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Der Moment der Stille

Ich renne, so schnell ich kann. Jeder einzelne Muskel in meinem Körper lässt mich die Säure spüren. Mit ganzer Kraft, die mir nach allem übrig geblieben ist, versuche ich, zu fliehen. Doch ich komme nicht voran. Es ist fast so, als stände ich auf einem Laufband, ein Wettlauf auf der Stelle. Der Schweiß rinnt mir von der Stirn. Völlig ausgedörrt und erschöpft falle ich auf die Knie. Überall ist brennend heißer Sand. Nur ich und die goldbraunen Dünen der Wüste. Die Sonne lacht erbarmungslos. Die Erde bebt unter mir, meine Hände zittern. Ein tiefer, pechschwarzer Abgrund reist unter mir auf. So schnell ich kann, stehe ich auf und versuche, wegzulaufen. Ich schaffe es nicht. Wie auch ohne die Energie, die dazu nötig wäre. Die Dunkelheit ist schneller. Ich falle und stürze in unendliche Leere ab. Ich höre einen Schrei und einen lauten Schuss, während ich blind wie ein Maulwurf weiter in das große Nichts falle.

Im nächsten Moment tauche ich in ein Meer ein. Es ist ein Meer aus Blut, ein kräftiges Rot. Durch mein Eintauchen spritzt die Flüssigkeit mehrere Meter hoch. Wellen wie auf hoher See verschlingen mich in dieser zähflüssigen Masse, die einen nicht an der Oberfläche trägt. Ein Sturm tobt. Meine Arme und Beine rudern. Der Wille, zu schwimmen, zu überleben, ist da und doch droht mein Körper, zu versagen, leblos und schwer auf den Grund des Blutozeans zu sinken. Ich bekomme keine Luft. Ein Gefühl, als ob man mich am Hals packt und versucht, meinem Körper die Seele zu nehmen. Im letzten Augenblick kann ich nach etwas greifen. Erst eine Sekunde später wird mir bewusst, dass es eine Hand ist, nach der ich um Hilfe ringe. Sie ist so kalt, steif und völlig regungslos. Eine Hand von vielen Händen, die plötzlich neben mir auftauchen. Sie scheinen mich zu umkreisen, immer näher zu kommen. Ich versuche, wegzuschwimmen, doch die Wellen sind immer noch zu stark. Bald darauf treiben auch die dazugehörigen Körper an die Oberfläche. An einem davon versuche ich mich festzuhalten, um über Blut zu bleiben. Ich erkenne Gesichter. Personen, die beim Versuch, das Geheimnis zu lüften, getötet wurden. Ich blicke nach rechts. Die Hand, nach der ich fasste, deren Körper mich an der Oberfläche hält, ist Drakes. Erst jetzt erblicke ich sein Gesicht. Nicht nur, dass ich ihn sehe, nein. Ich fühle seinen starren, bleichen Körper an mir. Sein Kopf dreht sich. Seine tief dunkelbraunen Augen starren mich an. Das Blut läuft ihm von der Stirn. Als sei der Kopfschuss, den ich abgefeuert habe, erst vor wenigen Augenblicken gewesen.

Ich erschrecke bei diesem Anblick so sehr, dass ich aufwache. Aufwache aus diesem Albtraum. Meine Augen sind weit aufgerissen. Ich erblicke aus dem Augenwinkel den Vollmond, der durch das Fenster mein Zimmer erhellt. Schweißgebadet reiße ich die Bettdecke von meinem Körper und setze mich hin. Ich atme schwer, mein Herz rast. Tränen rollen über meine Wangen.

„Wann hört das nur auf?“, ist die quälende Frage, die mir jede Nacht durch den Kopf geht. Mit meinen dünnen Fingern greife ich in meine ungekämmten Haare, die schon lange nicht mehr das Pechschwarz tragen, sondern meinen natürlich dunkelbraunen Haarton. Die Haare sind bereits so lang geworden, dass sie mir bis zum Gesäß reichen.

Meine Lunge zieht sich zusammen. Das Gefühl der Angst, aber auch der Schuld an all dem, lässt mich in Panik verfallen. Es fühlt sich an, als ob mir der Kopf platzt. Die Narbe an meiner Stirn fängt an zu pochen. Der rechte Arm fängt an zu stechen. Ich schreie. Viele weitere Tränen landen auf der Bettdecke. Der schrille Ton, den man nach einer Explosion hört, wird in meinen Ohren immer lauter und quälender. Ich sehe die Explosion der vergangenen Zeit vor mir. Ganz besonders denke ich an den Knall in meinem Haus. Mit zittriger Hand fasse ich mir an die Stirn und streiche über die längst verheilte Platzwunde.

Eine Nachtbetreuerin kommt in mein Zimmer gelaufen. Sie setzt sich auf die Bettkante und versucht, mich in den Arm zu nehmen, um mich zu beruhigen.

Doch ich drücke sie weg von mir. „Nein“, wiederhole ich immer wieder – leise und kopfschüttelnd. Sie merkt, dass eine simple Umarmung mir nicht helfen wird. Ohne ein Wort greift sie in ihre rechte Jackentasche. Heraus zieht sie eine Spritze, die ich ohne Vorwarnung von ihr in den linken Unterarm injiziert bekomme. Ich hasse das kalte Gefühl der Nadel auf der Haut. Dabei lächelt sie mich an und nickt. „Alles wird gut, Katie.“

So wie sie das sagt, klingt es immer wie ein Versprechen, an das ich noch nicht glauben kann. Ich weine und flehe sie an, es nicht zu tun. „Hör auf, bitte.“ Allerdings spüre ich, wie die kalte Flüssigkeit bereits durch meinen Arm fließt und das Medikament in mein Haupt schießt. Das Gefühl der Entspannung setzt ein. Der schrille Ton in meinem Kopf wird leiser, bis er schließlich ganz verschwindet. Ich fühle nichts mehr außer Leichtigkeit. Federleicht sinke ich wieder in mein Bett. Die Panik verflogen, dass Schuldgefühl gegangen. Die Betreuerin, deren Name Eve ist, deckt mich zu. Meine Augen werden schwerer, das Bild verschwommener – der Tiefschlaf setzt ein.

Ich kann zwar aus diesen Träumen erwachen und man kann mir diese Beruhigungsspritzen geben, doch die Tatsache, dass ich Drake erschossen habe, lässt sich nicht ändern. Mit nichts. So sehr ich es auch will. Die Vergangenheit ist festgeschrieben wie Tinte auf der Haut. Menschen sind meinetwegen gestorben, die es nicht verdient haben. Jeden Tag sterben Menschen, unschuldig. Rachel war einer davon. Ich werde nie vergessen, wie sie sich neben meinen Spind lehnte und mich mit ihren strahlend grünen Augen anlächelte. Man spürte sofort, dass sie ein guter Mensch war. Sie war ein Mensch mit einem großen Herzen, die einem sofort die Kälte nahm – spürbar, jede Sekunde. Ein wertvolles Geschenk. Das alles war noch deutlicher auf ihrer Beerdigung geworden. Als wir das Privileg hatten, ihre Eltern kennenzulernen und ihren damals siebenjährigen Bruder. Der ebenfalls diese strahlend grünen Augen besaß. Ich konnte seinen Blick nicht lange erwidern.

Jedes Mal diese quälenden Schuldgefühle, dass sie, wenn sie mir nicht begegnet wäre, noch leben würde. Es ist eine Empfindung, als ob ich einer Mutter die Tochter und einem Bruder die Schwester genommen hätte. Drei Jahre und sechs Monate ist das nun her und kein Tag war wie davor. Ich war damals dankbar, dass ich die Kette gefunden hatte und den Tod meiner Eltern akzeptieren konnte. Keine Frage, darüber bin ich auch heute noch sehr froh. Aber das Erlebte holte mich in den drei Jahren jeden Tag ein Stück mehr ein. Schließlich war ich, als dass alles passierte, erst vierzehn Jahre alt. Ein rebellisches Kind. Man könnte sagen, dass das Gefühl der Erleichterung in meiner Seele ausbrach, als die Richterin mir eine einjährige Therapie aufbrummte. Ein Gefühl, das keiner sonst verstehen konnte. Denn diese Last drohte, mich still und leise zu zerquetschen. Joe sagte damals zu mir, dass es sich so anfühlen würde, als würden sie mich in ein Gefängnis abschieben. Er verstand nicht, dass das eigentliche Gefängnis in meinem Kopf saß, und dort auch noch heute sitzt und mich gefangen hält.

Der Verstand ist ein mächtiges Werkzeug, das dich kaputtmachen kann. Jeder Tag wurde länger, jedes Aufstehen mühsamer, jede Nacht kürzer. Ich war mehr Körper als Seele. Auch Christin sah, dass diese Therapie eine Chance für mich war – und keine Strafe. Am Tag der Einweisung kam sie in mein Zimmer unseres neuen Hauses, weckte mich sanft und sagte schließlich: „Guten Morgen, Kämpferin, heute beginnt eine lange Reise.“

Ein Satz, der mir immer wieder durch den Kopf geht, auch sechs Monate später noch. Sie hatte recht, es ist eine Reise mit ungewissem Ziel und keiner Ankunftszeit. In manchen Momenten zweifle ich und glaube, dass es überhaupt kein Ziel gibt. Was sollte man dort auch finden? Einen Ort mit allen Antworten? Niemand kann dir eine zufriedenstellende Antwort geben auf deine eigenen Empfindungen, ohne es in derselben Weise zu fühlen. Vermutlich bleibe ich auch deshalb eine Reisende, ein Leben lang. Aber das ist in Ordnung. So lerne ich die verschiedenen Facetten kennen, die diese Welt mit sich bringt.

Genau dieser Gedanke, einen langen Atemzug lang, gibt mir ein Gefühl der Hoffnung, der Stärke. Das sind Momente, aus denen ich die Energie nehme, weiterzumachen, nicht aufzugeben. Eines Tages finden wir alle unseren inneren Frieden, daran glaube ich fest. Auch wenn Zeit bedeutungslos gegenüber Dingen ist, die tief vergraben sind. Frieden ist eine Sache des Verständnisses und der Akzeptanz.

Der Moment der Stille

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