denn die selbst ernannten manischen Weltverbesserer mit ausgeprägter Doppelmoral machen mich aggressiv. So viel übrigens dazu, nicht immer gleich an die Decke zu gehen.
Es wäre so einfach, wenn jeder lediglich auf sich selbst schauen würde, anstatt mit dem Finger auf andere zu zeigen, zumal man selbst ohnehin das Einzige ist, das man zuverlässig und dauerhaft kontrollieren kann. Doch vermutlich ist das des Pudels Kern: Es ist zu einfach. Das macht es schwer. So schwer, dass ich fast nicht bemerkt hätte, dass ich soeben dasselbe gemacht habe – mit dem Finger auf die anderen zeigen und meckern, anstatt einfach mal die Klappe zu halten und es somit besser zu machen.
»Herr Himfeld, Sie rauchen?«
Erschrocken ließ Himfeld die Zigarette auf den Boden fallen, wo sie zischend in einer Pfütze verglühte.
»Nein! Ich … eigentlich … ähm, hallo Nadine!«
»Nadja«, verbesserte ihn ein kleiner Mund mit glitzerndem Piercing in der Lippe. Vorwurfsvoll sah sie ihn an.
Himfeld fuhr so schnell herum, dass ein stechender Schmerz durch seine Schläfen fuhr – ein weiteres wunderbares Beiwerk seiner Erkältung. »Nadja. Natürlich. Entschuldigung.«
»Was lesen Sie denn da?« Unschuldig deutete sie auf das durchgeweichte Buch in seiner Hand. »Ah! Die Blessing.« Verheißungsvoll kichernd zwinkerte sie ihm zu. »Sagen Sie nicht, Sie sind an dem aktuellen Fall dran?«
»Nein! Gott, nein«, entfuhr es Himfeld, doch zu seinem Erstaunen wirkte Nadja enttäuscht. Schnell fügte er hinzu: »Der Fall wurde mir natürlich angeboten, aber solche Medienfanatiker wie diese Frau fallen nicht in meinen Interessenbereich.« Das war immer noch besser, als zuzugeben, dass die Psychiatrie ihn wie einen nichtsnutzigen Anfänger abwies und er einfach nicht vorankam. Wenn irgendwann doch herauskommen sollte, dass er den Fall übernommen hatte, müsste Himfeld sich eben eine neue Ausrede einfallen lassen.
Nachdenklich zog Nadja ihre Augenbrauen zusammen, als wäre sie nicht sicher, ob sie Blessings Buch fehlinterpretiert hatte oder der allseits hochgelobte Polizeipsychologe. »Warum lesen Sie ihr Buch, wenn es Sie nicht interessiert?«, nuschelte sie, während sie mit ihrer Oberlippe gedankenverloren mit dem Lippenpiercing spielte.
Nachsichtig lächelnd setzte Himfeld zum Sprechen an, stockte dann jedoch. Eine gute Frage! »Es ist kalt, Nadja. Wollen wir reingehen?«
Strahlend hakte sich die Erstsemesterin in den dargebotenen Ellenbogen ein und stolzierte an seiner Seite wie die First Lady in die Aula. Auch Himfeld genoss diesen Auftritt, als Nadja quiekend zu ihren Freundinnen hüpfte, die sie umgehend ausquetschten, wie sie es geschafft hätte, mit Himfeld hier zu erscheinen. Und langsam, aber stetig kehrte auch sein Jagdtrieb zurück und Himfeld freute sich, zu den jungen Frauen zu stoßen.
In aller Ruhe brachte er seinen durchnässten Mantel in die Garderobe, legte noch etwas Nasenspray nach und näherte sich auch schon den kichernden Studienanfängerinnen. Smart wie eh und je stieg er umgehend in ihre Gespräche ein, nippte gelegentlich an seinem Sekt, verteilte an den richtigen Stellen versteckte Komplimente und hatte schon fast vergessen, was ihm neben einem Pfund Schnodder seit Tagen Kopfschmerzen bereitete, als ihm plötzlich ein hagerer Mann ins Auge fiel.
Robeski.
Mit einem Schlag waren die Ereignisse wieder präsent und nicht zuletzt auch die Demütigung, die er durch diesen Mann erfahren hatte. Wie hatte dieser Typ es wagen können, ihn abzubügeln wie einen dahergelaufenen Praktikanten? Es war wirklich eine Frechheit, aber es bereitete Himfeld eine gewisse Genugtuung, dass Robeski ihm hier, außerhalb der schützenden Mauern der Landesnervenklinik, auf neutralem Terrain, weit unterlegen war. Während der Polizeipsychologe von einer Traube schöner junger Frauen umgarnt wurde, die ihm an den Lippen hingen, stand der dürre Doktor wie ein Schluck Wasser in der Kurve zwischen zwei ebenso alten wie unansehnlichen Männern und verzog keine Miene.
Viel zu laut lachte Himfeld über eine gar nicht so komische Bemerkung seiner Studentin, um Robeskis Aufmerksamkeit zu erregen, und kaum dass er dessen Blick auf sich spürte, startete er seine One-Man-Show, stolzierte smart von Bild zu Bild, von Kunstwerk zu Kunstwerk und versprühte sein gesamtes Repertoire an Witz, Intelligenz und Charme, sodass sich die Anzahl seiner Anhängerinnen im Laufe der folgenden Stunde nahezu verdoppelte. Nur peripher registrierte der Psychologe in ihm, dass seine Aufmerksamkeit während dieser Darbietung hauptsächlich Robeski galt – dieser wiederum würdigte Himfeld kaum eines Blickes. Mit keiner Faser seines Körpers vermittelte der arrogante Psychiater auch nur einen Hauch von Neid oder den Wunsch, sich der Gruppe um Himfeld nur zu gern anschließen zu wollen. Nicht mal ein Ansatz von leichtem Interesse oder gar Neugier war auf seinem faltigen Gesicht zu erkennen. Himfeld bemerkte, dass es ihn anstrengte, den Entertainer zu spielen. Er war gesundheitlich viel zu angeschlagen und aus irgendeinem Grund hatte er urplötzlich auch gar keine Lust mehr, sich so zu bemühen, nur um angehimmelt zu werden.
Verdammt, was ist nur mit mir los?, hämmerte es durch seinen Kopf. Ich muss dringend zu einem Arzt. Diese verfluchte Erkältung macht mich wirklich fertig.
So versprach er der beachtlichen Horde an Verehrerinnen, bald zu der geplanten After-Art-Party nachzukommen, zu der sie aufbrechen wollten, und verzog sich auf die Toilette, wo er zwei Aspirin mit dem Rest Sekt herunterspülte und erneut zum Nasenspray griff. Ein kurzer Blick in den Spiegel ließ Himfeld erstarren. Tiefe, dunkle Augenringe, eine Folge akuten Schlafmangels, sahen ihm entgegen, und die roten Flecken auf seiner Stirn ließen den Verdacht in ihm aufsteigen, dass er Fieber hatte. Er fühlte sich merkwürdig empfindsam, vor allem, wenn er Temperaturänderungen erfuhr. Und dann waren da noch die schweren Glieder und die müden, überreizten Augen, die danach schrieen, sich schließen zu dürfen …
Weder das kalte Wasser in seinem Gesicht noch das Richten seiner vom Wind zerzausten Haare konnten an seinem ramponierten Äußeren etwas ändern, somit beschloss er, die Party sausen zu lassen und stattdessen nach Hause zu fahren. Während Himfeld seinen Mantel überwarf und überlegte, welche charmante Ausrede er den Studentinnen für sein Fernbleiben auftischen konnte, bemerkte er, dass die Aula inzwischen fast leer war. Er hörte seine dumpfen Schritte bereits nachhallen, als er sich der Glastür näherte, in der er ein wohlbekanntes Spiegelbild sah. Himfeld drehte sich um und betrachtete Robeski, der mittlerweile alleine vor einem etwas abseits ausgestelltem Bild stand und es offensichtlich missbilligend musterte.
Himfeld ballte seine Hände in den Manteltaschen zu Fäusten, öffnete sie und schloss sie erneut; er wusste nicht, was er tun sollte. Im zwanglosen Privatgespräch konnte man manchmal mehr erreichen als mit jedem noch so raffinierten beruflichen Geschick. Es war einen Versuch wert. Sobald Robeski ihn als gleichwertig erachtete, merkte, dass sie Gemeinsamkeiten hatten, und sich eine Form der Sympathie entwickelte, würde er sicher zugänglicher werden.
Himfeld trat, um Gelassenheit bemüht, neben den Psychiater und verweilte einen Moment, um ebenfalls das Bild zu betrachten. Dann, ohne den Blick vom Gemälde abzuwenden, konstatierte er trocken: »Wie sagt man so schön? Ist das Kunst oder kann das weg?«
Aus den Augenwinkeln nahm er wahr, dass Robeski sich langsam zu ihm drehte. Selbstgefällig verschränkte Himfeld die Arme hinter dem Rücken und wippte ein paarmal auf den Zehenspitzen vor und zurück, bevor er sich mit einem gönnerhaften Grinsen Robeski zuwandte. »Schön, einen Sinnesgenossen hier zu treffen. Ist Ihnen auch schon ganz schwindelig davon, zu jedem dieser Kleckse eine professionelle Analyse abgeben zu müssen?«
Unbewegt starrte ihn das Gesicht des Psychiaters entgegen, bis Himfeld versuchte, den Knoten platzen zu lassen, herzhaft über seinen eigenen Witz lachte und Robeski die Hand entgegenstreckte. »’n Abend, Herr Robeski.«
Eisige Sekunden lang starrte Robeski ihn an, schüttelte wortlos seine Hand und wandte seine Aufmerksamkeit dann wieder dem Gemälde zu. Ein harter Brocken also, dachte Himfeld, ließ sich aber nicht von Robeskis abweisender Art einschüchtern.
»Tja«, räusperte Himfeld sich, »mit Ihnen hätte ich hier nicht gerechnet.«
Schweigen vom Gegenüber.
»Also, ich meine, wo Sie doch an diesem delikaten Fall arbeiten.«
Weiteres Schweigen.
»Die Presse macht Ihnen doch sicher gerade das Leben zur Hölle … mir ja auch. Obwohl ich bei Weitem nicht so involviert bin wie Sie.« Himfelds Lachen klang nervös. Da Robeski es noch immer vorzog, nicht mit ihm zu sprechen, hatte Himfeld genügend Zeit, seine Taktik zu überdenken und schließlich abzuändern. »Aber ich finde es wirklich toll, dass Sie trotz allem noch Zeit für diese Vernissage finden. Man muss sich ja auch mal den schönen Dingen des Lebens widmen … also, sofern man das schön findet zumindest. Ich persönlich fand es jetzt nicht so … aber je länger ich es mir ansehe … ja, doch. Es hat schon was.«
Mit konzentriert zusammengekniffenen Augen starrte Himfeld auf den asymmetrischen grünen Kreis auf blauem Grund und legte noch schnell beflissen Zeigefinger und Daumen ans Kinn, wie er es oft bei Kunstkennern beobachtet hatte.
»Sie haben sich in der letzten Minute viermal selbst widersprochen«, meldete sich Robeski erstmals zu Wort und sah den Psychologen an, der prompt rot anlief.
»Ähm, ja. Das stimmt wohl.«
Als keine weitere Erklärung folgte, wandte Robeski sich wieder von ihm ab. »Danke, dass Sie mich an Ihren Gedanken teilhaben ließen«, entgegnete er ebenso geringschätzig wie trocken und schürte damit Himfelds Ärger.
»Herr Robeski …«
Wortlos hielt Robeski einen mahnenden Zeigefinger in die Luft, der umgehend Wirkung zeigte.
»Herr Professor Robeski«, verbesserte Himfeld sich zähneknirschend, »wir sind hier nicht in der Klinik. Lassen Sie uns bitte von Mann zu Mann sprechen, von Kollege zu Kollege. Wir wollen doch beide das Gleiche.«
Zu dem erhobenen Zeigefinger gesellten sich nun auch die restlichen Finger, die Himfeld sofort zum Schweigen brachten. Endlich drehte Robeski sich zu dem Psychologen um und sah ihm direkt in die Augen. »Ehrlich gesagt habe ich nicht die geringste Ahnung, was Sie wollen, Herr … ähm«, es war ihm nicht mal unangenehm, dass er Himfelds Namen nicht mehr wusste, »ich mache meine Arbeit. Zum Wohle der Patienten. Und unter Berücksichtigung der Gesetze, die auch die Schweigepflicht einschließen. Darum tritt in Kraft, was ich Ihnen bereits sagte. Bringen Sie mir eine Anordnung des Gerichts und Sie …«
Ohne es beabsichtigt zu haben, fiel Himfeld ihm ins Wort: »Sie ist drogenabhängig.«
Robeski hob schweigend die Augenbrauen weit über die Brillenränder und Himfeld jubelte innerlich.
»Frau Blessing«, fuhr Himfeld fort, »sie ist drogenabhängig. Allein das ist ein Grund, sie von der Polizei verhören zu lassen. Wer weiß, wie tief sie bereits in die Drogenszene verstrickt war. Und der Mann, der sich vom Haus gestürzt hat, war aktenkundig, unter anderem wegen des Verstoßes gegen das BtMG.« Robeski entfuhr ein freudloses Lachen, woraufhin Himfeld siegessicher die Hände in die Hüften stemmte. »Sie glauben mir wohl nicht, hm?« Mit einer schnellen Bewegung zog er Blessing Buch aus seiner Manteltasche hervor. »Da!«, sagte er und deutete mit dem Zeigefinger auf das Buch, »dadrin steht es. Vielleicht nicht gleich für jeden erkennbar, aber in einem dieser … dieser … ich nenn’ es mal Texte – gibt es eindeutige Hinweise auf einen Drogenexzess. Wie konnten Sie das übersehen?«
Robeski schüttelte langsam den Kopf, während er sich ganz nah vor Himfeld stellte. »Abgesehen davon, dass ich Ihrer Dienststelle melden sollte, wie unprofessionell Sie mit Ihrer Schweigepflicht gegenüber dem verstorbenen Herrn Werding umgehen, muss ich Sie enttäuschen. Eva Blessing ist nicht drogenabhängig und sie ist es auch nie gewesen. Das Gedicht Schneewittchens Rausch ist entstanden, als sie ihren ehemaligen Partner im Drogenrausch beobachtet hat.« Für einen kurzen Moment zuckten seine Mundwinkel amüsiert. »Aber es freut mich, dass Sie mittlerweile das Buch gelesen haben.« Damit klopfte er Himfeld jovial auf die Schulter und zog seinen Mantel über. Er enfernte sich von ihm – nicht nur psychisch, sondern auch physisch.
»Herr … Professor Robeski!«, rief Himfeld und versuchte sich zur Abwechslung in Ehrlichkeit. »Geben Sie mir eine Chance.«
Umgehend wirkte Robeski weniger distanziert – warum auch nicht? Himfeld hatte Schwäche gezeigt. »Das tue ich, Herr Himfeld. Mit dem Gerichtsbeschluss. Aber bis dahin tun Sie sich bitte selbst einen Gefallen und stellen sich die Frage, warum Ihnen das eigentlich plötzlich so wichtig ist.«
Aufrichtig ahnungslos sah Himfeld ihn an. »Wie meinen Sie das? Ich habe lediglich einen Fall zu klären und möchte meine wichtigste Zeugin befragen.«
»Ich glaube nicht, dass es gut für Sie wäre.«
Für sein Dafürhalten mimte Robeski ein bisschen zu sehr den selbstlosen Seelenklempner. Eine harmlose Befragung konnte seiner Patientin kaum schaden – zumindest nicht mehr, als sie sich selbst bereits geschadet hatte. »Bei allem nötigen Respekt, Professor, aber wir haben hier einen Todesfall, der völlig unerklärlich ist. Da kann ich wirklich keine Rücksicht darauf nehmen, ob eine Befragung gut für meine einzige brauchbare Zeugin ist oder nicht.«
Robeski zog den Gurt seines Mantels enger und ging noch einmal auf Himfeld zu. »Ich habe von Ihnen gesprochen, nicht von Frau Blessing.«
Entgeistert starrte Himfeld in Robeskis Gesicht, auf dem sich erstmals ein wohlwollender Ausdruck befand. »Schönen Abend noch«, verabschiedete sich der Arzt und verschwand.
»Krempel?«, drang eine verschlafene Stimme durch Himfelds Mobiltelefon, kurz bevor er die Haustür erreicht hatte.
»Frau Krempel, wunderbar, dass Sie noch im Büro sind«, flötete er ihr entgegen.
»Bin ich nicht. Ich liege im Bett und schlafe.«
»Oh«, erwiderte Himfeld ungerührt und kramte in seiner Manteltasche nach dem Hausschlüssel, »warum gehen Sie ans Telefon, wenn Sie bereits schlafen?«
Umgehend klang Frau Krempels Stimme etwas wacher und eine Spur schärfer. »Es ist gleich Mitternacht. Wenn mein Handy um diese Zeit klingelt, gehe ich davon aus, dass es sich um einen Notfall handelt, Herr Himfeld.« So viel Schneid hatte Himfeld ihr gar nicht zugetraut.
»Ja …« Nach einem kurzen Blick auf die Uhr kniff der Polizeipsychologe beschämt die Augen zusammen, bevor er fortfuhr: »Ja, in gewisser Weise ist es das auch. Frau Krempel, es geht um die Blessing-Akte.«
»Sie haben die Unterlagen aus der Psychiatrie bekommen?«
»Äh, nein, das nicht.«
»In unserer steht nämlich noch nicht viel drin außer dem Bericht über die Vorkommnisse auf dem Hochhaus vor zwei Tagen. Und den haben Sie selbst verfasst«, belehrte sie ihn nach einem tiefen Gähnen.
»Ich …« Langsam bemerkte Himfeld, dass es eine Schnapsidee gewesen war, seine Sekretärin mitten in der Nacht wegen einer Belanglosigkeit anzurufen, aber blitzartig hatte sich dieser eine Gedanke in seinen Kopf geschlichen und nun wurde er ihn einfach nicht mehr los. Vielleicht war Blessings Buch schon lange vor dem ersten Selbstmordversuch fertiggestellt worden und gammelte seitdem in einer Schreibtischschublade vor sich hin … bis zu ihrem spektakulären Selbstmordversuch. Ihre vorgebliche Verzweiflungstat war also vielleicht nichts anderes als eine Promoaktion, um ihrem Verlag den Aufhänger schlechthin zu geben, ihr Buch herauszugeben. Und wenn das schon wahrscheinlich war, konnte es dann nicht auch sein, dass Blessings Verlag eingeweiht war in ihren Plan? Himfeld straffte seine Schultern und schöpfte neuen Mut. »Ja, ich weiß. Danke fürs Mitdenken, Frau Krempel. Aber es geht um das Buch. Hat Frau Blessing es in dem gleichen Verlag veröffentlicht, in dem sie zuvor als Lektorin gearbeitet hat?«
Kurzes Schweigen, gefolgt von der ungläubigen Frage: »Sie rufen mich mitten in der Nacht an, um …?« Er hörte ein kurzes Rauschen in der Leitung, vermutlich hatte Frau Krempel sich gerade aufgesetzt. Als sie fortfuhr, klang ihre Stimme klarer, wacher, aber auch schneidender: »In der Akte steht nichts über ihr Buch. Wie bereits erwähnt, enthält die Akte lediglich …«
»Frau Krempel, glauben Sie mir, ich habe auch Besseres zu tun. Ich hätte nicht angerufen, wenn es nicht wichtig wäre«, unterbrach Himfeld sie, gereizt wegen seiner eigenen Lüge, denn prinzipiell war es alles andere als wichtig. Wichtig wäre, sich auszukurieren, um seiner eigentlichen Arbeit wieder konzentriert nachgehen zu können, anstatt irgendwelchen impulsiven Geistesblitzen hinterherzujagen, nur um die eigene Neugier zu befriedigen.
»Schon gut. Ja, ich erinnere mich dunkel, irgendwo gelesen zu haben, dass das Buch im gleichen Verlag herausgebracht wurde, bei dem sie arbeitete. Bookish heißt er. Er hat seinen Sitz in einer Villa im Zooviertel, der Verleger ist irgendein reicher Spross, der das Geld gar nicht schnell genug aus dem Fenster werfen kann. Anscheinend hat dem Verlag das bisher nie was gebracht, denn er ist kaum bekannt gewesen, bis Blessing ihr Buch dort veröffentlicht hat.«
Aha! »Wunderbar. Dann sind Sie morgen Vormittag freigestellt für einen Außentermin. Fahren Sie zum Verlag und befragen Sie Blessings Vorgesetzte und vor allem ihre engsten Kollegen.« Himfeld entging das leise Stöhnen, das als Reaktion auf seine Anweisung folgte, nicht.
»Wie soll ich da so schnell einen Termin bekommen? Ich bin doch gar keine Beamtin. Und gibt es überhaupt eine Anordnung von offizieller Seite?«
»Nein. Aber Sie arbeiten bei der Polizei. Lassen Sie sich etwas einfallen. Ist doch nur ein lockeres Geplänkel. Ich schätze, dass sie ständig auf ihr Goldeselchen angesprochen werden. Wenn alle Stricke reißen, werde ich mich selbst darum kümmern, aber es wäre wirklich schön, wenn Sie mir diesen einen Weg abnehmen könnten. Sie wissen, wie tief ich in Arbeit stecke. Morgen Nachmittag erwarte ich einen ausführlichen Bericht.« Himfeld war klar, dass dieser Auftrag den eigentlichen Aufgabenbereich seiner Sekretärin auf eine unzulässige Art und Weise überschritt, aber er wusste sich nicht anders zu helfen.
»Morgen Nachmit–«, wiederholte Frau Krempel entgeistert, aber sie traute sich offensichtlich nicht, Himfeld noch einmal zu widersprechen. »Wonach soll ich den Verlag denn überhaupt fragen?«
»Bringen Sie in Erfahrung, wie es zu der Veröffentlichung gekommen ist. Ob Frau Blessing ausdrücklich darum gebeten hat oder sogar dafür bezahlen musste. Vielleicht auch nach Auffälligkeiten in Blessings Verhalten wie Stereotypien, Fehlzeiten, Arbeitshaltung, eventuelle Stimmungsschwankungen und so weiter. Ich zähl’ auf Sie. Gute Nacht.«
Noch bevor Himfeld sein Handy in die Tasche und den Schlüssel ins Loch stecken konnte, wurde die Haustür bereits aufgerissen, um das übliche Abendspektakel einzuläuten. »Wo bist du gewesen?«, zeterte Ilona. Wütend schnürte sie ihren Bademantel enger um den Körper.
Mit gottergebener Miene betrat Himfeld das Haus. »Ich wünsche dir auch einen schönen guten Abend, mein Schatz.« Er beugte sich zu einem Begrüßungskuss vor, doch seine Frau hielt ihn mit einer abwehrenden Geste zurück.
»Du stinkst ja schon wieder nach Alkohol.«
Nur mit äußerster Mühe widerstand Himfeld dem Drang, die Augen zu verdrehen. »So ein Unsinn. Das sind die Erkältungsmittel. Je intensiver sie riechen, umso besser helfen sie.«
»Erkältungsmittel?«, echote sie, während ihre Augenbrauen drohten aus ihrem Gesicht zu springen, so hoch hatte sie sie gezogen. »Ich erkenne wohl noch den Unterschied zwischen Eukalyptus und Bier.«
»Sekt«, schoss es unbeabsichtigt aus ihm heraus und er verfluchte sich für diesen untypisch impulsiven Ausbruch an Ehrlichkeit. Seit Jahren hatte er sich selbst dazu konditioniert, bei seiner Frau auf Durchzug zu schalten, genau das zu sagen, was sie hören wollte, und sie so zum Schweigen zu bringen. Was war nur los mit ihm? Seine Hoffnung, sie möge es nicht gehört haben, erstarb, als sie ihm polternd durch den Flur folgte.
»Wie bitte? Sekt? Du warst nicht bei der Arbeit, sondern hast dich volllaufen lassen? Und waren deine feinen Studentinnen auch dabei?«
Himfeld winkte kopfschüttelnd ab, als sei sie nicht ganz bei Trost, und flüchtete ins Badezimmer. Doch Ilona lief ihm weiter nach, riss die Tür auf und holte tief Luft für die unausweichlich folgende Strafpredigt, der er jedoch mit einem letzten kläglichen Versuch zu entgehen versuchte. »Ilona … Loni, ich bin seit Wochen erkältet und ich glaube, jetzt kommt auch noch Fieber dazu. Glaubst du ernsthaft, ich würde mich mitten in der Nacht freiwillig irgendwo herumtreiben, wenn ich es nicht müsste? Mir ist nur nach Bett und Ruhe, und die Arbeit macht mich fertig, aber einer von uns beiden muss ja das Geld verdienen, hm?«
Er drückte seiner Frau herablassend einen Kuss auf die Stirn, der sie endgültig explodieren ließ. »Du hältst dich wohl für ganz schlau, was? Glaubst du wirklich, ich merke nicht, was du treibst? Du bist fast jeden Abend unterwegs, kommst spät nachts mit einer Fahne wieder und nach Rauch stinkst du übrigens auch.«
»Was auch immer du dir einbildest zu riechen, meine Liebe, es spielt sich nur in deinem Kopf ab. Ich habe vor zwei Jahren mit dem Rauchen aufgehört. Es ist also ziemlich unwahrscheinlich, dass ich noch immer nach Qualm stinke. Wenn du dann so gut wärst und mich allein lassen würdest. Ich möchte ein Erkältungsbad nehmen und dann nur noch ins Bett.«
Sie ignorierte seine Worte. »Hast du dir mal überlegt, wie ich mich dabei fühle? Ich bin fix und fertig, weil ich kaum eine Nacht mehr als drei oder vier Stunden schlafe.«
»Warum das denn?«, fragte Himfeld, plötzlich tatsächlich interessiert, und Ilona stutzte.
»Na … wei– wa–warum wohl?«, stotterte sie und schien mit einmal den Faden verloren zu haben, »weil ich bis spät in die Nacht auf dich warten muss.«
»Warum musst du das? Du kannst gerne ins Bett gehen, Liebes. Ich kann mir schon allein die Zähne putzen und unter die Decke schlüpfen«, widersprach er ihr zwischen zusammengepressten Zähnen so freundlich wie möglich und konnte kaum glauben, was er da sagte. »Wenn es dir aber ein Bedürfnis ist, auf mich zu warten, dann schlaf doch einfach morgens länger. Da du ja bereits seit über einem Jahrzehnt deine Tätigkeiten aufs Haus beschränkt hast, gibt es keinen Grund, früh aufzustehen, wenn du zu wenig geschlafen hast. Denn ich bin auch imstande, mir mein Frühstück selbst zu machen. Verrückt, oder?«
Mit weit geöffnetem Mund starrte Ilona ihn an. Scheinbar ebenso erstaunt wie er selbst über seine ungewöhnlich deutlichen wie auch wahren Worte, hüllte sie sich in Schweigen. Zufrieden nickend setzte Himfeld noch einen drauf: »Und wo wir gerade beim Thema sind: Ich werde dir heute deinen kostbaren Schlaf nicht rauben, denn ich schlafe wieder im Büro auf der Gästecouch.«
Ilona schnappte nach Luft. »Sag mal, bist du volltrunken, oder was?«
Genervt rieb Himfeld sich die Schläfen und atmete mehrmals tief durch. Er hatte keine Energie mehr für diesen Mist. Die Wahrheit hatte sie schon einmal zum Schweigen gebracht, vielleicht klappte es ja ein weiteres Mal. »Ja«, entgegnete er ihr seufzend. »Ja, ehrlich gesagt bin ich ganz schön angetrunken, was vermutlich an den diversen Gläsern Sekt liegt, die ich auf einer Vernissage getrunken habe. Gemeinsam mit einigen Studentinnen.«
Verblüfft rang Ilona um Fassung. »Du gibst das auch noch zu?«
Himfeld zuckte die Achseln und lachte verzweifelt. »Ja, nun. Was soll ich tun? Wenn ich lüge, meckerst du. Und wenn ich die Wahrheit sage, auch. Was willst du denn von mir?«
Tränen der Wut blitzten in den Augenwinkeln seiner Frau auf, aber immerhin verließ sie wortlos das Badezimmer. Ungläubig blickte Himfeld in den Spiegel. Hatte er das wirklich gerade alles gesagt? Und warum? Wollte er sich das Leben schwerer machen? Würde es Konsequenzen nach sich ziehen? Quatsch, welche denn? Und selbst wenn, im Moment fühlte er lediglich Erleichterung über die Ruhe. Schnell entledigte er sich seiner klammen Sachen, schnappte sich die Zeitung und stieg in die Wanne.
Wie gefährlich ist diese Frau wirklich?
Auch Tage nach der Selbstmordtragödie um Rainer W. (48) werden die Fragen nicht weniger. Was passierte auf dem Dach des Hochhauses? Warum sprang der Mann in den sicheren Tod und was hat die Bestsellerautorin Eva Blessing damit zu tun? Bringt sie den Tod mit sich? Derzeit in der geschlossenen Abteilung der Landesnervenklinik in Lagenhagen sicher verwahrt, wagt sich nicht einmal die Polizei an sie heran. Aus sicherer Quelle haben wir erfahren, dass noch keine Vernehmung stattgefunden hat. Einzig Blessings behandelnder Psychiater, Professor Robeski, darf in die Nähe der Frau, die nun ein zweites Mal ganze Menschenmassen zu wilden Diskussionen anregt. Hat sie Herrn W. animiert, zu springen? Und wenn dem so ist – warum? Hat sie inzwischen eine Bewegung von Selbstmördern ins Leben gerufen? Wurde sie von anderer Stelle instruiert, den Mann in den Tod zu treiben? Oder hat sie doch eher versucht, ihn vom Sprung abzuhalten? Wir wissen es nicht. Fakt ist, dass diese Frau nach wie vor ein Mysterium ist und ihre Medienpräsenz mittlerweile sogar die deutschsprachigen Grenzen passiert hat. Fortwährend um ein Gespräch mit Professor Robeski bemüht, werden wir weiter an der Geschichte dranbleiben.
Stöhnend ließ Himfeld die Zeitung neben die Wanne sinken und äffte den Reporter nach: »Nicht einmal die Polizei wagt sich an sie heran … Ich würde ja gerne, ihr Schlauscheißer!« Nach einem weiteren genervten Stöhnen schloss Himfeld die Augen und ließ seinen Kopf unter Wasser gleiten, die absolute Ruhe genießend, bis ihm die Luft wegblieb. Er tauchte auf und beschloss, dass es höchste Zeit fürs Bett war.