Читать книгу Der Moment, der alles änderte - Julia Thurm - Страница 12

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Als es draußen noch dunkel war, wachte ich auf. Sofort fielen mir das Foto und die Halskette ein. Unruhig und grübelnd wälzte ich mich im Bett hin und her, bevor ich verschlafen einen Blick auf den Wecker warf: Es war erst vier Uhr. Ich öffnete die erste Schublade meines kleinen Nachtschränkchens und holte meinen Fund vom Vortag heraus.

Wieder stellte ich mir die gleichen Fragen: Wer war dieser Mann auf dem Foto? Wieso hing die Kette daran und was sollte CHPFFRBSLNY bedeuten? War das ein Code für ein geheimes Schließfach oder die Abkürzung eines Namens oder einer Firma, die die Kette hergestellt hatte? „Das wäre aber ein ziemlich langer Name“, dachte ich ironisch.

Immer wieder wälzte ich die gleichen Fragen in meinem Kopf hin und her, doch nach einer Weile schlief ich über diesen Gedanken erneut ein.

Als ich ein paar Stunden später, etwa um neun Uhr, auf dem Bauch liegend erwachte, fiel mein Blick sofort auf die offen stehende Schublade. Dann der kurze, aber wirkungsvolle Schock: Das Foto und die Kette waren verschwunden!

Als ich hektisch aufstehen wollte, um danach zu suchen, bemerkte ich, dass ich Kette und Foto unter mir begraben und seelenruhig darauf geschlafen hatte. „Puh, und ich dachte schon ...“, entfuhr es mir erleichtert. Vorsichtig legte ich meine Fundstücke zurück in die Schublade, zog mich an und ging in die Küche, um zu frühstücken.

Meine Schwester schien ebenfalls gerade erst aufgestanden zu sein. „Morgen, na, gut geschlafen?“, begrüßte sie mich gut gelaunt.

„Ja, ganz okay, und du?“, brummelte ich ihr entgegen.

„Sehr gut sogar“, strahlte sie. Schon seltsam, dass meine Schwester um neun Uhr morgens so gute Laune hatte. Nun kam auch Spike und begrüßte mich mit viel Hundegesabber und freudigem Schwanzwedeln. Als ich mir einen Schokotoast machte und die Milch aus dem Kühlschrank holte, roch es plötzlich ziemlich seltsam.

„Igitt! Was ist das denn?“, fragte ich Christin geschockt.

Meine Schwester lief zum Kühlschrank. „Ach, das ist der Fruchtcocktail, den ich gestern gemixt habe.“

„Was ist denn da alles drin?“ Angewidert rümpfte ich die Nase.

„Alles Mögliche“, antwortete Christin ausweichend.

„Ja, so riecht es und sieht es aus“, meinte ich, als ob ich die Antwort meiner Schwester schon erwartet hätte. Ich schüttelte den Kopf, nahm die Milch und schüttete sie in ein Glas.

Da legte meine Schwester plötzlich etwas Papierenes auf den Tisch, das ich nur aus den Augenwinkeln wahrnahm. „Was ist das?“, fragte ich neugierig.

„Eine Broschüre deiner neuen Schule.“

„Was?!“ Völlig überrumpelt starrte ich auf den Prospekt. Die New Yorker Friedensschule, eine Schule für Problemkinder, stand ganz oben.

„Ich hab schon angerufen und ab morgen besuchst du dort den Unterricht“, teilte mir Christin mit.

„Was, ab morgen schon? Was soll das überhaupt? Ich bin doch kein Problemkind!“, widersprach ich.

„Keine Diskussion! Außerdem hätte dich keine andere Schule mehr aufgenommen. Du weißt selbst am besten, was du angestellt hast, dass ich dich nun auf so eine Schule schicke.“

„Vergiss es, da geh ich nicht hin!“

Doch Christin reagierte nicht mehr darauf, sondern wechselte das Thema. „Nach dem Frühstück gehst du bitte mit Spike Gassi.“

Ich wollte noch einmal zu protestieren anfangen, unterließ es aber, als ich den entschlossenen, keinen weiteren Widerspruch duldenden Gesichtsausdruck meiner Schwester bemerkte. „Ja, mache ich“, murmelte ich stattdessen genervt und wandte mich meinem Frühstück zu.

Wie immer waren Spike und ich auf dem Weg zum Saint Mary’s Park, der nicht weit von zu Hause entfernt lag. Aus purer Neugier machte ich einen kleinen Umweg an meiner alten Schule vorbei, in der Hoffnung, vielleicht Drake über den Weg zu laufen. Was eigentlich ziemlich unwahrscheinlich war, denn es war 10.15 Uhr und Mittagspause war erst um 12.10 Uhr. Also spazierte ich weiter in Richtung Park, wo ich Spike auf der Hundewiese von der Leine nahm und mit ihm Fangen und Hol-das-Stöckchen spielte. Wir waren beinahe völlig alleine, denn vormittags war hier noch nicht viel los.

Nach zwei Stunden intensiven Spielens und Kuschelns wurde es Zeit, nach Hause zu gehen. Wieder machte ich den Umweg an meiner alten Schule vorbei. Ich wusste nicht genau, was ich mir davon erhoffte, aber ich hatte so ein Gefühl, dass es richtig war, diesen Weg zu nehmen. Immerhin war es jetzt 12.06 Uhr. Also, warum nicht?

Kurz vor dem Schulgelände blieb ich stehen. Nachdem ich einige Minuten vor mich hin starrend dort verweilt hatte, wollte ich weitergehen. Doch dann entdeckte ich das, was ich zu sehen gehofft hatte: Drake. Mich ihm nähern durfte ich nicht, denn es war mir nicht erlaubt, das Schulgelände zu betreten. Aber seit wann hielt ich mich an Regeln?

Als ich gerade auf ihn zusteuern wollte, sah ich das, was ich nicht zu sehen gehofft hatte: Amy. Sie stolzierte auf Drake zu und fing an, ihn zu bequatschen. Doch das war nicht alles, denn plötzlich hielten die beiden Händchen und küssten sich innig.

Autsch! Das tat weh.

„Nur Freunde ... Alles klar“, murmelte ich verletzt. Das war zu viel für mich. Ich hastete weiter, immer noch völlig geschockt von dem, was ich eben gesehen hatte.

Als ich zu Hause angekommen war, bemerkte ich, dass meine Schwester nicht da war. Am Kühlschrank hing ein gelber Zettel.

Bin bei einem Bewerbungsgespräch. Komme in etwa einer

Stunde wieder.

Die Arme! Sie hatte schon so viele Absagen bekommen und gab trotzdem nicht auf. Wenn das mal kein Arbeitswille war!

Ich setzte mich auf die Couch und schaltete den Fernseher ein. Spike legte sich zu mir und schmiegte sich an mich.

„Komisch, das machst du doch normalerweise nur abends, Spike“, meinte ich ziemlich verwundert. Wahrscheinlich merkte er, dass mich die Sache mit Drake und Amy doch ziemlich mitgenommen hatte, und wollte mich trösten.

Ich zappte mit der Fernbedienung durch einige Sender, bis ich bei CNN landete. Dort lief gerade ein Bericht von der Wall Street, wie es um den Börsenmarkt stand. Doch das interessierte mich nicht, ich war in andere Gedanken vertieft. Mir fiel auf, dass ich zum ersten Mal in meinem Leben keinerlei Emotionen gezeigt hatte, obwohl ich sonst ständig wütend war und schnell ausrastete. Jedenfalls war dies seit dem Unfall, bei dem meine Eltern gestorben waren, so gewesen.

Damals, vor etwa zehn Jahren an einem sonnigen Sommertag, spielten meine Schwester und ich im Saint Mary’s Park ausgelassen miteinander. Wir hatten sehr viel Spaß. Irgendwann rief meine Mom auf Christins Handy an und forderte uns auf, nach Hause zu kommen, da es schon spät wäre. Wir packten unsere Sachen zusammen, und da es nicht weit war, brauchten wir nicht lange für den Weg.

Es war ein völlig normaler Tag. Wir aßen alle gemeinsam zu Abend, danach durften Christin und ich noch ein wenig fernsehen.

Um 20 Uhr brachte mich Mom ins Bett und sagte zu mir: „Schlaf jetzt schön, mein Schatz, denn morgen machen wir zusammen einen Ausflug und dafür musst du ausgeruht sein. Okay?“ Sie gab mir einen Gutenachtkuss und verließ das Zimmer.

Kurz darauf war ich auch schon eingeschlafen.

Am nächsten Morgen erwachte ich sehr aufgeregt, denn der versprochene Ausflug sollte nach Philadelphia gehen, wo wir mit Delfinen schwimmen würden. Nach dem Frühstück packten wir alles zusammen und fuhren mit dem Auto los. Es war ein langer Weg bis nach Philadelphia und bis heute frage ich mich, warum wir eigentlich nicht geflogen sind. Das Geld dazu hätten wir gehabt.

Nachdem wir New York verlassen hatten, ging es auf die Autobahn. Eine Weile konnte man frei fahren, doch nach etwa zwölf Meilen bildete sich ein kleiner Stau. Da die Straße mehrspurig war, erblickte ich direkt neben uns einen schwarzen Van, dessen Scheiben ebenfalls schwarz getönt waren. Er sah unheimlich aus und machte mir ein wenig Angst. Ich war ja erst vier Jahre alt. Plötzlich wurde das Fenster der Fahrerseite heruntergelassen. Aber nur so weit, dass man die dunkelbraunen Augen des Fahrers erkennen konnte. Diese starrten mich erst reglos an, dann zwinkerten sie mir zu, bevor das dunkle Fenster wieder hochfuhr.

Ich sah mich um, keiner außer mir schien das gesehen zu haben. Weder meine Schwester, die neben mir saß, noch unsere Eltern.

Meine Mom drehte sich zu mir um und fragte besorgt: „Alles okay, Katie? Du guckst so merkwürdig.“

Ich antwortete: „Ja, Mommy, alles in Ordnung.“

Sie strahlte mich an und drehte sich wieder in Fahrtrichtung.

Nach einigen Minuten löste sich der Stau auf, was ziemlich ungewöhnlich war, und man konnte problemlos weiterfahren.

Ich erinnere mich noch genau an diese Situation. Meine Schwester hörte Musik, meine Eltern ließen das Radio laufen, summten ihren Lieblingssong mit und ich spielte mit meinem Plüschhund Jack. Spike hatten wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Plötzlich sah ich durch das Rückfenster den schwarzen Van wieder. Dieses Mal befand er sich hinter uns. Aber nicht lange, denn er überholte uns ziemlich schnell, mit mindestens 200 km/h rauschte er an uns vorbei. Eine Geschwindigkeit, die auf amerikanischen Autobahnen nicht erlaubt ist. Nach kurzer Zeit war der Van in der Ferne verschwunden und ich konnte ihn nicht mehr sehen.

Und dann passierte es: Ich hörte einen lauten Knall, einen panischen Schrei und nahm wie in Trance ein helles Licht wahr.

Dann nichts.

Ich wurde bewusstlos und wachte erst wieder auf, als Feuerwehrmänner versuchten, mich aus dem Auto zu befreien. Das Komische war, dass sich alles in Zeitlupe bewegte. Außerdem sah ich die Welt falsch herum, da das Auto auf dem Dach lag. Man holte mich aus dem Wagen und ich sah, was den Knall ausgelöst hatte. Mindestens 20 qualmende Fahrzeuge standen auf der Straße und 50 weitere waren bereits völlig ausgebrannt. Man kann sich dieses traurige Bild nur schwer vorstellen, wenn man nicht selbst dabei war. Ich wurde in einen Krankenwagen verfrachtet und sah meine Schwester und meinen Dad. Beide wurden gerade wiederbelebt. Aber damals verstand ich das noch nicht, also schrie ich: „DADDY!“ Doch er antwortete nicht.

Ich blickte zu meiner Schwester. Beide hatten Verbrennungen, bei meinem Vater waren sie so schlimm, dass man sogar schon teilweise seine Knochen sah. Ich blickte aus dem Krankenwagen hinaus und sah Mom. Sie war, körperlich betrachtet, kein kompletter Mensch mehr. Gerade wurden ihre sterblichen Überreste in einen Sarg gelegt. Das war zu viel für mich. Ich wurde erneut bewusstlos und kam erst im Krankenhaus wieder zu mir.

Christin lag mit einer Atemmaske neben mir. Doch das war schon alles, was ich erkannte, denn ich war extrem schwach und schlief sofort wieder ein.

Erst als ich am nächsten Morgen aufwachte, bemerkte ich, dass ich eine Platzwunde am Kopf und einen Verband am rechten Unterarm hatte. Eine Krankenschwester brachte mir Essen und Trinken. Aber ich konnte nichts zu mir nehmen, geschweige denn reden oder weinen. Ich sah einfach nur hinüber zu meiner Schwester, und zwar an jedem einzelnen Tag der Woche. Ich konnte nicht schlafen aus Angst, ich würde den Moment verpassen, wenn Christin aufwachte.

Nach einer langen Woche des Wartens dachte ich, sie würde nicht mehr zu mir zurückkehren. Doch als ich die Hoffnung schon fast aufgegeben hatte, wachte meine Schwester endlich auf. Sie war schwach und erschöpft, aber sie war wach und das war das Wichtigste für mich. Nach einer weiteren Woche ging es ihr deutlich besser. Ihre Schmerzen ließen nach, allerdings trug sie einen dicken Verband am linken Arm, an den Schultern, im Brustbereich und am Hals. Nachdem uns eines Tages einer der Ärzte untersucht hatte, fragte meine Schwester nach unserem Dad. Der Arzt sagte, dass er auf der Intensivstation im Koma läge. Auf die Frage, ob wir ihn besuchen könnten, reagierte er zunächst skeptisch, stimmte aber schließlich zu.

Noch am selben Tag wollten wir ihn sehen und machten uns auf den Weg zur Intensivstation des Krankenhauses. Dad lag ebenso reglos in seinem Bett wie Christin zuvor, allerdings waren seine Verletzungen weitaus schwerwiegender.

Nach einer Weile fragte meine Schwester den Arzt, der uns begleitet hatte, nach unserer Mom. Sie hatte bis zu jenem Zeitpunkt noch nicht mitbekommen, dass diese nicht mehr unter uns weilte. Ich hatte es ihr nicht sagen können, genau genommen, hatte ich seit dem Unfall überhaupt nicht mehr gesprochen. Der Arzt versuchte, meiner Schwester schonend die Wahrheit beizubringen, doch das erwies sich als ziemlich schwierig. Es dauerte, bis die volle Bedeutung seiner Worte zu Christin durchgedrungen war, doch als sie es schließlich begriff, weinte und schluchzte sie ohne Unterlass. Ich konnte nichts für sie tun, sie war untröstlich.

Mir hingegen war es unmöglich zu weinen. Das Einzige, was ich noch fühlte, waren Kälte und ein unendlicher Schmerz.

Nur einen Tag später starb auch Dad an den Folgen des Unfalls. Von diesem Zeitpunkt an war nichts mehr wie vorher. Wir wären auf uns allein gestellt gewesen und in ein Heim abgeschoben worden, wenn Tante Grace nicht das Sorgerecht für uns bekommen hätte.

Ich nahm nicht an der Beerdigung unserer Eltern teil, weil ich darum gebeten hatte. Der Schmerz war einfach zu groß für mich.

Der Moment, der alles änderte

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