Читать книгу Der Moment der Stille - Julia Thurm - Страница 12

Das neue Leben

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Das letzte Stück, das in meinem Koffer fehlt, ist das Gruppenfoto, welches man mir zum Abschied damals mitgegeben hatte. Der schlichte Goldrahmen, der nur an den Ecken verschnörkelt ist, trägt bereits eine dicke Staubschicht. Mit meiner Hand versuche ich, so viel wie möglich von diesem Dreckfilm zu entfernen. Ganz gelingen will mir das nicht. Beim Betrachten des Fotos wird mir bewusst, wie sehr mir alle fehlen. Diese Menschen sind schließlich meine Familie. So sehr ich mich auf das Wiedersehen freue, so sehr trage ich auch Furcht in mir, wie alles seinen Lauf nehmen wird. Nicht nur die Angst, dass ich wieder zur depressiv traumatisierten Person dahinvegetiere, sondern auch die Frage, was ist, wenn ich nicht mehr zu ihnen passe? 365 Tage lang starrte ich in eingefrorene Gesichter und trotzdem gab dieses Foto mir so viel Halt. Dieses Stück Papier war meine Heimat, da ich keinen Kontakt – weder mit meiner Schwester noch mit sonst wem – haben durfte, um mich auf mich selbst konzertieren zu können. Was ist, wenn ein Jahr ausgereicht hat, um mich so zu verändern, dass mein Puzzleteil nicht mehr in das Gesamtbild passt? Was ist, wenn ich mit meiner Umwelt zurechtkomme, doch diese nicht mit mir? Es gibt keine Fragen, die mir mehr Gänsehaut bereiten als diese. Dennoch werde ich die Antworten nur herausfinden, wenn ich es versuche. Mit den immer wiederkehrenden Fragen in meinem Kopf packe ich das Foto ganz oben auf den Kleidungs- und Kunstberg. Dann schließe ich den Reißverschluss, der fast ganz um den Koffer geht. Ohne die tatkräftige Unterstützung meiner Knie wäre er nicht so leicht zu schließen gewesen. Nun ist er zu.

Diese Reise wäre geschafft, ein Hügel von vielen folgenden überwunden. Mit dem Zuriegeln des Koffers packe ich nicht nur neue Erfahrungen ein, sondern auch alte Begleiter, von denen ich dachte, ihre Fesseln innerhalb eines Jahres abstreifen zu können. So einfach ist das nicht. Drake und Rachel nehme ich ebenso wieder mit nach Hause wie das Schuldgefühl. Eines Tages fällt der Apfel. Das war die Hoffnung, die man mir mit auf den Weg gegeben hatte.

Bevor ich die Türe hinter mir schließe, wandert mein Blick noch einmal durch das Zimmer. Ich lächle und doch merke ich, wie sich ein kleiner Teich in den Augen sammelt. Dieses Zimmer gab und nahm mir vieles. Vor allem Schlaf. Dann schließe ich das Tor, atme tief ein und rolle ein letztes Mal mit meinem Koffer durch die Flure. Meine Nase nimmt jedes Mal die furchtbaren Gerüche wahr, egal wie oft ich sie schon gerochen habe. Etwas, das ich nicht vermissen werde. Ich klopfe am Zimmer des Chefprofessors, der mit heute meine Entlassungspapiere ausstellen wird. Eigentlich werden diese von einer Betreuerin oder den zuständigen Psychologen überreicht. Ich scheine wohl auch für ihn ein spezieller Fall zu sein, dem er die Papiere wohl lieber persönlich aushändigt.

„Guten Morgen, Miss Smith. Setzten Sie sich doch bitte“, begrüßt er mich freundlich, strahlend und mit ruhiger Stimme.

„Guten Morgen, Professor Franklin“, erwidere ich ebenfalls freundlich.

„Wie fühlen Sie sich?“, fragt er zuversichtlich, während wir uns an seinem prunkvollen Schreibtisch platzieren.

„Gut, gut. Danke“, antworte ich etwas zögernd.

„Sie haben Angst, nicht wahr? Lassen Sie mich Ihnen eines sagen. Die Angst ist nicht unser Feind. Angst ist versteckter Mut, der sich nicht traut, herauszuspringen. Also sein Sie mutig. Ich habe selten so eine starke junge Frau wie Sie getroffen. Ich bin mir sicher, auch Sie werden Ihre Stärke bald erkennen“, gestikuliert er wild vor sich hin.

Professor Franklin ist mit Sicherheit nicht mehr der Jüngste, was er mit seinen Augen nicht mehr sehen kann, macht er mit seinen Weisheiten wohl wieder gut. Das Einzige, dass ich auf seinen Vortrag reflektieren kann, ist ein respektvolles Nicken. Geduldig entfaltet er die Entlassungspapiere, um seine Unterschrift darunter zu setzen. Mit etwas zittriger Hand nimmt er den Deckel des Füllers ab und fängt an, kritzlige Linien zu produzieren. Danach faltet er die Papiere dreimal, steckt sie in einen weißen Umschlag und überreicht sie mir. Gebannt starre ich auf den Brief. Professor Franklin schmunzelt und nickt. Ich schau ihm in die Augen, ein tiefes, von Herzen kommendes: „Danke“, ist alles, was ich herausbekomme.

„Danken Sie nicht mir, Miss Smith. Danken Sie sich selbst“, sagt er, während er aufsteht und mich zu Türe hinausbegleitet. „Und vergessen Sie nicht, hin und wieder mal das Blatt zu wenden, Miss Smith“, nickt er.

In der Unverständlichkeit dieses Satzes werfe ich Professor Franklin einen fragenden Blick zu. Als ich gerade etwas dazu sagen will, reicht er mir seine Hand und verabschiedet sich in aller Förmlichkeit – so wie es Professor Franklins Art nun mal ist – und schließt die Tür hinter mir.

„Okay?“, flüstere ich leise für mich. Ich nehme meinen Rollkoffer, den ich vor der Türe geparkt hat, und rolle damit weiter den kahlen Korridor entlang. Immer wieder wandert mein Blick zurück zu Professor Franklins Tür und zugleich auch immer auf den weißen Umschlag.

„Das Blatt wenden?“, flüstere ich erneut. In meinen Gedanken versunken, bemerke ich erst im letzten Augenblick, dass ich nun am Ausgang der Klinik stehe. Davor haben sich alle versammelt – meine Kunsttherapeutin, mein Psychologe und ein paar Patienten, mit den ich hin und wieder mal eine Unterhaltung geführt habe. Aber auch die Person, die mich in meinen schlimmsten Zuständen erlebt hat. Eve. Meine Nachtbetreuerin, meine beste Freundin in diesem Jahr. Sie hält einen Blumenstrauß mit gelben und orangen Dahlien in den Händen und kämpft sichtlich mit den Tränen. Das alles hier erfüllt mich mit Dankbarkeit, denn ich hätte nie gedacht, dass ich diesen Menschen etwas bedeute. Meine Kunsttherapeutin schenkt mir eine herzliche Umarmung und gibt mir auf den Weg, mit dem Malen nicht aufzuhören. „Ich sehe da Talent“, sprach sie einmal zu mir. Von meinem Psychologen bekomme ich wie immer einen festen Händedruck und ein leichtes Getätschel auf die Schulter. Nachdem ich jedem anderen Lebewohl gesagt habe, verabschiede ich mich von Eve.

„Danke dir für alles. Ich glaube, du hast mich aus den tiefsten Löchern geholt, Eve“, sage ich mit Wehmut und viel Dankbarkeit. „Ich werde dich vermissen.“

„Ach, Katie“, ist alles, was sie sagt. Dann drückt sie mich fest und lange. Ein Moment, von dem ich weiß, dass er einen festen Platz in meinem Herzen sicher hat. „Die hier sind für dich“, überreicht sie mir mit verschmierter Wimperntusche den Dahlienstrauß. Noch einmal umarmen wir uns.

Es ist vorbei. Ich darf in ein neues, altes Leben zurückkehren.

Die Schiebetür öffnet sich, ein letztes Mal blicke ich zurück. Winkend drehe ich mich um. Meine Füße übertreten die Schwelle, die mich einst vor mich selbst gerettet hat. Ich spüre den Wind in meinem Gesicht, als wäre er ein anderer wie gestern. Am Ende des Weges ist der Parkplatz der Klinik. Dort steht ein weinroter Range Rover und lässig dagegen lehnend ... Christin. Sie hat mich noch gar nicht bemerkt. Emotional in einer Achterbahn gefangen, lache und weine ich zugleich. Ich laufe schneller, gerade in dem Moment, in dem ich ihr zurufen möchte. Hüpfend, von Gefühlen überwältigt, in der einen Hand den Blumenstrauß, in der anderen die Entlassungspapiere und den Henkel des Koffers. Da passiert es. Am Ende des Parkplatzes, weit hinter dem Range Rover, erblicke ich eine Person. Es hätte jeder sein können, der da durch Zufall steht. Weiße ausgewaschene Chucks, schwarze Jeans, deren Stoff an den Knien schon so dünn ist, dass dieser bald reißen wird, schwarzer Kapuzenpulli und blaue Jeansjacke. Ich werde langsamer. Es ist, als ob man mir kurz den neu gewonnen Boden nimmt. Fast schon zu berechenbar, lasse ich den Koffer und den Umschlag fallen. Aus dieser Entfernung ist es schwer, alles genau zu erkennen. Ob dieser Geistesblitz, den ich im Kopf habe, stimmt? So seelenruhig wie diese Person dort steht, scheint sie eher auf anderer Mission zu sein, als auf mein Herauskommen zu warten.

„Das ist heute alles sehr viel. Meine Gedanken spielen nur verrückt“, spricht die Selbsthilfe aus mir.

Gerade als ich mich bücke, um den Umschlag und den Henkel des Rollkoffers wieder in die schwitzende Hand zu nehmen, sehe ich im Augenwinkel, dass Christin mich nun bemerkt hat. Strahlend rennt sie auf mich zu, „Katie!“, platzt es aus ihr heraus.

Ich verliere fast den Halt auf den Beinen, als sie mich in den Arm nimmt. Meine Schwester zu halten, ist, als würde mein Rückgrat alle Wirbel wieder dort hinschieben, wo sie hingehören. Ich vernehme ihr Schluchzen, ihr Herz rast ebenso wie meines. Nie habe ich mehr Liebe und mehr Vollkommenheit zur selben Zeit empfunden. Ich habe meine Blutsverwandte wieder. Ein großes Herz, das in zwei Körper schlägt. Große Krokodilstränen fließen über meine Wangen. Ich bin zu Hause. Diese Gerüche, die Gespräche, füreinander da sein. Die Erinnerungen.

Dieser Moment soll ewig dauern. So sehr man sich dies wünscht, ist er einen Augenblick später verstrichen. So ist das nun mal. Das, was er einem gegeben hat, bleibt für immer. Dies sage ich nicht, weil ich die Weisheit besitze, dass ein Moment nicht ewig währt, nein, dies ist die Erkenntnis aus zahlreichen Augenblicken, die vorbeistrichen. Es brach mir jedes Mal aufs Neue das Herz, diese erloschen zu sehen, und doch vergaß ich keinen davon – und dies ist die wichtigste Lektion. Wie lange ein Augenblick schon entfernt liegt, spielt keine Rolle, sondern nur, welche Bedeutung er für uns hat. So und nicht anders behält man Momente für sich, die von Belang sind.

Der Druck ihrer Arme fällt, langsam lösen wir uns voneinander. Sehen uns in die Augen. „Lass dich ansehen, wie groß du geworden bist“, betrachtet sie mich stolz von oben bis unten.

„Ich war nur ein Jahr weg, Christin“, antworte ich schniefend.

„Viel zu lange“, grinst sie. Während sie mir den Koffer und den Brief abnimmt, bestehe ich darauf, den Strauß Dahlien selbst zu tragen. Wir laufen zum Wagen. Mein Blick schweift noch einmal über den riesigen Parkplatz. Die Person, von der ich dachte, dass sie aussieht wie jemand Bestimmtes, ist weg.

Während Christin mein Gepäck im riesigen Kofferraum des Rovers verstaut, setze ich mich auf dem Beifahrersitz und betrachte den Briefumschlag. Professor Franklins Worte wollen mir ebenso nicht aus dem Kopf gehen wie das eben erblickte Fantasiegebilde. Als meine Schwester sich in das Auto setzt, ist die erste Frage, die ich stelle, wo die anderen sind. Christin schmunzelt nur und fährt los.

„Alles klar, wie fett wird die Überraschungsparty denn?“, lache ich ihr provokant entgegen. Sie schweigt und schüttelt grinsend den Kopf. Wohl in der Hoffnung, dass ich keine weiteren Fragen mehr stelle.

Meine Vergleichsmöglichkeiten mit diversen Partys sind verschwindend gering und mit gering meine ich nicht existent. Von diesem Standpunkt aus betrachtet muss ich mich heute tatsächlich überraschen lassen. Wieder und wieder schlage ich taktvoll den Brief gegen das Handschuhfach.

„Du siehst aus, als würdest du auf Glassplittern sitzen.“

„Ja, so in etwa.“

„Falls es die Party ist, die dich so beschäftigt, kann ich dich beruhigen“, grinst sie verlegen.

Wenn es nur das wäre. Ich schüttle den Kopf. Die Bäume und Häuser rasen an meinen Augen vorbei. Die Gedanken spielen den ganzen Weg über verrückt. Besser ist es, wenn ich Christin nichts davon erzähle. Sie würde sich nur unnötig Sorgen machen oder vermutlich sowieso an der Glaubwürdigkeit des Ganzen zweifeln. Mich selbst verwundert es allerdings, dass sie keine Kenntnis von ihm genommen hat.

„Wie war die Fahrt zur Klinik? Habe ich dich gar nicht gefragt.“

„Ganz gut, weniger los auf den Straßen als gedacht.“

„Hat also alles reibungslos funktioniert, schön.“

„Ja, das ist schön“, gibt sie wieder.

„Bist du jemandem begegnet, den wir kennen?“

„Begegnet?“

„Ja, weil es so ruhig und leer war, als ich rausgelaufen bin.“

„Ach so, nein nur hier und da sind ein paar Menschen vorbeigekommen. Wieso bohrst du so?“, will sie wissen.

„Nur so, war lange nicht unterwegs“, schließe ich die Unterhaltung ab.

Nach vier Stunden biegt der Range Rover in eine kleine Seitenstraße ab. Reihenhäuser so weit die Sehkraft reicht. Perfekt für Personen, die für eine Weile untertauchen müssen und eine schöne Bleibe suchen. Dina, die es kaum erwarten kann, die Türe zu öffnen, springt fast wie Bugs Bunny durch sie hindurch. Auffällig von der ersten Sekunde, in der ich sie sehe, ist, dass sie nach all der Zeit die eine Person ist, so scheint es, die sich nie verloren hat. Negatives prallt bei ihr ab wie der Ball bei einem Tennisschläger. Der Anker unter all den Menschen, die Gewicht in meinem Leben haben. Ich bin mir sicher, auch diese Menschen kommen irgendwann am Scheideweg an und überlegen: „Wohin nun?“ Man merkt es bei ihnen nicht, denn sie grübeln allein, weinen allein, sind stark allein. Auf diese Menschen sollte man besonders achtgeben. Denn auch dem besten Tennisschläger reißt mal eine Saite. Sie sieht großartig aus mit ihren hellblonden Locken, die ganz lässig auf den zarten Schultern Platz nehmen. In vier Jahren waren sie erstaunlich wenig gewachsen. Aber einem Engel, wie sie einer ist, steht jede Frisur.

„Du hast keine Ahnung, wie sehr ich dich vermisst habe!“ Mit diesen Worten klammert sie sich an mich. Ich schließe meine Augen und genieße ihr Dasein.

„Wir wollen auch noch was von ihr“, lacht Joe und greift sich meinen Arm. Er hebt mich hoch in die Luft und drückt mich, wie es ein großer Bruder tun würde. Seine neue Freundin scheint ihm gutzutun. Christin hat mir auf der Fahrt bereits von ihr berichtet. Er strahlt und – das nicht nur wegen seines Vollbartes – eine gewisse Attraktivität aus. Der Charme eines Chris Hemsworth. Erneut umarmt Joe mich herzlich. „Schön, dass du wieder da bist.“

„Ich bin auch froh.“

Seine grün-braunen Augen glänzen und doch sieht man, dass es noch wehtut in seinem Herzen. Auch ihn scheint das Ganze noch nicht losgelassen zu haben. Noch viel deutlicher wird das, als Glen um die Ecke watschelt. Sofort verändert sich die Stimmung. Eine schwarze Wollmütze bedeckt einen großen Teil der Brandnarben. Im Nacken und an den Händen sind sie sehr klar zu sehen. Leicht rosa an manchen Stellen, an anderen schon etwas bräunlicher. Wir alle sind gebrandmarkt, physisch wie psychisch. Allerdings erzählen keine Narben so viele Geschichten wie seine. Auch wenn es hart ist, zu sehen, wie stark er davon beeinflusst ist, bin ich unsagbar froh, dass Glen heute lächelt. „Hey, Katie“, grinst er mir verschmitzt entgegen. Als er damals nach drei Wochen im Koma aufwachte, konnte er sich an vieles nicht mehr erinnern. Jämmerlich sank ich damals in der Toilette des Krankenhauses zu Boden, als ich das bemerkte. Begriff, dass dieser leuchtende Kern ihm künftig fehlen könnte. Ein leuchtender Kern so strahlend wie der Diamond eines Ringes. Die kleinen Dinge, die Glen bis dahin ausgemacht hatten. Die Angst war gewaltig. Es war nicht greifbar, Erinnerungen mit jemandem zu teilen, der sie nicht besaß.

Gerne blicke ich heute auf den Saint Mary’s Park zurück, er schenkte mir lange Hoffnung auf Glens Genesung. Ich will solche Momente nicht vergessen. In all der Tragik des Ganzen wurde mir nach einer Weile klar, dass all das nicht gestorben ist. Es lebt so lange weiter, wie ich es tue. Eventuell sogar darüber hinaus.

Glen umarmt mich behutsam, fast so, als wäre ich aus Porzellan. „Du siehst gut aus“, fügt er hinzu.

Ich lächle. „Du auch.“

Schüchtern blickt er zur Seite. Meine Augen wandern nach oben, als ich bemerke, dass am Haus ein riesiges Willkommensplakat hängt. „Wow“, starre ich beeindruckt darauf. „Ihr seid in Hochform“, freue ich mich. „Ich bin froh, hier bei euch zu sein“, halte ich mein großes Mundwerk zurück, das mich so oft vor meiner sensiblen Seite schützt.

„Wir sind froh, dich wieder bei uns zu haben“, sagt Christin stolz. „Lasst uns in die Küche gehen, dann können wir ein bisschen quatschen, während wir kochen.“

„Ich bezweifle, dass deine Künste besser sind als vor einem Jahr“, provoziere ich.

„Ich hatte Zeit, zu üben.“

„Ganze fünf Mal hätte ich fast die Feuerwehr gerufen“, hebt Dina ihren Daumen nach oben.

Wir lachen.

Alle wiederzusehen, ist ein Gefühl, als wäre mein vergangenes Ich in den Augen der anderen noch da. Du erkennst es deutlich, fühlst es sogar, wie es einmal war. Das Emokind in Schuluniform. Jeder hat diese Erinnerung an mein früheres Selbst. In diesem Moment wird mir bewusst, dass ich nicht mehr die Person sein möchte, die vor einem Jahr ihren Weg vom Grab ihrer Eltern in die Klinik machte. Ein junges kaputtes Mädchen, das nur verstehen wollte, was passiert war. Ich bin immer noch die Person, die verstehen will. Kaputt, doch längst nicht mehr schwach.

„Du hast dich vorher sehr gefreut, Glen zu sehen, habe ich recht? Man hat es in deinen Augen gesehen“, scherzt Dina, als wir einen ruhigen Moment im Badezimmer haben und die anderen in der Küche helfen. Typisch für das östrogenbelastete Geschlecht geht man für Gespräche dieser Kategorie auf das nicht so stille Örtchen.

Den ganzen Tag bis spät in den Abend hinein sitzen wir dann zusammen und erzählen von den Erlebnissen, die über das ganze Jahr passiert sind. Wir lachen und an der einen oder anderen Stelle fließen Tränen. Irgendwann wird es dunkel. Die Nacht begrüßt uns mild und sternenklar. Wir haben uns auf die Terrasse unseres Hauses gesetzt. Die Grillen zirpen nur so um die Wette. Bei jedem Windschlag fallen auch immer wieder Blätter zu Boden. Wir betrachten die Sterne und stoßen gemeinsam mit einer kühlen Flasche Corona an. So vergeht die Zeit. Die Uhr im Wohnzimmer schlägt Mitternacht. Einer nach dem anderen verabschiedet sich.

Der Erste ist Joe. „Ich muss los, meine Freundin wartet“, erzählt er strahlend und zwinkert dabei.

Nur ein paar Minuten später, ist die Nächste, die geht, Dina. Die sich genervt von ihrem Platz auf der Hollywoodschaukel erhebt, da ihre Mom bereits zum dritten Mal ihr Handy terrorisiert. „Die Frau hat auch keine anderen Hobbys, als mich zu nerven“, verabschiedet sie sich. Ich lache, eine mir fremde Zufriedenheit macht sich in mir breit. Vielleicht ist es aber auch nur das Bier.

Christin, Glen und ich bleiben noch eine Weile sitzen und genießen die Ruhe. „Das Beste geht bekanntlich zum Schluss“, scherzt Glen, der nach einer Stunde seine Sachen zusammenpackt und zum Ausgang humpelt. Höflich begleite ich ihn zur Tür. „Es ist schön, dich zu sehen, Katie.“ Er umarmt mich herzlich.

Ich schließe dabei meine Augen. Es ist wunderschön, durch meinen ganzen Körper fließt seine Energie hindurch. Langsam lässt mich Glen los. Unheimlich, wie das Gefühl nachlässt, als wir uns trennen. Er geht hinaus. Kurz bevor ich die Tür schließe, aber ein großer Spalt offen ist, sage ich: „Es ist auch schön, dich zu sehen.“

Glen blickt zurück. Die Atmosphäre zwischen ihm und mir ist, als würden wir uns nicht mit den Augen sehen. „Hättest du Lust, morgen früh eine Runde spazieren zu gehen?“, platzt es etwas holprig aus ihm heraus.

„Ehm, klar, wieso nicht“, antworte ich.

Glen nickt und geht weiter. „So um 9 Uhr?“, ruft er noch.

„Ja!“ Lächelnd drehe ich mich um und schließe die Tür. Seltsam, wie mein Herz sich auf einmal überschlägt. Ich trage Liebe für Joe ebenso wie für Christin und Dina im Herzen, doch meine Gefühle für Glen sind anders. Nicht stärker, aber anders. Nachdenklich laufe ich in die Küche zu Christin. Dort setze ich mich auf die Arbeitsfläche neben der Spülmaschine. Sie hat schon angefangen, das Geschirr einzuräumen.

„Was ist los?“, blickt sie mir besorgt in die Augen.

„Nichts, alles gut.“

„Bist du dir sicher?“

„Glen hat mich gefragt, ob wir morgen früh spazieren gehen wollen.“

„Das ist doch schön“, grinst sie.

„An sich ist es schön, da gebe ich dir recht.“ Ich zögere kurz, „Ich habe keine Gefühle für Glen, wie für jemanden, den man liebt oder so etwas. Aber es ist anders mit ihm“, fallen die Worte wie Steine aus meinem Mund heraus.

„Du meinst, so wie für Drake“, sagt sie ganz unbedacht.

Nach einer kurzen Pause fügt sie hinzu: „Tut, tut mir leid. Ich wollte ... ich meine …“

„Schon okay“, ist meine kurze emotionslose Reaktion darauf.

Seit einer halben Ewigkeit ist dieser Name in unserem Zuhause nicht gefallen. Ihn zu vernehmen, lässt die Sonne verschwinden. Unsicherheit überschattet die Situation. „Ich geh nach draußen. Ein bisschen an die frische Luft“, sage ich und springe von der Arbeitsfläche. Christin nickt, sichtlich wünschend, sie könnte ihre Worte zurücksaugen. Am Eingang ziehe ich meine Schuhe an. Statt sie zu binden, stopfe ich die Schnürsenkel seitlich hinein. Mit der Vorkenntnis, sie werden wenige Meter nach Verlassen des Hauses, herausrutschen.

Es ist eine schöne Nacht. Eine dieser stillen Nächte, die ein gewisse Magie versprühen. In den meisten Häusern brennt noch Licht, in einem davon ist deutlich ein Streit zwischen einem Pärchen zu vernehmen. Zum Einzug hätte man ihnen Vorhänge schenken sollen. Etwas peinlich berührt laufe ich daran vorbei. Keine zehn Minuten entfernt davon, als ich gerade einen kleinen Stein vor mir her kicke, höre ich ein Rascheln hinter einem Gebüsch. Ich bleibe aufmerksam stehen. Da ist das Rascheln schon wieder. Direkt vor meinen Augen bewegt sich erneut etwas. Es ist so still in diesem Viertel, dass Geräusche wie diese sofort in den Mittelpunkt rücken. Mein Blick schweift nach rechts, dann nach links. Ich bin allein. Ich nähere mich den zitternden Blättern. Ein kleiner Adrenalinschub überwältigt mich.

Wieso ist man nur so neugierig? Der größte Widerspruch in solchen Situationen ist, dass der Mensch Angst hat vor dem Unbekannten, aber dennoch möglichst viel wissen will. Die Neugier überwiegt die Angst so gut wie immer. Neugier ist etwas Tückisches, ein Spiel mit dem Feuer. In Horrorfilmen werden meist zuerst die Wissbegierigsten umgebracht. Das scheint mir kein Zufall zu sein. So beuge ich mich dem Blätterstrauch in der ganzen Faszination entgegen, um einen Blick zu erhaschen. Meine Hand möchte die Sicht frei machen. Ich erschrecke, als das Rascheln lauter wird. Meine Beine machen einen Schritt zurück und ich stolpere über den von mir losgetretenem Stein. Perfekt lag er in der richtigen Position dafür.

„Super gemacht“, denke ich mir.

Fallschutz ist selbstverständlich nicht gegeben. Ich reibe mir das Steißbein. Dieses Opfer war zu groß, alles, was aus dem Naturgewölb krabbelt, ist eine Norwegische Waldkatze, die wohl gerade eine Maus gefangen hat. Stolz will sie das tote Tier nach Hause tragen. „Dieses elegante Erscheinungsbild passt nur zu einer Dame“, denke ich mir. Mit ihren tiefgrünen Augen sieht sie mich an, als würde sie sagen wollen, wie blöd ich eigentlich bin, ihretwegen über einen Stein zu fallen. Der Kuscheltiger schleicht in Katzenmanier weiter. Ich grinse. Der Drang nach dem Unbekannten hatte mir Steine in den Weg gelegt.

Noch bevor ich aufstehen kann, kehrt das Erlebte wieder einmal in einem Flashback zurück. Alles verschwimmt miteinander. Die Straße ist so ruhig, wie damals, als ich vom Park nach Hause lief, um in meinem Bett zu schlafen. Um halb vier Uhr morgens. Als das Haus explodierte. Mein Haus. Christins Haus. Spikes Haus. Alles verbrannte nach einem einzigen Knall. Dinge, die meinen Eltern gehörten, Bilder, Kleidung, Vasen, einfach alles. Ich sehe es deutlich vor mir. Das Gefühl, als mich die Schallwelle zurückschleuderte, wird für einen Moment wieder real. Die Platzwunde am Kopf wieder spürbar. Ich fasse mir an die Stirn. Das stechend, betäubende Geräusch, das einen so lähmt, ist zurück. Ich stehe vom Boden auf. Als ich versuche, mit meinen weich gewordenen Beinen festen Asphalt unter mir zu fühlen, erhebe ich meinen Blick.

Da steht er vor mir. Drake. Seine Augen treffen meine, direkt und klar. Das ist seit Stunden das erste Mal, dass einer von beiden wieder auftaucht. Ein Stich ins Herz, der wehtut. Das wiederkehrende Schuldgefühl. Blut tropft auf den Boden. Ein zartes Platsch ... platsch. In seiner Hand sehe ich ein Messer. Platsch, ein weiterer Tropfen fällt. Kurz kommt der Gedanke auf: „Er will mich umbringen.“ Platsch. In diesem Plan war er schon einen Schritt weiter. Das rote Leben entläuft mir. Er hat mich nicht verletzt, das war ich selbst. Es sind meine Hände, die in Blut getränkt sind. Ich halte die Tatwaffe. Platsch, platsch. Panisch möchte ich mir den roten Saft an meiner Jeansjacke abwischen.

„Es soll aufhören! Weg damit!“, rufe ich. Als ob mein Hilferuf Gehör finden wird, ist in einem Wimpernschlag alles weg. So auch Drake. Ich drehe mich im Kreis, niemand ist zu sehen. Kein Mensch. Kein Blut. Kein schriller Ton. Kein Messer. Nur die Person, die mal wieder erdrückt wurde von ihren Gedanken. Ich halte inne. Schwitzend. Versuche, mich zu sammeln. Niedergeschlagen und erschöpft laufe ich zurück nach Hause.

Der Moment der Stille

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