Читать книгу Der Moment der Stille - Julia Thurm - Страница 10

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Veränderung

Die Blüten des Kirschbaumes sind verblüht. Ein letztes Mal wird der Wiese ein neuer Haarschnitt verliehen, bevor das weiße Pulver sie in ganzer Hülle ummantelt. Die Kinder der Entenfamilie sind nun von den Eltern kaum zu unterscheiden. Sie machen sich bereit, um aufzubrechen in ihr eigenes Leben. Nicht nur der Sommer muss sich verabschieden. Ich sitze auf dem Bett und betrachte von meinem Fenster aus, die fallenden Blätter der Bäume. „Ein Jahr“, wiederhole ich immer wieder in Gedanken. Ein Jahr, in dem ich eine andere Seite des Lebens kennengelernt habe. Ich lernte Menschen kennen, die ebenfalls ein schweres Paket mit sich tragen. Aber ich lernte auch eine Seite kennen, die mir zeigte, dass ein Jahr nicht reicht, um mit all dem Geschehenen zurechtzukommen. Jedoch auch, dass es in Ordnung ist, dies noch nicht zu können.

Das Trauma hat sich in den zurückliegenden sechs Monaten verändert, es hat mich verändert. Ich lebe nun mit meinen Dämonen. Drake und Rachel begleiten mich seit geraumer Zeit häufiger. Wie kleine Mäuse schleichen sie sich in meine Gedanken. Egal, zu welcher Tageszeit das auch sein mag, ob ich schlafe oder ob es eine Mahlzeit ist, die ich einnehme, diese Seelen schließen sich allem an, was ihnen Freude bereitet. Auch in diesem Augenblick sitzen sie neben mir und betrachten mich wie eine Dokumentation auf ARTE. Sie betrachten mich immer aus bestimmten Blickwinkeln heraus. Ich empfinde es als herablassend und wütend auf meine Wenigkeit. Doch ihre Mimik ist nichtssagend. Auch wenn das Gefühl der Schuld jedes Mal im Herzen einen neuen Kratzer hinterlässt, kann ich es zulassen, es aushalten, dass sie da sind. Unzählige Therapiestunden, die ich damit verbrachte, genau dies zu lernen. Es ging hier in der Klinik nie um das Loswerden. Sondern darum, damit leben zu können. Den Rest schaffe ich hoffentlich aus eigener Hand. Ich betrachte das Armband an meinem Handgelenk. Ab morgen werde ich von dieser Fessel befreit. Bin ich bereit dafür? Eine Frage, die mir auch mein Seelendoktor, an diesem Morgen gestellt hat.

„Ich weiß es nicht, in zwölf Monaten kann viel passieren. Vieles da draußen kann sich verändert haben und vieles hier drinnen auch“, war meine nachdenkliche Antwort. „Was ist, wenn ich mit meiner neuen Umwelt nicht zurechtkommen werde?“ Besorgt sehe ich ihn an.

Schmunzelnd leg er seine Brille zur Seite und beugt sich zu mir. „Seien Sie offen für Neues und denken Sie daran, dass Sie das, was Sie fühlen, zulassen und Veränderungen annehmen. Das ist die beste Vorbereitung, die Sie treffen können“, lächelte er.

In seinen Augen sah ich heute Morgen Zuversicht. Er glaubt an mich, mehr als ich es selbst tue. Aber das ist ja auch nicht schwer. Ich stehe von meinem Bett auf und gehe zu meiner Kunstmappe, die man mir heute mitgegeben hat. Als ich sie öffne, springt mir sofort das Bild der letzten Stunde ins Auge.

Ich malte ein Bild, mit kräftigen Farben, auf dem ein Meer oder ein großer Fluss zu sehen ist und dahinter die untergehende Sonne. Am Ufer sitzt ein Mädchen, sie trägt ein weißes Sommerkleid. Der Wind weht durch den leichten Stoff und lässt es durch die Luft tanzen. Sie lächelt und erfreut sich am Sonnenuntergang. Ihr Körper wirft zwei Schatten. Einen mit langen und einen mit kurzen Haaren. Etwas niedergeschlagen möchte ich das Bild wieder dort hinlegen, wo es so wenig Aufmerksamkeit wie möglich bekommt.

Aus dem Augenwinkel heraus sehe ich ein Gemälde, das es sich unterhalb der Mappe gemütlich gemacht hat. Von dem Moment an, als der Pinsel die Leinwand traf, war es anders. Nicht besser oder schlechter, es stand für sich. Langsam hebe ich es hoch und berühre es sacht. An manchen Stellen kann man die angetrocknete Farbe besonders gut spüren. Es hat eine interessante Wirkung auf mich. Ein Gefühl, das ich nicht erklären kann. Falls es dafür ein Wort gibt, hoffe ich bald, Bekanntschaft mit ihm zu machen. Meine Augen schließen sich. Meine Mundwinkel werden breiter. Irgendwann werde ich wissen, wieso ich dieses Bild gemalt habe und wieso es mich so empfinden lässt. Vorsichtig lege ich es zurück. Man sollte sich nicht mit anderen vergleichen, – mich mit mir selbst allerdings schon.

Das allererste Bild, das ich vor einem Jahr anfertigte. Als ich dies hochnehme, wird deutlich, in welchem Zustand ich mich damals befand. Hier wurde mit viel dunkleren Tönen gearbeitet, etwas abstrakt und nur bei genauerem Entgegensehen kann man erkennen, dass ich den Albtraum malte, in dem ich in einem Meer aus Blut ertrinke. Am Rand viele schwarze Schatten und ein Mädchen.

In den Kunststunden war es immer so, dass wir im Anschluss alle zusammen in einem Kreis saßen und jeder sagte etwas zu seinem Gemälde. Besonders auf meine Kunstwerke waren immer alle gespannt. Das lag, glaube ich heute, weniger an meinem Verständnis für die Malerei als vielmehr an der Tatsache, dass ich auch dort die eine war und mein Hang zur Übertreibung deutlich wurde. Ich lasse diese Albtraumverursacher wieder zurück in die Mappe verschwinden und lege diese auf meinen bereits zur Hälfte gepackten Koffer. Noch einen Augenblick lang verharren meine Augen auf den Berg der Leistungen, die ich nach zwölf Monaten mit nach Hause nehme.

Die Furcht, dass mein Leben da draußen mich wieder zu der Person machen könnte, die ich nicht mehr sein will, ist groß. Doch ebenso gewaltig ist die Freude, die ich empfinde, wenn ich an Christin, Dina, Joe und Glen denke.

Ein letztes Mal will ich mir die Turnschuhe anziehen und mich in den Park begeben. Während ich die Schnürsenkel des linken Schuhs langsam zur Schleife forme, verspüre ich das Verlangen, das frisch gemähte Gras zwischen meinen Zehen zu spüren. Ein letztes Mal, bevor sich der Sommer endgültig verabschiedet.

Ich gehe nach draußen. Weich fühlt sich das Grün an. Beinahe jeder Halm ist spürbar. Die Erde trägt noch die Wärme der Sonne in sich und gibt mir ein angenehmes und geborgenes Gefühl. Ich bleibe vor der alten Parkbank stehen, auf der ich Tag für Tag meine Verbindung nach Hause suchte. Es hört sich wohl verrückt an, aber der Ort hier wird mir fehlen. Ein letztes Mal platziere ich mich auf dieser Sitzmöglichkeit. Auch Drake und Rachel scheinen etwas frische Luft zu brauchen und setzen sich neben mich. Wie zwei alte Freunde, die ich nach all der Zeit im Park wiederfinde. Als würden sie mir die Sicht auf den kleinen See wenigstens heute nicht ruinieren wollen. Nach einer Ewigkeit darf ich die Sonne – ein letztes Mal an diesem Ort – untergehen sehen. Majestätisch sieht sie in ihrem flammenden Rot aus und doch wirkt sie melancholisch wie nie. Nur Minuten später ist sie weg – mit der Sonne geht auch die Wärme, aber niemals das Licht. Denn der Mond und die Sterne sind immer da, wenn es dunkel ist. Ich spüre den frischen Wind an den Füßen, die beginnende Gänsehaut. Also beschließe ich, aufzustehen und ein letztes Mal abseits des Weges zu gehen. In ein Zimmer, in dem ich zum letzten Mal die Augen schließen werde. Denn morgen ist der Moment gekommen, der mein Leben erneut verändern wird ...

Der Moment der Stille

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