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Bootstrip

Salz lag in der Luft. Es war intensiv und kribbelte auf den Schleimhäuten. Ein kräftiger Westwind zerfetzte am graublauen Himmel die Wolken und jagte sie in kleinen Wattebäuschen über den Horizont.

Plötzlich zerriss ein gellender Angriffsschrei die bitterkalte Luft. Erschrocken zog sie den Kopf ein, wich zur Seite aus und konnte gerade noch ihr linkes Auge retten. Als sie sich wieder gefangen hatte, wollte sie wütend zurückschlagen, doch der Angreifer hatte ihre viel zu langsame Bewegung vorausgesehen und sich längst außer Reichweite gebracht. Ihr blieb keine Zeit nachzusetzen, denn schon kam die nächste Attacke, dieses Mal von der rechten Seite. Dann griff jemand von hinten an, ja sogar von oben glaubte sie eine Bewegung wahrzunehmen. Sie war jetzt von allen Seiten umzingelt. Schmerzhaft getroffen schrie sie auf und machte Anstalten, den ersten Angreifer mit einem Schlag ihrer Rechten abzuwehren, doch es blieb bei einem Versuch. Etwas Warmes lief ihr linkes Bein hinunter. Als sie sich nach hinten wandte, schnitt etwas in ihren Hals. Panisch kreischte sie auf. Gegen diese Übermacht war sie ohne Chance. In einem letzten, verzweifelten Versuch gab sie frei, was die Angreifer von ihr haben wollten, um mit dem Leben davonzukommen.

Da lichtete sich die Umklammerung der vielen Leiber und mit einer letzten, geschwächten Bewegung tauchte sie nach unten ab. Die Angreifer ignorierten sie und zankten sich lautstark um die Beute.

Als sie sah, wie der Leckerbissen in die Tiefe fiel, entfuhr ihr ein enttäuschter Laut.

Mit einem leisen Klatschen landete der tote Fisch im Wasser. Langsam versank er im dunklen Meerwasser. Er kam nicht weit. Die größte der Möwen, diejenige, die zum ersten Schnabelhieb ausgeholt hatte, setzte ihrem Mittagessen im Sturzflug nach, packte es mit dem messerscharfen Schnabel, warf den Fisch in die Luft und verschlang ihn in Sekundenschnelle.

Die beraubte Möwe verharrte für einen Moment flatternd in der Luft und sah sich verdrießlich um. Ihr Magen knurrte. Die Hiebe der Schnabelspitzen hatten sie einige Federn gekostet und ihr viele kleinere Wunden zugefügt. Sie blickte sich um und sah die anderen davonsegeln. Niemand legte sich freiwillig mit diesem Ungetüm an, das nun selbstzufrieden auf den Wellen wippte.

Die hungrige Möwe zog einen weiten Kreis, gewann so an Höhe und hielt Ausschau nach einem Ersatz, mit dem sie ihren Hunger stillen konnte.

Weit unter ihr erregte etwas ihre Aufmerksamkeit. Sie legte die Flügel an, verringerte ihre Flughöhe und begann, den Punkt zu umkreisen. Vergessen war die Wut über die verlorene Beute und sogar die schmerzhafteste der Wunden. Die weißen Federn zitterten, als sie ein kleines Manöver vollführte, um sich das Objekt von der anderen Seite anzusehen. Derartige Dinge waren ihr schon unzählige Male begegnet. Sie wusste, dass das Gebilde von den Menschen stammte, die sich aus Bäumen solche schwimmenden Untersätze bauten. Meistens waren diese seltsamen Zweibeiner, die sich auf Fischjagd begaben. Vielleicht würde hier etwas für sie abfallen?

Ein heller Schrei riss sie aus ihren Gedanken. Offenbar waren ihre verhassten Artgenossen zu demselben Schluss gelangt. Auch sie umkreisten neugierig das kleine Segelboot, das auf den wilden Wellen des Vefsnfjordes schaukelte. Ärgerlich zischte sie ihnen zu, sie sollten abhauen. Sie wollte nicht schon wieder den Kürzeren ziehen. Doch sie erntete nur höhnisches, mehrstimmiges Gelächter. Zumindest stellte sie mit Erleichterung fest, dass die kräftigste Artgenossin diesmal nicht dabei war.

Unten machte sich eine dunkel gekleidete Gestalt an Bord des verbraucht wirkenden Decks zu schaffen. Trotz seines zerbrechlichen Äußeren spannte sich das Hauptsegel kräftig im Wind und trieb die Freja, so der Name des Bootes, in spielerischer Leichtigkeit vor sich her.

Der Mann hatte sich dem Seil genähert, an dem das Segel befestigt war. Seine kräftigen Fäuste schlossen sich um das Takelwerk und brachten die Armmuskeln unter seinem hochgekrempelten Hemd zum Vorschein. Er zog kräftig am Aufholer. Das Seil straffte sich und der Klüver, das kleinere Segel am Bug des Bootes, glitt geschmeidig nach oben. Beherzt zog er daran, bis ihm kleine Schweißperlen auf die Stirn traten. Als der Klüver gehisst war, verknotete Frejas Helfer das Seil wieder fachmännisch und kehrte an das Ruder zurück.

Das Segelboot nahm weiter Fahrt auf. Das hinzugezogene Segel verlieh Freja den gewünschten zusätzlichen Antrieb und ließ sie noch schneller als zuvor über das Wasser sausen. Fröhlich platschten ihre Planken über das dunkelgrüne Nass.

Der blonde Mann mit den meerblauen Augen teilte Frejas Freude. Das Ruder fest in den Händen, die Gischt im Gesicht, den Wind in den flatternden Haaren war auch er ganz in seinem Element.

Er sah die kleinen gefiederten Gesellen, die ihn beobachtet hatten, kleiner werden und hörte ihre missmutigen Rufe verklingen. Die hatte er abgehängt.

Jørn Johnsen stand breitbeinig mit beiden Händen am Ruder und sog gierig die frische Meeresluft in seine Lungen. Entgegen besseren Wissens wollte er die Rückfahrt noch hinauszögern und verharrte regungslos. Seine Augen glitzerten mit dem Wasser unter seinem Bug um die Wette, zeugten von der Leidenschaft, die ihn durchströmte. Das Gefühl grenzenloser Freiheit versetzte ihn in Höchststimmung und ließ ihn ein heiseres Lachen ausstoßen. Einfach so, auch wenn niemand es hören konnte. Weil er sich gerade seines Lebens freute und diesem Glücksgefühl irgendwie Raum verschaffen musste. Seine Stimme hallte über die Wasseroberfläche, bis sie irgendwo von einer Woge geschluckt wurde.

Meine treue alte Freja und ich, dachte er, wir sind ein ausgezeichnetes Team. Sie ist zwar nur ein kleines Schiffchen und auch nicht mehr die Allerjüngste, doch sie hat bereits einige Male unter Beweis gestellt, was ihre geschmeidigen Planken auszuhalten vermögen.

Endlich war es so weit. Die beiden Uferseiten, die bislang vom Fjord geteilt worden waren, verschmolzen miteinander. Er betrachtete die blasse durchgehende Linie. Als er sich wieder nach vorn wandte, seufzte er. Vor ihm erstreckte sich das offene Europäische Nordmeer.

Je weiter er hinausfuhr, desto stärker wurde der Wind. Er zerrte an den Segeln und ließ die Seile ächzen. Die enttäuschten Möwen hatten es längst vorgezogen, eine kleine Insel anzusteuern. Sie war kaum mehr als ein mit Vogelkot überzogener und an den Seiten mit Muscheln besetzter Haufen Steine. Streitsüchtig wie immer, zankten sie sich dort lautstark um die besten Plätze.

Jørn fixierte das Ruder und beschloss, dass ihm noch genügend Zeit blieb, sich kurz aufzuwärmen. Er ließ sich auf der Bank nieder, die protestierend knarrte und zog seinen Mantel enger um sich. Er griff nach seinem Rucksack, holte ihn unter der Bank hervor und fand nach kurzem Wühlen seine Thermoskanne. Den Blick unverwandt nach hinten Richtung Westen gerichtet, achtete er nicht auf seine Hände als er sich einschenkte und an seinem Tee nippte.

Das war ein Fehler.

„Aua! Scheiße, ist das heiß!“ Die Tasse flog ihm aus der Hand, er hielt erschrocken den Atem an und lauschte auf ein verräterisches Platschen, doch zu seiner Erleichterung landete sie scheppernd innerhalb des Bootes. Doch die Kanne fiel natürlich ebenfalls um. Fluchend sprang er auf und brachte damit das ganze Boot zum Wanken. Mit glucksendem Geräusch ergoss sich der dampfende Inhalt der Kanne über seine Sachen. Hastig stellte er sie auf, wischte sie mit dem Ärmel ab und blickte in seinen Rucksack hinein. Wenigstens waren Handy und Geldbeutel nicht betroffen. Der nasse Pullover würde wieder trocknen und seine Kamera war in ihrer Schutzhülle sicher.

Seine Lippen brannten immer noch. Er tastete mit der Zunge nach seinem Gaumen, der sich anfühlte als wäre er gekocht worden. ,Wer zu sehr seinen Liebeleien nachging, lief eben Gefahr, sich zu verbrennen‘, sinnierte er und hängte das triefende Kleidungsstück nachlässig über seine Sitzgelegenheit.

Es wurde Zeit umzukehren. Leider.

Ein verbotener, oft verdrängter Gedanke drängte sich wieder einmal in den Vordergrund. Zu gern würde er der Versuchung nachgeben und Freja einfach ihren Lauf lassen. Er könnte immer weiterfahren, weiter und weiter. Fort. Weg von der Heimat, von allen Verpflichtungen, weg von … seine Gedanken gerieten ins Stocken, als er sein Herz stolpern fühlte. Nein, er durfte das nicht.

Er richtete seine Augen auf die kleine Norwegenflagge, die am Heck flatterte, und warf einen letzten Blick auf den lockenden Horizont.

Das Ufer war nun nur noch zu erahnen. Jørn wusste, dass es allmählich gefährlich wurde. Während er noch immer in seiner Stellung verharrte, durchzuckte ihn die abstruse Idee, dass seine Freja ein Eigenleben haben könnte. Sie würde sich sehnsüchtig fragen, ob er es wagen würde, ihren größten Wunsch zu erfüllen. Ob er ihr erlauben würde, ungebremst weiter über das Wasser zu preschen und ihren Weg nach Westen fortzusetzen. So lange, bis sie schließlich erschöpft von ihrer weiten Reise, mit zerfetzten Segeln und verkratztem Rumpf, an Islands Küste brandete. Jedoch nur, falls es ihr gelänge, den starken Wellengang der hohen See zu überstehen und schlussendlich vor Islands Küste den hinterlistigen Untiefen mit ihren scharfkantigen Felsen auszuweichen.

War sie dafür nicht ein wenig zu alt und marode? War er dafür nicht zu alt und marode?

Eine starke Windböe klappte Jørn den Mantelkragen nach oben. Beharrlich schlug er immer wieder gegen seine Wange, bis Jørn das Spiel beendete, ihn wieder herunterklappte und festknöpfte. Die Bewegung holte ihn in die Wirklichkeit zurück. Das vorherige Glücksgefühl flog mit einer Böe davon, segelte auf ihr gen Westen. Ein leiser Seufzer begleitete es. Es war nun wirklich an der Zeit, Frejas ungestüme Fahrt zu bremsen.

Langsam zog er den Klüver wieder herunter und drehte in einer langgestreckten Kurve bei, um das Tempo zu drosseln. Sämtliche Handgriffe waren ihm im Laufe der Zeit in Fleisch und Blut übergegangen. Er arbeitete mechanisch und bedächtig. Nach der geschmeidigen Wende steuerte er zurück. Sein Blick fiel auf das dunkle, tiefe Wasser, auf dem kleine weiße Schaumkronen tanzten. In seiner Fantasie teilten sich die Wellen und bildeten menschliche Konturen.

Aus einem anmutigen Gesicht blickten ihn zwei von langen Wimpern umrahmte braune Augen von unten an.

Er blinzelte verwundert und im nächsten Moment war die Vision wieder verschwunden.

Johnsen fröstelte. Plötzlich fühlten sich seine Hände eiskalt an. Mit gerunzelter Stirn blickte er nach oben. Unbemerkt hatten Wolken sich verdichtet und ließen keinen einzigen Sonnenstrahl mehr durch. Besorgt beobachtete er, wie sie sich auftürmten und schätzte die Bedrohung ab, die von ihnen ausging.

Mit fachmännischem Blick erklärte er sie schließlich für harmlos. Kalt, dunkel, aber vorerst noch ungefährlich.

Er wandte sich ganz nach hinten und warf den Außenbordmotor an, um damit endgültig den Rückweg anzutreten. Er war nun wirklich lange genug unterwegs gewesen, zudem sagte ihm ein Blick auf die Uhr, dass die Fähre bald kommen würde. Er wollte es vermeiden, ihre Aufmerksamkeit zu erregen, wusste er doch, dass der Kapitän nicht gut auf ihn zu sprechen war. Es war Segelbooten von Frejas Größe (sofern man hier überhaupt von Größe sprechen konnte) nicht gestattet, so weit aufs offene Meer hinauszufahren. Und gerade er sollte es vermeiden, mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten, denn als Erster Kriminalhauptkommissar hatte Jørn Johnsen schließlich Vorbildfunktion.

Gebrochenes Eis

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