Читать книгу Gebrochenes Eis - Julia Yovanna Susanne Brühl - Страница 10

Chefbesuch

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Jørn ließ seinen Mantel lieblos auf seinen Stuhl fallen und sich gleich hinterher. Er stützte die Ellenbogen auf seinen Tisch, vergrub das Gesicht in den Händen und verharrte reglos in dieser Position.

Thor, der gerade mit zwei dampfenden Tassen und dicken Backen kauend den Raum betrat, hob verwundert die Augenbrauen.

„Mit dem falschen Fuß aufgestanden?“, fragte er mit vollem Mund.

Jørn hob den Kopf ein paar Zentimeter, blies sich eine störende Haarsträhne weg und verzog mürrisch das Gesicht. Ich muss dringend zum Friseur, dachte er.

Mit einer genervten Handbewegung schnippte er einen Milchbrötchenkrümel von seinem Schreibtisch. Sein Gesicht nahm jedoch einen freundlicheren Ausdruck an, als sein Kollege eine der Tassen vor seine Nase stellte und aus seiner Manteltasche eine Tüte der bakeri zog, deren Inhalt Jørn bereits kennengelernt hatte.

„Hab dir was mitgebracht, von Mosjøens bester Bäckerei.“

„Du meinst wohl, von Mosjøens einziger Bäckerei, Thor.“

„Hey, wenn du weiter so ‘ne miese Stimmung verbreitest, kriegst du eben kein Milchbrötchen!“, rief Thor mit einem Grinsen auf dem runden Gesicht und wedelte mit der Papiertüte vor Jørns Nase herum.

Unwillkürlich musste dieser lächeln.

„Danke, Kollege. Ich habe im Moment keinen Appetit, aber den Kaffee kann ich gut gebrauchen.“

Thor hatte inzwischen hinuntergeschluckt und nippte an seiner Tasse, die einen derartig hellen Inhalt hatte, dass es fraglich war, ob sich in diesem Zucker-Milch-Gebräu überhaupt noch Kaffee befand.

Seinen Blick hielt er unverwandt auf Johnsen gerichtet. Das Lächeln verschwand und machte einem ernsten Ausdruck Platz.

„Jørn …“, begann er. „Im Gang ist mir vorher eine neue Mitarbeiterin begegnet, die hab ich noch nie gesehen …“

Plötzlich ertönte ein lautes Pochen, das Thor seinen Kaffee verschütten ließ. Bevor die beiden erschrockenen Männer reagieren konnten, schwang die Tür auf und ein allseits ungebetener Gast trat – ebenfalls ungebeten – ein.

„Guten Morgen, die Herren.“

Die beiden Kriminalbeamten glotzten verwundert zur Tür, in der ein in Schlips und Anzug gekleideter Mann stand. Er hatte streng nach hinten gegelte Haare und verströmte einen Geruch nach Eau de Parfüm, der auch bei bestem Willen nicht mehr als Hauch zu bezeichnen war.

Johnsen unterdrückte ein Stöhnen. Dieser Mann war ihnen wohlbekannt. Es war der Erste Polizeihauptkommissar persönlich, der nicht nur wegen seiner Arroganz, sondern auch wegen seiner nervtötenden, gedehnten Sprechweise alles andere als beliebt war.

Er erhob sich so elegant und würdevoll, wie es ihm aus der gebeugten Haltung an seinem Platz nur möglich war und umrundete seinen Schreibtisch, um seinem Vorgesetzten die Hand zu schütteln.

Er war auf den schlaffen, feuchten Händedruck gefasst gewesen, doch er konnte nicht verhindern, dass ihm bei der Berührung ein Schauer den Rücken hinunterkroch. Dieser Mann fühlte sich genauso an, wie er war. Wie eine falsche Schlange …

Bevor dem Oberhaupt ihres Distriktes die unangenehme Stimmung, die seine Anwesenheit verursachte, auffallen konnte, ergriff Thor das Wort.

„Herr Mikkel, was verschafft uns die Ehre?“, fragte er ohne ironischen Unterton in der Stimme, wofür Jørn ihn in diesem Moment wirklich sehr bewunderte. Insgeheim fragte er sich, warum sich dieser Schleimscheißer mit seiner gestelzten Ausdrucksweise überhaupt die Mühe machte, seine Untergebenen persönlich aufzusuchen. Er tauschte einen skeptischen Blick mit Weyn, von dem er hoffte, Mikkel würde ihn nicht bemerken.

Der zweite kaltschleimige Händedruck erfolgte und Johnson registrierte nicht das geringste verräterische Zucken hinter Thors schwarz umrandeten Brillengläsern. Sein Kollege war einfach der geborene Pokerspieler.

„Meine Herren, als ich von dem Lei-chen-fund in Kenntnis gesetzt wurde, war es nur selbstverständlich, dass ich mich sofort auf den Weg hierher in dieses …“, Mikkel hielt kurz inne und sah sich in dem kleinen Büro um. Zwei Zimmerpflanzen, die beinahe den Zugang zum Aktenschrank verstellten, überquellende Papierkörbe und Staub auf den unaufgeräumten Schreibtischen boten sich ihm.

Ohne es zu wollen, strafften sich Johnsen und Weyn ein wenig.

„… ähm, kleine Nest …“, fuhr Mikkel nach seiner Inaugenscheinnahme fort, „… ähm, mache, um meinen Mitarbeitern bei der Organisation dieses kom-pli-zier-ten Falles unter die Arme zu greifen.“

Zwei Augenpaare blickten ihn verständnislos an.

„Die Details zu dem Vergewaltigungsopfer gibt es in …“ Mikkel unterbrach sich erneut und schob den linken Ärmel hoch.

„… in exakt neunzehn Minuten um Punkt neun Uhr im Be-spr-echungs-raum. Ich habe keine Lust, alles mehrfach zu erklären. Dort werde ich Sie übrigens auch mit Ihrer Unterstützung für diesen Fall bekannt machen. Bis gleich, meine Herren.“

Mit diesen Worten verschwand der Überraschungsbesuch wieder und hinterließ eine Stimmung, die zwischen Unmut, Ablehnung und Unverständnis schwankte.

„Was war denn das eben?“, fragte Johnsen, nachdem er die Tür mit sichtlicher Erleichterung hinter seinem Vorgesetzten geschlossen hatte. Er trat zurück an seinen Schreibtisch, nippte an seinem Kaffee und verzog das Gesicht. Er war nur noch lauwarm.

Thor hob ratlos die Schultern und ließ sie wieder hinuntersacken.

„Ich habe keine Ahnung, wie er auf eine Vergewaltigungsgeschichte kommt. Ich habe gestern Abend noch mit dem Gerichtsmediziner gesprochen. Eine Fremdverschuldung kann zwar noch nicht ausgeschlossen werden, doch von einer Vergewaltigung höre ich zum ersten Mal“. Erwiderte er und wischte seinen Kaffeefleck mit einem Taschentuch vom Boden auf.

Johnsen schüttelte fassungslos den Kopf.

„Scheint, als wäre Mikkel besser informiert als wir.

Wir als Ermittlungsbeauftragte erfahren erst bei einer allgemeinen Besprechung wertvolle Details?“

„Vielleicht reimt sich der alte Mikkel auch nur wieder was zusammen. Wäre ja nicht das erste Mal“, warf Thor ein, der sich an einen bestimmten Fall in der Vergangenheit erinnerte.

„Als ob das noch nicht reichen würde. Dass die Kleine tot ist, ist doch schrecklich genug für ihre Angehörigen, auch ohne, dass er etwas hinzudichtet. Außerdem können wir auf seine sogenannte Unterstützung gerne verzichten.“

„Ja genau, wen meint er denn damit überhaupt?“

„Keine Ahnung Thor, das wird er uns ja in exakt …“, er ahmte Mikkels Blick auf die Uhr nach, „… sechzehn Minuten lang und breit darlegen.“

Noch während er das sagte, kreisten seine Gedanken um die gestrige Begegnung mit Björn in dessen Büro. Hatte er ihm etwas verschwiegen? Wusste er, was mit seiner Nichte geschehen war, hatte es jedoch nicht wahrhaben wollen?

Eine schweigsame Minute verstrich.

Jeder hing seinen Überlegungen nach, bis Thor schließlich die Lippen schürzte.

„Was ich vorhin noch sagen wollte …“

Johnsens Kopf flog hoch. Und bevor Weyn weitersprechen konnte, wurde er erneut unterbrochen. Dieses Mal von Johnsen.

„Thor, erst muss ich dir etwas sagen, im Vertrauen, ich weiß nicht, ob und wann Björn es den anderen und dir selbst sagen will“, setzte er an und wollte gerade Luft holen, doch Weyn war schneller.

„Du meinst, dass sie seine Nichte war?“, ergänzte sein Kollege den Satz völlig unverblümt.

Jørns Verblüffung währte nur einen kurzen Moment. Thors freudloses Gelächter ärgerte ihn. Wie hatte er auch nur eine Sekunde glauben können, dass Weyn nicht Bescheid wusste? Wenn es einen Mann in Mosjøen gab, der Land und vor allem Leute wie seine Westentasche kannte, dann sein Kollege. Wäre nicht weiter verwunderlich, wenn er mit seinem weitverzweigten Stammbaum …

„Du bist aber nicht auch noch mit Björn und damit mit dem Mädchen verwandt?“, sprudelte es aus Johnsen heraus.

Dieses Mal klang das Lachen nicht nur freudlos, es hörte sich regelrecht erzwungen an.

„Nein, keine Sorge. Dann könnten wir beide wohl kaum gemeinsam in dieser Sache ermitteln. Ich wäre nicht unbefangen und …“

„Ich weiß, was das bedeuten würde, danke.“

Weyn ging Johnsen heute wirklich auf die Nerven. Und dann ist in exakt dreizehn Minuten auch noch diese blöde Besprechung. Zugegeben, neugierig war er natürlich, aber diese Art der Informationspolitik ging ihm gewaltig gegen den Strich!

Johnsen musste seine Mimik nicht zu einhundert Prozent unter Kontrolle gehabt haben, denn Thor hob die Hände in einer beschwichtigenden Geste.

„Jørn, ich wollte dir vorhin etwas ganz anderes …“

Johnsen machte eine wegwerfende Handbewegung und wandte ihm den Rücken zu, aber Thor gab noch nicht auf.

„Ich habe doch, wie gesagt, vorhin im Gang die Neue getroffen …“

„Thor, hat das nicht bis später Zeit?“

„Na ja, es ist wegen der Information …“

Johnsen scrollte durch sein Mailprogramm.

„Nein, ich habe definitiv keine ungelesene Nachricht im Posteingang. Weder von Björn noch von sonst wem. Wir sollten sehen, dass wir rechtzeitig rüberkommen, Thor.“

Weyn wand sich.

„Ich kann mir denken, wie das gelaufen ist, dass wir keine Info zu der heutigen Besprechung bekommen haben.“

Johnsen blickte ihn fragend an und schüttelte dann den Kopf.

„Da steig ich jetzt nicht durch. Du wusstest nicht, dass Mikkel kommt, aber du weißt, warum wir das nicht wussten? Das musst du mir später in Ruhe erklären.“ „Ich wollte dir doch noch sagen, dass…“

Johnsen warf einen zweiten Blick auf die Uhr.

„Thor, kann das nicht bis später warten?“

Weyn zog eine beleidigte Grimasse. Dann eben nicht.

„Lass dir das von der Neuen erklären.“ Mit diesen Worten öffnete er die Tür und trat vor seinem verwirrten Kollegen auf den Gang hinaus. Johnsen würde noch früh genug erfahren, was Mildred, der Neuzugang, ihm auf dem Gang mitgeteilt hatte.

Pünktlich um neun Uhr trafen die beiden Kriminalbeamten im Besprechungsraum ein.

Es war eine richtige kleine Versammlung, die sich um den runden Konferenztisch aus massiver Eiche eingefunden hatte. Neben Mikkel stand, auf langen Beinen, die unter einem hellgelben Rock in roten Schuhen mündeten, seine Sekretärin. Es bestand kein Zweifel, dass sie weniger wegen ihres hohen Intelligenzquotienten als vielmehr wegen ihres prächtigen Vorbaus und ihren femininen Hüften engagiert worden war. Wie ein stöckelnder Schatten hing sie an Mikkels Fersen.

Björn mit seinem Gehilfen Snert, die Neue und Nils, der Sachbearbeiter, waren ebenfalls bereits anwesend. Als die beiden Kommissare eintraten, verstummten die leisen Gespräche und Mikkel sah übertrieben lange mit missbilligend gerunzelten Augenbrauen auf seine Armbanduhr. Ein heimlicher Blick auf sein eigenes, mit Sicherheit deutlich preiswerteres Exemplar, bestätigte Johnsen jedoch nur, was er bereits wusste: Sie waren pünktlich auf die Minute. Er verkniff sich einen genervten Blick zu Weyn und nickte in die Runde.

Sie nahmen auf den beiden freien Stühlen am Fenster Platz. Johnsen verschränkte seine Finger ineinander und lehnte sich zurück. Weyn tat es ihm gleich.

Mikkel räusperte sich mehrmals, bevor er nach einer kurzen Begrüßung der Anwesenden mit seinem Monolog begann. Johnsen gab sich in den ersten Minuten ernsthaft Mühe zuzuhören, scheiterte dann jedoch kläglich. Wie befürchtet, verlief sich der Polizeihauptkommissar bei seinem Vortrag in bürokratischen, unglaublich interessanten Details, die so wichtig waren, dass sie in aller Ausführlichkeit ausgebreitet werden mussten.

Das Ticken der Wanduhr schien sich zu verlangsamen, immer mehr zu dehnen, der Sekundenzeiger schlich geradezu dahin. Johnson versuchte gerade ein Gähnen zu unterdrücken, als Mikkel etwas sagte, das seine Alarmglocken schrillen ließ.

Sein Kopf fuhr zu Weyn herum. Die Hand halb erhoben, hinter der er sein Gähnen hatte verbergen wollen, starrte er ihn mit halboffenem Mund an. Thor blickte ebenso entsetzt zurück. Aus seinem Gesicht war jede Farbe gewichen. Doch neben dem Schrecken las Johnsen noch etwas anderes in seiner Mimik. Die Befürchtung, dass Ärger auf sie zukam.

Johnsen schluckte trocken. Nur das laute Ticken der verfluchten Wanduhr war zu hören, als würde die Uhr die betretene Stille ausfüllen wollen, die nun, in Mikkels Redepause, eingetreten war.

Die letzten gesprochenen Worte bildeten sich als Fetzen in Jørns Gehirn ab: … im Wald … junge Frau … gestern Abend entdeckt … Fahndung nach unbekannt läuft bereits … be-son-de-re Dis-kre-tion …

Während Johnsen allmählich verstand, was er da gerade gehört hatte, wurde er sich gleichzeitig bewusst, was für einen dämlichen Anblick er bieten musste. Er senkte die Hand und stupste Weyn an.

„Noch eine?“, war alles, was er herausbrachte. Johnsens Verwunderung verwandelte sich immer mehr in Ärger. Was war denn hier im Präsidium los, dass er als Kriminalhauptkommissar Mosjøens als Letzter von Ereignissen erfuhr, die direkt vor seiner Haustür geschahen?!

Es hatte eine weitere Frauenleiche gegeben.

Sie lauschten gespannt Mikkels Ausführungen.

Die Tote ist gestern Abend an der 73, der Bundesstraße, die von Norwegen über die schwedische Grenze führte, in einem Waldstück gefunden worden. Zuständig war zunächst die norwegische Grenzpolizei, doch da es in so kurzer Zeit zwei Todesfälle gegeben hat, bestand der Verdacht, dass die beiden miteinander in Verbindung standen.

Weyn warf ihm einen warnenden Blick zu. Er dachte offensichtlich das Gleiche wie er. Immer, wenn sich ihm die Gelegenheit bot, gab Mikkel sein Bestes, sich selbst in den Mittelpunkt zu rücken. Dieses Mal war es nicht anders. Und wie die letzten Male auch, bedeutete dies in erster Linie erschwerte Ermittlungsarbeiten für sie. Ab jetzt würde der Schleimbolzen sich ständig einmischen und sich vor der Presse zu profilieren versuchen.

Doch Johnsens Sorge galt nicht allein der Wichtigtuerei des Polizeihauptkommissars, damit waren sie bisher immer fertiggeworden. Sie hatten ein größeres Problem. Ein schlimmeres, ernsteres, eine Aufgabe, wie er sie in seiner Jahrzehnte währenden Dienstzeit noch nie zu bewältigen hatte. Zwei Frauenleichen, noch dazu unter solchen Umständen, das hatte es hier noch nie gegeben. Johnsen musste an Fernsehkrimis denken, an Serienmörder, die in den Wäldern ihr Unwesen trieben, an Geisteskranke, die erst aufhörten, wenn sie tot oder eingesperrt waren.

In seine Befürchtungen mischte sich wieder der Gedanke von vorhin.

Warum erfuhr er erst jetzt und vor allem auf diese Weise davon? Ja, auf die Erklärung er war wirklich gespannt. Sein Blick wanderte zu der Neuen hinüber, aber erst, nachdem Mikkel mit dem Bericht über die zweite Tote fertig war, wollte er auf das erste Opfer zu sprechen kommen.

Ein leichtes Tippen auf seine rechte Schulter ließ Johnsen herumfahren. Thor beugte sich zu ihm herüber und hob die Lippen an sein Ohr.

„Jørn, das war es, das ich dir vorher noch sagen wollte!“, zischte er. Johnsens Verwunderung verwandelte sich immer mehr in Ärger. Was war denn hier im Präsidium los, dass er als Kriminalhauptkommissar Mosjøens als Letzter von Ereignissen erfuhr, die direkt vor seiner Haustür geschahen?!

„Von dem Fund wusste ich auch nichts. Mildred hat mir nur gesagt, dass uns quasi aufgrund technischer Probleme gewisse Infos fehlen.“ Weyns Gesichtsausdruck hatte etwas Gequältes an sich.

„Quasi?“

„Quasi.“

Jørn glaubte, Bescheid zu wissen. Er nickte steif. Mildred hieß das Übel also.

Sie saß an der gegenüberliegenden Seite des langen rechteckigen Tisches und hatte einen beschämten Ausdruck im Gesicht. Ihre Blicke trafen sich. Sie errötete und wandte sich ab. Dann machte sie eine schnelle Bewegung, als steckte sie einen Gegenstand – ihr Handy? – in ihre Handtasche, und mied jeden weiteren Blickkontakt mit ihm.

Gerade in diesem Moment ging Mikkel endlich die Puste aus. Johnsen nutzte die Gelegenheit umgehend, um zu Wort zu kommen. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass Momente wie diese äußerst rar waren.

Er richtete sich kerzengerade auf und fixierte seinen Vorgesetzten, der sich gerade die Kehle mit einem Schluck Wasser befeuchtete.

„Wenn ich die Lage kurz zusammenfassen dürfte“, begann er mit fester Stimme und fuhr nach einer Pause fort, die er absichtlich zu kurz hielt, als dass ihm irgendjemand Einhalt gebieten konnte. „Es wurden in zwei aufeinanderfolgenden Tagen zwei Frauenleichen gefunden. Bei der ersten handelt es sich um eine Siebzehnjährige hier aus dem Ort.“

Er vermied es tunlichst, Björn anzusehen, stattdessen hielt er den Blick unverwandt auf seinen Chef gerichtet.

„Wir haben sämtliche Daten von ihr, sie wurde bereits vorläufig forensisch untersucht, und obwohl ihr Körper zahlreiche Verletzungen aufweist, ist keine sexuelle Gewalteinwirkung nachzuweisen. Die genaue Todesursache ist noch unklar.“

Nun sah er doch zu dem Spurensicherer hinüber, der bleich und starr seinen Worten lauschte. Johnsen hatte den Eindruck, dass Björn ihm gern etwas gesagt hätte, konnte jedoch beim besten Willen nicht erraten, was das sein könnte.

Auch in seinen eigenen Ohren klangen seine Worte unsensibel und hart, weshalb er sich beeilte, auf die zweite Tote zu sprechen zu kommen. Er wollte Björn nicht noch mehr verletzen.

„Des Weiteren wurde gestern unweit der Grenze nach Schweden im Wald eine weitere Frauenleiche gefunden, wie Sie eben ausführlich geschildert haben.“

Die gedrückte Stimmung im Raum war mit Händen greifbar. Die nüchternen Worte, die zuvor der Polizeimeister gewählt hatte, um das Grauen zu beschreiben, das die junge Frau mit bislang noch unbekannter Herkunft erlebt haben musste, hatte die Gesichter der Beamten erstarren lassen.

Johnsen straffte die Schultern, als er auf den Punkt kam.

„Ihre Anweisung lautet nun, zunächst unter Ausschluss der Öffentlichkeit, also im Verborgenen, mit den uns zur Verfügung stehenden Mitteln zu versuchen, den Fall zu lösen. Herr Mikkel, bei aller Achtung vor Ihrem organisatorischen Talent, wie stellen Sie sich das vor?“

Die letzten Worte hatte er mit einer Schärfe ausgesprochen, die ihm im Grunde nicht zustand, das wusste er selbst, doch es war wichtig, dass er jetzt seinen Standpunkt klarmachte. Außerdem ärgerte es ihn, dass er einerseits nicht ins Bild gesetzt worden war und ihm andererseits ohne ein Angebot von Unterstützung so ein Auftrag erteilt wurde. Falls es sich hier tatsächlich um einen Serienmörder handelte, der es auf junge Frauen abgesehen hatte, waren Weyn und er allein damit hoffnungslos überfordert. Und das musste sogar seinem engstirnigen Chef klar sein!

Thor legte ihm in beruhigender Absicht die Hand auf den Unterarm, was ihn allerdings eher in Rage brachte. Mit einer beiläufigen Bewegung wischte er sie hinunter. Dabei wandte er nicht eine Sekunde den Blick von Mikkels Visage.

Im Raum herrschte gespannte Stille. Der Erste Polizeihauptkommissar ließ ein paar Sekunden verstreichen. Dann strich er sich mit ausholenden Bewegungen die Ärmel seines Hemdes glatt.

„Ich habe selbstverständlich an den ho-h en Arbeitsaufwand gedacht. Natürlich erhalten Sie Unterstützung. Nicht nur durch meine organisatorischen Fä-hig-kei-ten.“ Ein kurzes Blitzen in seinen Augen verriet Mikkels Triumph über sein vermeintliches Ass im Ärmel.

Er gönnte sich eine kleine Kunstpause. Dann neigte er den Kopf zu einem Nicken in eine bestimmte Richtung. Diese Geste entlockte Johnsen ein Stirnrunzeln.

Alle Blicke im Raum folgten Mikkels Kopfbewegung. Johnsen fiel auf, dass die Gesichter ausnahmslos skeptische Ausdrücke annahmen.

Es war die Neue. Die kleine, bunte Kugel mit den rotgefärbten, kurzen Haaren und den Sommersprossen auf der Nase, auf die sich nun sämtliche Augenpaare richteten. Forschend, fragend und missbilligend.

„Frau Ja-kob-sen, stellen Sie sich doch bitte kurz vor.“

Die Haut unter den vielen kleinen Sommersprossen auf ihren Wangen erhielt eine rosarote Färbung. Sie klang heiser, als sie zögerlich ihre Stimme erhob.

„Hei, ich bin Mildred Jakobsen. Freut mich, euch alle kennenzulernen.“

Sie sah zu Mikkel herüber, der ihr aufmunternd zunickte.

„Erzählen Sie ruhig kurz ein bisschen mehr über sich.“ Sie nickte.

„Ich war zunächst an der Uni, dann im Volontariat im Ausland und habe dann meine Ausbildung in der Osloer Polizeischule gemacht. Im Anschluss habe ich in der dortigen Polizeidienststelle gearbeitet. Was gibt es noch zu sagen … ich bin ledig, single, habe keine Kinder, bin vernarrt in gute Bücher, natürlich vorwiegend Krimis, und habe eine kleine Wohnung hier in Olderskog, die ich mir mit meinen beiden kleinen Katzen teile.“

Ein gewisser Stolz schwang in ihrer Stimme mit, als sie von ihrer Ausbildung sprach. Alle hier kannten den guten Ruf der anspruchsvollen Osloer Polizeischule.

Allgemeines anerkennendes Nicken in der Runde ließ ein Lächeln über ihr rundes Gesicht huschen.

„Danke, Frau Jakobsen.“

„Ich muss sagen, ich fühle mich hier wohl, und hoffe, dass ich mich schnell einlebe, damit ich mich bald so gut auskenne wie in meiner Manteltasche.“

Ein leises Kichern machte die Runde.

Selbstverständlich war es Mikkel, der sie aufklärte.

„Sie meinen sicherlich Wes-ten-ta-sche“, säuselte er süffisant.

Mildred nickte hastig und ihre Wangen färbten sich dunkelrot.

„Ja, sicher, eine Weste, keine Jacke oder Mantel …“, sie lachte unsicher. „Ich bitte um Verzeihung.“

Sie erlangte ihre Fassung wieder und wandte sich direkt an Johnsen.

„Vor meiner Tätigkeit bei der Polizei habe ich übrigens ein paar Semester Psychologie studiert. Also sehe ich mich in der Lage, ein ziemlich exaktes Täterprofil zu erstellen.“

In ihren grauen Augen glitzerte es unternehmungslustig.

Na, das kann ja eine tolle Zusammenarbeit werden, dachte Johnsen mürrisch. Seine Begeisterung von dieser frisch von der Uni kommenden Frau hielt sich in Grenzen.

Mikkel jedoch nickte anerkennend. „Danke, Frau Jakobsen.“

Er wandte sich an den Kommissar.

„Sehen Sie, Herr Johnsen, ich habe an alles gedacht. Sie haben ab sofort eine Ex-per-tin an Ihrer Seite.“ Mikkel hielt inne und legte den Kopf schräg. Dann bleckte er die Zähne zu einem derartig arroganten Lächeln, dass Johnsen große Lust verspürte, es ihm mit Hilfe einer Ladung Wasser aus seinem Glas aus dem Gesicht zu waschen, und fuhr fort: „Ich schlage vor, dass Frau Jakobsen Mitglied der hiermit neu gegründeten SOKO …“ Er hielt erneut inne und suchte nach einem passenden Namen. Johnsen ging dieses Getue gehörig auf die Nerven. Da Mikkel jedoch auch nach reiflicher Überlegung keine Bezeichnung nach seinem Geschmack einfiel, zuckte er schließlich die Achseln und meinte: „Wie auch immer, lassen Sie sich einen passenden Namen einfallen.“

Das Gekicher seiner Sekretärin brachte ihn kurz aus dem Konzept. Er wedelte genervt mit der Hand, woraufhin sie verstummte.

„Wo war ich? Ach ja. Also für alle: Diese Dame ist nun ein Teil der neuen SOKO und wird die Herren Johnsen und Weyn unterstützen. Zudem können wir auf die Zusammenarbeit mit der Grenzpolizei bauen. Die Herren sind bereits darüber informiert, dass Sie“, er deutete in Weyns und Johnsens Richtung und wies anschließend auf Jakobsen, „in nächster Zeit enger als gewöhnlich zusammenarbeiten werden. Gibt es irgendwelche Fragen, Anregungen, Kritiken? Nein? Dann erkläre ich die Sitzung hiermit für beendet.“

Selbstzufrieden klatschte er in die Hände, leerte sein Glas, in dem sich etwas befand, das verdächtig nach frischgepresstem Orangensaft aussah, und begann, seine Unterlagen, die vor ihm auf dem Tisch verstreut lagen, zusammenzusuchen. Leises Gemurmel erhob sich.

Johnsen hätte noch einige Fragen, Anregungen und vor allem jedem Menge Kritik gehabt, doch dieses Mal überließ er seiner Vernunft den Sieg.

Er stand auf und ging in Richtung Ausgang. Er war nicht besonders scharf auf diese glorreich anmutende Zusammenarbeit mit der kleinen Sommersprosse und wollte die Verabschiedung von seinem Vorgesetzten schnell hinter sich bringen, doch daraus wurde nichts. Mikkels Sekretärin hinderte ihn daran, sicher nicht einmal absichtlich. Sie tat nur das, was sie am besten konnte: hübsch aussehen und im Weg herumstehen. Sie stand halb von ihm abgewandt und war voll und ganz auf ihren Chef fixiert, der gerade mit Mildred sprach. Ihre Körpersprache verriet äußerste Anspannung, sie wachte offensichtlich mit Eifersucht über ihren Brötchengeber. Johnsen tippte ihr zweimal auf die spitze Schulter und als sie sich umdrehte, wies er mit dem Kopf zur Tür.

„Entschuldigung, darf ich?“

„Oh, natürlich“, hauchte sie und schlüpfte an ihm vorbei, wobei er geschworen hätte, dass sie ihn absichtlich mit ihrer linken Brust am Oberarm streifte.

„Bis zum nächsten Mal, Herr Kriminalhauptkommissar.“

„Ja, bis dann“, erwiderte er trocken.

Mikkel bekam einen extrafesten Händedruck, der ihm hoffentlich beibrachte, wie man jemandem anständig die Hand zu geben hatte.

Johnsen machte drei Kreuze, als er endlich draußen auf dem Gang war. Immerhin hatte er mit leiser Genugtuung bemerkt, dass der Schnösel sich verstohlen die Hand rieb, bevor er sich dem Nächsten zuwandte.

Am Ende des Ganges blieb Johnsen stehen und wartete. Als Mildred aus dem Raum kam, entdeckte sie ihn sofort. Mit ungleichmäßigen Schritten kam sie auf ihn zu und blieb dann vor ihm stehen. Sie reichte ihm gerade einmal bis zur Schulter.

Offenbar hatte sie damit gerechnet, dass er sie unter vier Augen in seinem Büro sprechen wollte. Sie ließ ihm den Vortritt und tippelte leise hinter ihm her.

Johnsen würde es nicht wundern, wenn sie am Abend dicke Blasen von diesen unmöglichen Schuhen haben würde, die ihre geringe Körpergröße offensichtlich um fünf Zentimeter nach oben mogeln sollten.

Kurz darauf saß sie beinebaumelnd auf seinem Bürostuhl, während er am Fensterbrett lehnte. Er hatte die Hände in den Hosentaschen versenkt, sodass sie unschöne Beulen bildeten und sah sie mit seinem Verhörerblick an.

„Also, ich warte auf Ihre Erklärung.“

Mildred rutschte unruhig auf dem Stuhl herum. Auf den ersten Blick schien es sie zu stören, dass ihre Beine zu kurz waren, um sie auf den Boden zu stellen, doch das müsste sie eigentlich gewohnt sein. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, erkannte Johnsen. Seine Neugier wurde immer größer.

„Es ist so“, begann sie zögerlich, „ich bin daran schuld, dass Sie die Info über die zweite Leiche nicht rechtzeitig vor dem Eintreffen des Polizeimeisters erhalten haben.“

„Und wie haben Sie das bitte geschafft?“

Diesmal fehlte ihr der Mut, ihm in die Augen zu sehen. Stattdessen spielte sie nervös mit dem Zipfel ihrer blauen Reißverschlussjacke und ließ dabei ihren Blick durch den Raum irren.

„Also?“ Die Ungeduld in Johnsens Stimme war unüberhörbar.

Mildreds Finger ließen den Reißverschluss in Ruhe und verschränkten sich ineinander.

„Nun, im Grunde ist es eine ganz simple Geschichte: Ihr Faxgerät ist kaputt.“

„Und woher wissen Sie das?“

„Weil ich es kaputt gemacht habe.“

„Was haben Sie an unserem Faxgerät zu suchen?“

Sie hielt seinem Blick trotzig stand.

„Ich wollte nur ein paar Kopien anfertigen, und da die Tintenpatrone in unserem Kopierer leer war und ich keine Ahnung vom Austausch der Patronen habe, benutzte ich Ihren, oder wollte es zumindest. Dabei habe ich irgendetwas verstellt oder so …“ Sie hob hilflos die Schultern. „Elektrische Geräte sind dänische Dörfer für mich.“

Johnsen musste gegen seinen Willen grinsen.

„Böhmische Dörfer“, korrigierte er knurrig.

Sie nickte und riskierte einen Seitenblick. Sein Humor gefiel ihr, auch wenn sie sich noch unsicher war, wie stabil er war, bevor er in schlechte Laune umschlug.

„Jedenfalls ist das der Grund, warum Sie erst zur Besprechung von der anderen Leiche erfahren haben. Sie hätten von Mikkel ein Fax bekommen sollen.“

Johnsen stöhnte. Mikkel und sein Faxgerät. In welchem Jahrhundert lebte der eigentlich? Mail, Telefon, Handy? Nein, mit Faxnachrichten kommunizierte er. Was für eine Papierverschwendung.

„Jetzt mal abgesehen von dieser vorsintflutlichen Art des Kommunizierens. Sie waren gestern hier in meinem Büro, haben das Fax geschrottet und sagen es mir erst jetzt?“

„Ich wusste ja nicht, dass etwas kaputt gegangen ist! Das Fax muss erst nach Dienstschluss gekommen sein.“

„Na in Ordnung. Ich danke für Ihr kleines, leicht verspätetes Geständnis. Doch ich möchte für die Zukunft eines klarstellen: Sie betreten dieses Büro nur dann, wenn Sie dazu aufgefordert werden, und ohne ausdrückliche Erlaubnis lassen Sie die Finger von unseren Geräten, haben Sie verstanden?“

„Ja, verstanden.“

„Also dann …“, er stieß sich vom Fensterbrett ab und kam mit ausgestreckter Hand auf sie zu.

„Auf gute Zusammenarbeit. Wir sind hier alle per Du, nenn mich also bitte Jørn.“

„Mildred.“

Sie schüttelte ihm kräftig die Hand. Da konnten gewisse Herren noch etwas lernen.

„So, ich schlage vor, du gehst jetzt zum Kollegen Thielsen, die Tür gegenüber. Der kennt sich mit dem Technikzeug aus. Er soll sich um den Kopierer und um unser Faxgerät kümmern.“

„Hat Thielsen auch einen Vornamen?“

„Mitnichten. Nenn ihn einfach so und frag nicht weiter nach, er ist da empfindlich.“

„Oka-y“, sagte Mildred gedehnt mit einem fragenden Unterton in der Stimme und wandte sich zur Tür.

Um Thielsens Vornamen rankten sich zahlreiche Gerüchte. Die gruseligsten und abwegigsten Namen waren schon vorgeschlagen worden, doch Thielsen machte mit unbeweglicher Miene jeden Versuch, den richtigen zu erraten, zunichte. Natürlich wäre es ein Leichtes, in Thielsens Arbeitsvertrag nachzusehen, der vor Äonen von Jahren mit einem längst verstorbenen Vorgänger Mikkels geschlossen worden sein musste. Doch das verbot der Respekt. Thielsen war älter, als es den Anschein hatte. Und dennoch existierte das Wort Rente nicht in seinem Wortschatz. Immer auf dem allerneuesten Stand war er eine Koryphäe auf seinem Gebiet.

Die Klinke in der Hand hielt Mildred noch einmal inne. „Wirst du mich an Mikkel verpfeifen?“, fragte sie mit einem sanften Augenaufschlag, der bei Johnsen exakt seine gewollte Wirkung erzielte.

„Wenn du das glaubst, hast du dich gründlich getäuscht, Mildred. Nun auf Wiedersehen, bring Thielsen dazu, die Geräte wiederherzurichten. Dann ruf bitte bei der Grenzpolizei an und fordere die entsprechenden Protokolle an.“

„Aye, aye Herr Hauptkommissar“, erwiderte Mildred auf Marineart und verließ nun endgültig den Raum.

Johnsen ging zum Fenster zurück, öffnete es ganz und lehnte sich hinaus.

Er musste lächeln, als er an die kleine Frau dachte, die glaubte, ihn mit ihrem Charme um den Finger gewickelt zu haben. Wenn Sie sich da mal nicht täuschte … Er sah auf zu den Möwen, die am Himmel kreisten. Kreisten am Himmel, wie die Geier.

Der arme Björn, die bedauernswerten jungen Frauen, der Mensch, der die Schuld an ihrem Tod trug … Wer war er, wo war er jetzt und welche Beweggründe mochte er wohl haben? Während er in die Wolken schaute, tauchte wieder einmal ungefragt ein altbekanntes, melancholisch aussehendes Frauengesicht vor seinem inneren Auge auf. Zunächst sah sie ihm tief in die Augen, dann wandte sie sich von ihm ab und blickte einem anderen Mann nach, der von ihr wegging und lautlos verschwand. Johnsen erkannte dessen Gestalt und ein ungutes Gefühl regte sich in ihm.

Ein lautes Klopfen an die Tür riss ihn in die Realität zurück.

„Herein!“, rief er, schüttelte kurz den Kopf, um ihn wieder klar zu bekommen, und schloss das Fenster.

Weyn trat ein.

„Na, hast du die Kleine zusammengeputzt? Ich habe euch extra allein gelassen, damit du ihr besser die Leviten lesen kannst“, schmatzte er.

Johnsen warf einen zweifelnden Blick auf Weyns rechte Hand. „Ich glaube eher, dass du am Automaten warst und dir was Süßes geholt hast“, tadelte er.

„Das war nur auf dem Herweg … ich kam einfach nicht dran vorbei … verdammter Automat … der ist irgendwie magnetisch.“ Er machte eine wegwerfende Handbewegung und ließ den Rest des Riegels in seiner Hosentasche verschwinden. Stattdessen zauberte er eine Mappe hervor und schlug sie auf Johnsens Schreibtisch auf.

„Hier, schau mal, das hat mir Mikkel noch in die Hand gedrückt. Er hat mitbekommen, dass du mit Mildred etwas zu besprechen hast, und hat es ohnehin eilig gehabt, mit seiner äußerst kompetenten Schreibkraft das Präsidium zu verlassen.“

Er grinste schief.

Johnsen zog nur vielsagend die Augenbrauen hoch.

„Ich habe gleich zwei Kopien gemacht.“ Er zog ein aneinandergeheftetes Bündel aus dem hinteren Teil der Mappe und wedelte damit herum.

„Ich werde das gleich mal zur Jakobsen rüberbringen, damit sie auch im Bilde ist. Bis dahin hast du sicher schon einen Haufen Arbeit für mich.“

Johnsen winkte ab und vertiefte sich augenblicklich in die Dokumente. Er bekam kaum noch mit, wie Weyn den Raum verließ.

Als er fertiggelesen hatte, entfuhr ihm ein leises Stöhnen. Im Gegensatz zu Gudrun Nielsen bestand bei dieser jungen Frau kein Zweifel an einer unnatürlichen Todesursache. Die Identität der Toten war noch unklar, da das Opfer bislang weder als vermisst gemeldet worden war noch irgendwelche Hinweise auf ihren Namen bei ihr gefunden worden sind. Alle ersichtlichen und medizinisch erkennbaren Details lagen ihm dagegen vor.

In allen Einzelheiten.

Und diese waren alles andere als schön.

Johnson legte den Bericht neben die aufgeschlagene Mappe und zog die Fotos heraus. Die Mitte Zwanzigjährige musste eine wahre Schönheit gewesen sein.

Eine zierliche Nase spitzte keck über volle Lippen. Stellte man sie sich mit der richtigen Farbe vor, nicht in diesem toten Blau, sondern in einem vollen Rot, mussten sie küssenswert gewesen sein. Die geschlossenen Augen – er las nach: ihre Farbe war als hellblau deklariert – wurden von feinen Strichen überdacht, das Ergebnis eifriger Zupfarbeit. Das Blond ihrer Haare konnte durchaus als echt durchgehen, war jedoch laut Gutachten gefärbt. Dies konnte bereits ein erster Hinweis sein. Die wenigen Friseure, die es im Grenzgebiet gab, waren schnell ausfindig gemacht.

Er glaubte, sie einmal irgendwo gesehen zu haben, doch sosehr er sich auch das Hirn zermarterte, er kam einfach nicht darauf. Also konzentrierte er sich auf die nächsten Bilder, die die gesamte Person und die Position zeigten, in der sie gefunden worden war.

Ihre Figur war feingliedrig, sie hatte nahezu den Körper einer Ballerina. Umso brutaler wirkten die dunklen Flecken auf ihrer zarten, durchscheinenden Haut.

Johnsen besah sich die Verletzungen aufs Genaueste. Die Hämatome waren laut Gutachter ante mortem entstanden, das hatte er bei der Obduktion feststellen können.

Als der Kommissar mit der Durchsicht fertig war, legte er die Unterlagen vor sich auf den Tisch und verschränkte die Hände im Nacken. Für ein paar Augenblicke verharrte er in dieser Haltung, den Blick ins Leere gerichtet. Gruselig. Das war der passendste Begriff, der ihm zu dieser Akte einfiel.

Er ließ die Hände auf seine Oberschenkel klatschen und schob alle Papiere zurück in den Umschlag. Er hatte einen Plan zur weiteren Vorgehensweise. Weyn hatte vorher richtig gelegen: Es gab eine Menge zu tun für ihn.

Für sie alle drei, um genau zu sein.

Er ging davon aus, seinen Kollegen in Mildreds Büro zu finden, was ihm sehr gelegen kam, da er auch für sie noch ein, zwei kleine Aufgaben hatte. Johnsen verspürte ein bekanntes Kribbeln in sich aufsteigen. Nun ging die Arbeit richtig los.

Er würde den Fall der Unbekannten im Wald an die beiden Kollegen delegieren. Um die Todesursache Björns verstorbener Nichte würde er sich selbst kümmern.

Das war er seinem Kollegen schuldig.

Gebrochenes Eis

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