Читать книгу Die richtige Erziehung gibt es nicht - eine Schadensbegrenzung - Julia Schneider - Страница 8

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3. Die Entstehung der Gefühle, auf die Eltern Einfluss nehmen können


Schon sehr früh machen Kinder Erfahrungen im Umgang mit ihren Gefühlen. Das beginnt bereits beim Brustgeben, wenn z. B. die emotionale Verfassung der Mutter verschieden ausfällt. Ist sie gelöst und ruhig, ist auch das Kind glücklich und entspannt. Ist die Mutter gestresst und sitzt mit starrem Gesicht da, verkrampft sich das Kind und beginnt zu schreien. So lernt das Kind nach und nach, dass seine Bedürfnisse und seine Gefühlsäußerungen von den Eltern und besonders von der Mutter ernst genommen und befriedigt werden. Alle Erlebnisse sind prägend und drücken sich gleichzeitig in einer über Jahre wiederholten Interaktion zwischen Kind und Eltern aus.

Die deutlichsten Spuren der emotionalen Entwicklung vertiefen sich zwischen dem ersten und sechsten Lebensjahr. Hier werden das Emotionswissen, der Emotionsausdruck und die Emotionsregulation geprägt. Das Kind erkennt, welche Emotionen was auslösen und entwickelt Strategien, um zu erreichen, was es will. Was zunächst auf Basis der reinen Mimikdeutung und auf der nicht verbalen Ebene geschieht, setzt sich fort, wenn das Kind zu sprechen beginnt und seine Gefühle über die Sprache und das kindliche Repertoire an Gefühlen ausdrückt. Immer wichtiger wird dabei, zu erklären, warum Ängste bestehen oder eine Emotion erfolgt. Sobald das Kind dann versteht, in welcher Situation welche Emotionen bei ihm selbst ausgelöst werden, entwickelt es ein Verständnis für die Gefühle anderer.

Vorher ist es für Eltern wichtig, auf die Gefühle des Kindes einzugehen und diese vor allen Dingen zu respektieren. Fühlt sich ein Kind unverstanden oder verlacht, wird es den Rückzug antreten und immer weniger darauf Wert legen, sich mitzuteilen. Es entwickelt allmählich Gefühle wie Scham, Stolz, Neid oder Schuld. Es vermischt eigene und fremde Gefühle und kann schließlich diese auch unterscheiden.

Eine wichtige Rolle bei Kindern und Eltern ist die emotionale Kompetenz. Eltern können diese bei ihrem Kind günstig fördern, wenn das Kind ernst genommen wird, wenn es lernt, Gefühle bei sich und bei anderen richtig zu deuten, wenn es in der Lage ist, Gefühle zu benennen, und wirksame Strategien entwickelt, um mit den Gefühlen umzugehen. Das geschieht von Anfang an, durch unmittelbare Reaktionen und emotionale Erlebnisse. Typische Gefühle sind Ängste, Wut, Traurigkeit oder Freude, die das Kind für sich verarbeitet, aber auch durch das Verhalten der Eltern lernt. Eine gute emotionale Entwicklung ist dann möglich, wenn ein offener Umgang mit Gefühlen in der Familie gepflegt wird, entsprechend ein positives Familienklima vorherrscht, ein feinfühliges Verhalten bei negativen Gefühlsäußerungen durch das Kind und die dazugehörige offene Kommunikation und Akzeptanz die Grundvoraussetzungen sind. Eine gegenteilige Atmosphäre hemmt dagegen das Lernen in emotionalen Situationen. Das ist auch beim Ignorieren von Gefühlen oder bei Bestrafung der Fall. Schaffen es Eltern, ihre eigenen Gefühle günstig zu beeinflussen und vor dem Kind zu beherrschen, ohne die Alltagsprobleme auf das Kind zu übertragen, wächst der familiäre Zusammenhalt. Sind Eltern dagegen oft gereizt oder gestresst, wirkt sich das als Belastung immer auf das Kind aus.

Für Eltern ist es wichtig, die Stimmung des Kindes zu beobachten und so schon bei ersten Anzeichen auf eine Veränderung der Gefühle, auf Wut, Anspannung oder Traurigkeit eingehen zu können. Damit vermitteln Eltern nicht nur ihre Aufmerksamkeit, Liebe und Wertschätzung, das Kind fühlt sich ebenso verstanden.

Gerade in schwierigeren Situationen ist das Bewahren der Ruhe besonders wichtig. Manchmal genügt es schon, wenn Eltern einfach da sind, auch wenn dem Kind noch die Worte fehlen. Vermittelt werden sollte, dass alle Gefühle ihre Berechtigung haben und dass es wichtig ist, darüber zu sprechen. Dabei gilt die Devise, dass zwar alle Emotionen zählen und erlaubt sind, jedoch nicht jedes Verhalten akzeptabel ist. Hier sind wiederum klare Regeln und Grenzen wichtig, über die das Kind lernt, sein Verhalten zu steuern und sich an den Reaktionen zu orientieren.

3.1 Die Wut- und Trotzphase


Eine der entschiedensten Phasen ist die Trotzphase, die für Eltern besonders schwierig ist, um darauf geeignet zu reagieren und die dabei jedes Kind notgedrungen durchmacht. Sie tritt sehr plötzlich auf und kann in bestimmten Situationen auch peinlich sein, z. B. in öffentlichen Bereichen, auf der Arbeit oder in einer S-Bahn. Während das Kind vorher noch fröhlich war, gelächelt und in die Welt geschaut hat, versteift es sich auf einmal, verzieht die Mundwinkel und löst sich in seinem Geschrei auf. Die Tränen rinnen über die Wangen, das Gesicht wird rotfleckig und Mutter und Kind stehen auf einmal im Mittelpunkt des Geschehens, was vielen zunächst unangenehm ist. Da aber die Trotzphase ein natürlicher Prozess ist, lernen Eltern bald, mit dieser geeignet umzugehen.

Meistens tritt die Trotzphase ab dem zweiten Lebensjahr auf, verbunden mit der Entwicklung eines eigenen Willens und der zu der Zeit noch stark ausgeprägten Ich-Identität. „Ich will aber!!!“, schimpft das Kind und stampft wütend auf. Die Wut kann dabei sehr facettenreich auftreten, sich durch Zorn, Zerstörung, Aggression, sogar durch Bisse und Geschrei ausdrücken. Manche Kinder bevorzugen ein stilles und langanhaltendes Weinen oder den Rückzug. Die Wutphase kann dabei auch ein Alarmzeichen sein, wenn sie überhandnimmt oder die typische Entwicklungszeit überdauert. Reagiert das Kind auf jeden abgeschlagenen Wunsch unverändert mit einem Zornausbruch, kann das ein Hinweis auf eine erste Verhaltensstörung sein.

Ähnlich gefährlich ist unterdrückte Wut, die keine Möglichkeit hat, sich zu entladen. Das Kind lernt erst Schritt für Schritt, mit den eigenen Gefühlen und mit dem innerlichen Toben umzugehen und den Zorn dabei zu kanalisieren. Die Ursachen für derartige Gefühle sind vielseitig. Ein Wunsch wird nicht erfüllt, ein Missgeschick geschieht, das Kind erfährt eine Ablehnung oder wird bestraft oder ignoriert.

In der Trotz- bzw. Autonomiephase ist Wut relativ normal und gehört zur Entwicklung dazu. Der Wutausbruch dient dazu, mehr Autonomie zu erhalten und auf sich aufmerksam zu machen. Diese Phase durchläuft jeder Mensch, aus der sich das Ich-Bewusstsein überhaupt erst herausbildet. Das Kind beginnt, sich als eigenständige und unabhängige Persönlichkeit wahrzunehmen, und äußert so seine Willensstärke. Da seine Welt noch ganz anders aussieht als die der Erwachsenen, haben Eltern und Kinder in dieser Phase auch voneinander abweichende Ziele. Die Trotzphase hilft gleichzeitig dabei, dass die Neugier und Experimentierfreude wächst. Das Entdecken der Welt verläuft parallel zur Entdeckung, wie weit man gehen kann.

Durch die Sprachentwicklung und die Ausweitung aller motorischen Fähigkeiten kann das Kind auf mehr Worte und Bewegungen zurückgreifen. Es beginnt, Wünsche zu äußern, und will diese dann auch permanent durchsetzen. Da es sich mittlerweile recht sicher auf den eigenen zwei Beinen bewegt, untermalt es seine Forderungen mit Stampfen, Gestikulieren und Schimpfen. Auch ist die neue Unabhängigkeit, nicht mehr getragen werden zu müssen, ein weiterer Schritt hin zur Selbstständigkeit.

Trotzphasen können auch länger dauern und ständig im Alltag auftreten. Bekannt sind Situationen im Einkaufzentrum, wenn das Kind nicht die Schokolade erhält, die es fordert. Der Auslöser ist dabei, dass es hier und bei vielen anderen Ereignissen auf seine emotionalen, sprachlichen und körperlichen Grenzen stößt und sich nicht mehr anders zu helfen weiß, als diese durch Trotz und Zorn zu überdecken. Dabei ist es sehr stark ich-bezogen und fordert vehement etwas von den Eltern, ohne die Konsequenzen seines Handelns zu kennen oder richtig einschätzen zu können. Es begreift nicht, dass es die Schokolade im Augenblick nicht haben kann.

Auch Verbote wirken sich ähnlich aus. Wenn ein Kind nicht auf die Straße laufen und dort die Hand der Mutter oder des Vaters nicht loslassen darf, begreift es nicht, dass hier eine Gefahr vermieden wird. In all diesen Situationen entwickeln Kinder Frust und Wut, sind enttäuscht oder fühlen sich nicht beachtet. Das Unterdrücken der Gefühle ist noch nicht möglich, so steigert sich das Kind dann lieber in einen wahren Gefühlsrausch hinein, mit dem die Eltern dann lautstark konfrontiert werden. Es ist ihnen dann nicht möglich, in den Dickkopf des Kindes vorzudringen oder besänftigend auf es einzuwirken.

Das Verhalten durch Trotz gründet sich auf dem bereits erlernten Wissen, dass Wünsche durch bestimmte Aktionen erfüllt werden. Während die Befriedigung der Bedürfnisse durch Schreien vorher geklappt haben, müssen Kinder mit den von ihnen erlernten Ausdrucksmöglichkeiten neue Strategien entwickeln. Hier ist auch das erste Mal möglich, dass ein Kind sich selbst im Spiegel nicht nur wahrnimmt, sondern auch als das eigene Ich erkennt. Das stärkt die Ich-Identität und damit auch den Willen, Dinge durchsetzen zu wollen. Wenn das einfache Weinen nicht mehr hilft, wandelt sich der Frust in Wut und in den Verlust der Kontrolle. Reagieren Eltern dann auch noch negativ und genervt, schaukeln sich die Gefühle nach und nach hoch.

Für Eltern ist wichtig, die ersten Vorzeichen schneller zu erkennen, bevor sich das Kind in einen wahren Wutzwerg verwandelt. Ein echtes Patentrezept gibt es jedoch nicht, um solche Ausbrüche ganz zu unterbinden oder kontrollierter ablaufen zu lassen. Hier gilt es, auszuprobieren, was hilft und worauf das Kind günstig reagiert.

Natürlich bleiben Regeln und Grenzen wichtig, um Kinder vor möglichen Gefahren zu schützen und das Sozialverhalten zu verbessern. Ein klares „Nein“ ist genauso wichtig wie die Erklärung, weshalb bestimmte Dinge eben nicht gehen. Für Eltern sollte immer klar sein, dass die Trotzphase normal ist. Der Zornausbruch darf daher nicht persönlich genommen werden, unabhängig davon, wie stark das Kind tobt und schimpft. Die Wut richtet sich nicht gegen bestimmte Bezugspersonen, sondern ist lediglich mit dem kindlichen Willen, dem vorherrschenden Wunsch und der jeweiligen Situation verbunden. Ist der Zorn wieder abgeklungen, hilft Nichtbeachtung wenig. Vielmehr sind Kinder dann erschöpft und traurig und benötigen umso mehr Zuwendung und aufmunternde Worte. Dadurch lernt das Kind nicht, dass es richtig gehandelt hat, sondern dass es auch dann geliebt wird, wenn es sich falsch verhält.

In der Trotzphase und bei einem Ausbruch muss ein Kind erkennen, dass Aggression und Gewalt zu nichts führen. Eltern müssen entsprechend erklären, weshalb das Schlagen, Treten oder Beißen falsch ist. Sehr schlecht lernt ein Kind in Momenten, wenn Eltern selbst genervt reagieren, das Kind anschreien oder unsanft in sein Kinderzimmer schleifen. Dass die Phase dennoch eine wahre Zerreißprobe ist, ist klar. Auch Erwachsene mit einer sehr hohen Toleranzgrenze können hier die Nerven verlieren. Dann bringt es nichts, sich Vorwürfe zu machen. Eltern sollten sich in dieser Situation die eigenen Gefühle zugestehen und diese akzeptieren. Das erleichtert, dass eine übereilte Reaktion nicht wiederholt wird.

Die Ausbrüche werden mit der Zeit seltener und weniger heftig, können dennoch weiter auftreten. Gründe dafür sind häufig eine Überforderung, eine Unterforderung, zu wenig Bewegung, die Reizüberflutung durch Umwelt und Medien oder ein falsches Rollenverhalten. Werden an das Kind zu hohe Erwartungen gestellt, die es nicht erfüllen kann, fühlt es sich schnell unbrauchbar oder unfähig. Dann kompensiert es diese Gefühle nicht nur mit Zorn, sondern auch mit einem zunehmenden Minderwertigkeitsgefühl. Herrscht Bewegungsmangel oder trifft das Kind ständig auf Verbote, kann die Reaktion ebenfalls aus der Enttäuschung heraus Wut erzeugen. Kinder, die sich dagegen austoben dürfen, sind meistens gelassener und weniger aufbrausend. Nicht umsonst heißt es, dass ein Kind sich müde toben sollte. Das fördert auch den besseren Schlaf.

Die richtige Erziehung gibt es nicht - eine Schadensbegrenzung

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