Читать книгу Gebrochenes Eis - Julia Yovanna Susanne Brühl - Страница 7

Passendes Fernsehprogramm

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„Mit wie vielen Leuten hast du täglichen Kontakt? Hast du jemals darüber nachgedacht, ob du dich deinen Mitmenschen gegenüber so verhältst, wie sie es wirklich verdienen? Musst du dir nicht im Stillen eingestehen, dass du zu viel Zeit damit verbringst, deinen Vorgesetzten in den Arsch zu kriechen, dich bei den Nachbarn einzuschmeicheln und dich mit nervtötenden Verwandten abzugeben, nur weil du glaubst, es zu müssen, anstatt dich um diejenigen zu kümmern, die deine Aufmerksamkeit wirklich verdienen? Es …“

Hast schon recht, aber jetzt reicht‘s, dachte Johnson und drückte genervt auf der Fernbedienung herum. Das blasse Antlitz des Psychologen mit der schwarz gerahmten Brille verschwand. Glücklicherweise noch bevor er mit erhobenem Finger seine nächste Weisheit verkünden konnte. Es war Johnsen ein Rätsel, wie man diesem neunmalklugen Kerl länger als zehn Sekunden ernsthaft zuhören konnte. Mit dem Daumen auf der Fernbedienung fragte Johnson sich unwillkürlich, ob dieser Studierte seine ungesunde Gesichtsfarbe schon länger hatte oder ob ihn seine eigenen Erkenntnisse erblassen ließen. Allzu viel Sonne bekam er jedenfalls nicht ab.

Außerdem ist mir das zu viel Wahrheit, das kann ich im Moment weniger gebrauchen, dachte er missmutig, nahm einen Schluck aus seiner Bierflasche, die er neben sich auf den Couchtisch gestellt hatte, und schaltete zum nächsten Sender. Der Bildschirm flimmerte auf und ab, die Ziffern zählten immer höher, bis er wieder beim ersten Programm ankam.

„Auch Sie haben einen Waschbrettbauch, ob Sie es glauben oder nicht! Sie müssen ihn nur befreien. Bleiben Sie dran und erfahren Sie, wie sie ihn hervorlocken können …“

Johnsen grunzte und zappte weiter.

„Der Klimawandel nimmt immer drastischere Gestalt an. Wetterexperten warnen vor zunehmenden Katastrophen, die vor allem die Ärmsten der Armen treffen werden. Wenn wir alle nicht sofort unseren Lebensstil verändern, sieht die Zukunft schwarz für unseren Planeten aus. Wir …“

Johnsen hatte unwillkürlich zu dem genickt, was der Umweltaktivist in der grünen Jacke gesagt hatte, doch auch wenn er ganz seiner Meinung war, wollte er jetzt keine Dramen! Weder hören und schon gar nicht bildreich untermalt sehen. Der Verweis auf den Waschbrettbauch eben war hart genug gewesen, dachte er mit leisem Sarkasmus. Zumindest von Weltuntergangsszenarien oder ähnlich dramatischen Themen, die seine ohnehin getrübte Stimmung noch weiter in den Keller rauschen ließen, wollte er verschont bleiben. Eine harmlose Ablenkung, war das denn zu viel verlangt?

Der nächste Kanal zeigte eine Zeichentricksendung, der übernächste eine Nachkriegsdokumentation und der darauffolgende war ein Shopping-Kanal, in dem irgendwelche unbezahlbaren Brillis angeboten wurden. Auch nicht gerade das, wonach er suchte. Für einen Moment erwog er ernsthaft den Gedanken, zurück zu Tom und Jerry zu schalten, drückte dann jedoch auf off.

Der Bildschirm wurde dunkel. Das Prasseln gegen die Wohnzimmerfensterscheibe teilte ihm unüberhörbar mit, dass es noch immer in Strömen regnete.

Seufzend ließ Johnsen den Blick durch den Raum wandern. Auf der Sofalehne hing ein getragenes Hemd von gestern, am Boden lagen die Krümel seines letzten (oder vorletzten?) Abendbrotes und der Schreibtisch quoll über vor unerledigtem Papierkram.

Das Wort „aufräumen“ hallte schrill in seinen Ohren, die Stimme, die ihm das in vorwurfsvollem Ton nahelegte, klang verdächtig nach der seiner Mutter – Gott hab sie selig.

Er war erwachsen, seine Mutter konnte ihm schon lange keine Vorschriften mehr machen. Johnsen stand auf, ging zur Garderobe, streifte seinen Mantel über, schlüpfte in die Schuhe, schnappte sich den Schlüssel und verließ die Wohnung. Nicht hastig, aber er hatte es definitiv eilig.

Trotz der eigentlich milden Temperaturen in diesem Mai begann er augenblicklich zu frieren, als er in die Freiluftdusche hinaustrat. Dieser vermaledeite Regen wollte und wollte einfach nicht nachlassen. Johnsen vermisste seinen Schirm, doch er war zu faul, umzukehren. Als Alternativmaßnahme schlug er den Kragen hoch und zog den Kopf ein. Seine kalten Hände in die Manteltaschen gestopft, schritt er rasch aus. Er hatte kein bestimmtes Ziel und ließ seine Beine einfach draufloslaufen, sie würden den richtigen Weg auch ohne sein bewusstes Lenken finden. Wie immer, wenn er das tat, trugen sie ihn zuverlässig an den beschaulichen kleinen Hafen von Mosjøen. Auf dem Pier blieb er stehen und blickte gedankenverloren auf das Wasser, in das Regentropfen beharrlich kleine Kreise auf die dunkle Wasseroberfläche malten.

Seine Gedanken schwammen im Regen umher wie ein Blatt auf dem Fluss und strandeten bei der Frage, ob er mit seinem Leben glücklich sei. Zufrieden war er im Grunde. Ja. Er war gesund, konnte gut leben. Grob gesagt mangelte es ihm an nichts.

Und dennoch. Dennoch fehlte ihm etwas gewaltig. Etwas, das er sich von keinem Geld der Welt kaufen konnte. Etwas, von dem er keine Ahnung hatte, wie er es bewerkstelligen könnte, es zu bekommen.

Jørn war gern allein, wenn er nach Dienstschluss oder an freien Tagen mit seiner Freja hinausfuhr. Er genoss die Stille, wenn er sich mit dem Fernglas bewaffnet in den Lomsdal-Visten-Nationalpark aufmachte. Dort in aller Einsamkeit Tiere zu beobachten, beispielsweise einen der wenigen Raufußbussarde zu erspähen, die kleiner und struppiger als gewöhnliche Bussarde waren und ihm gerade deshalb und wegen ihres angegrauten Gefieders so gut gefielen, diese Dinge machten ihn zu einem reichen Mann.

Wenn er nach einem solchen Tag – oder zwei, wenn er in einer der Bergvereinshütten übernachtete – nach Hause zurückkehrte, überkam ihn mitunter ein Gefühl der Beklemmung. Wäre es nicht viel schöner, all das mit jemandem teilen zu können? Mit jemandem, der ihn verstand und mit dem er seine Liebe zur Natur, zu allem, was ihn dort draußen umgab, teilen konnte? Der wusste, welche Pflanzen hier wuchsen, welcher Vogel über ihm flog, und der auf größeren Komfort verzichten konnte und mit ihm ein bescheidenes Leben führen wollte?

Eine Windböe fegte über die Straße und ließ eine weggeworfene Dose scheppernd in den Rinnstein kullern. Das Geräusch riss ihn aus seinen Gedanken. Ein wenig verloren stand er am Pier und starrte die Dose an, wie sie hin und her geweht wurde und schließlich in einer braunen Pfütze liegen blieb.

Seine Gedanken wanderten boomerangartig zurück zu sich und der Lücke in seinem Leben. Eine Frau. Er wollte nicht länger allein sein, nicht einsam altern und irgendwann von einem besorgten Nachbarn entdeckt werden, weil dem ein unangenehmer Geruch in der Wohnung nebenan aufgefallen ist.

Wieder einmal kam ihm eine bestimmte Frau in den Sinn. Sie. Ausgerechnet. Die sollte er sich endlich aus dem Kopf schlagen. Es gab noch andere.

Im entfuhr ein Seufzer.

Der Markt war dürftig. Natürlich gab es auch hier ein paar Kandidatinnen, die noch nicht vergeben waren. Die dürre Kassiererin mit den hervorstehenden Zähnen und den strähnigen Haaren zum Beispiel. Hm, sehr anregend. Oder die beinahe hübsche Blondine aus dem Supermarkt. Zweitere hatte durchaus Interesse an ihm gezeigt, doch in einer derart aufdringlichen Art und Weise, dass Jørn schnell Reißaus genommen hatte und seitdem beim Einkaufen im europris stets auf der Hut vor ihr war. Sie zur Verehrerin zu haben, war nicht gerade praktisch, wenn man bedachte, dass es nur einen größeren Laden im Ort gab …

„Jaja, man kann eben nicht alles im Leben haben …“, grummelte er in seinen Mantelkragen und schlurfte weiter an der Hafenmauer entlang.

Es prasselte unerbittlich auf ihn nieder. Seltsamerweise störte ihn der Guss kaum noch.

Er blieb stehen, stemmte sich gegen das unwirtliche Wetter und versuchte zu verstehen, was in ihm vorging, was er ändern musste, was er tun konnte, um dieses Loch in seinem Inneren zu füllen.

Die Zeit verrann plätschernd im Fjord. Johnsen merkte, dass seine Kleidung durchlässig wurde. Die dadurch einsetzende Kälte ließ ihn wieder frösteln. Doch sie hatte auch etwas Gutes, denn sie schaffte Klarheit in seinem wirren Geist. Als würde der Regen sich seinem Strudel aus Fragen und Gedankenspielen anpassen, wurden die Kreise auf dem Wasser allmählich kleiner. Der kräftige Guss von oben verwandelte sich in ein zaghaftes Tröpfeln. Die Kreise auf dem Gewässer bildeten sich immer langsamer.

Es war nun fast ein ganzes Jahr her, seit er den Fall des Verschollenen von Lomsdal-Visten gelöst hatte. Er hatte seitdem immer wieder an diese Zeit zurückdenken müssen und sich auch mit Weyn, seinem Kollegen, des Öfteren über den Fall unterhalten. Es war schon eine besonders ausgefallene Geschichte, die sie damals erlebt hatten, kein Wunder also, dass sie in Erinnerung geblieben war. Doch nicht das allein war der Grund dafür, noch immer tagtäglich an diese Zeit zurückzudenken. Er hatte versucht, den Fall auch gedanklich abzuschließen, und sich eingeredet, dass er niemanden der damals Involvierten jemals wieder treffen würde. Welch ein Irrtum.

Es war gestern, am Sonntag gewesen.

Johnsen sah sie nur zufällig, als er in seinem Stammcafé saß und seinen Morgenkaffee trank. Er war gerade dabei, den Leitartikel zu lesen, als ihn eine Bewegung im Hintergrund aufsehen ließ. Die Zeitung glitt in seinen Schoß. Eine Seite fiel zu Boden, doch er bemerkte es nicht. Die Frau auf der anderen Straßenseite hielt seinen Blick gefangen. Es bestanden nicht einmal für ein Sekundenbruchteil Zweifel daran, dass nur sie es sein konnte. Sie hatte sich im Laufe des letzten Jahres kein Stück verändert. Was auch zu schade gewesen wäre, schoss ihm unwillkürlich durch den Kopf.

Aus einem ihm unerklärlichen Reflex schnellten seine Hände plötzlich nach oben und wie ein Spion in einem alten James Bond Film versteckte er sich hinter der Zeitung. Und genau wie so ein Spion linste er über ihren Rand hinweg. Beobachtete, wie sie geradewegs auf der Kante seiner Morgenzeitung entlangmarschierte. Die Tischnachbarn begannen hinter vorgehaltenen Händen über ihn zu tuscheln. Er reagierte nicht darauf. Alles um ihn herum war mit einem Mal unwichtig und unwirklich.

Die Wahrscheinlichkeit, dass sie ihn wahrgenommen hatte, war denkbar gering. Hoffentlich hatte sie ihn nicht gesehen!

Er beobachtete, wie sie ein Handy ans Ohr presste und den Blick auf den Boden vor sich geheftet hielt. Ihre raschen Schritte ließen ihre nachtschwarze Lockenpracht gleichmäßig auf und ab wippen.

Sie war zu weit entfernt, als dass er ihre Stimme hätte hören können, nur einmal schallte ein freudiges Lachen herüber. Johnsen ertappte sich dabei, dass er verstohlen Ausschau nach einer etwaigen Begleitung hielt.

Sie war allein und einen Augenblick später auch schon um die nächste Ecke verschwunden. Ratlos blickte er auf die Hausecke, als hoffte er, dass sie dort wieder auftauchte. Leises Getuschel drang an seine Ohren, machte ihm bewusst, wie peinlich sein Verhalten gerade gewesen war. Verstohlen griff er nach seiner Tasse, doch der Kaffee hatte jeglichen Geschmack verloren.

Er bezahlte und verließ das Café. Die Norwegen Post ließ er, entgegen seiner Gewohnheit, nahezu ungelesen auf seinem Stuhl zurück. Er hatte sie schlichtweg vergessen. Einem Drang folgend, der keinen Widerstand duldete, nahm er die Verfolgung auf.

Am Ende der Gasse blieb er abrupt stehen.

Was tat er da eigentlich? Was und vor allem: warum? Wenn er sie jetzt tatsächlich einholte, was würde er dann zu ihr sagen?

„Hi Janina, vielleicht erinnerst du dich an mich, ich bin der Kommissar, der letztes Jahr den Betrug aufgedeckt hat, in den dein Freund verwickelt war.“ Schwachsinn.

Er drehte um. Freund oder Exfreund?

Vielleicht war es das, was er wissen wollte.

Der Vorfall hatte sich gestern ereignet. Seitdem war er zu keiner vernünftigen Tätigkeit mehr in der Lage. Dann war auch noch dieser alles Gute wegwaschende Regen dazugekommen. Und dieser Fernseher. Johnsen liebäugelte schon länger mit dem Gedanken, das Ding zu verschenken, da er ohnehin nur selten von ihm Gebrauch machte. Ausgerechnet heute, wo er sich ausnahmsweise einmal gern berieseln lassen wollte, gab es nichts nach seinem Geschmack! Nur Promis, Kommerz, Dreck und Dramen.

Blöde Kiste, ich werf sie doch raus, brummte er vor sich hin, während er zurückging. Der Nieselregen war kaum noch spürbar. Johnsen hatte den Eindruck, dass sich sogar die massive Wolkendecke ein wenig gelichtet hatte.

Wie im Karussell kreisten seine Gedanken wieder zurück, es gelang es ihm nicht einmal, sich ausreichend über den Fernseher zu ärgern, um sich damit von dieser Frau abzulenken.

Eine kurze Bewegung an seiner Brust ließ ihn plötzlich zusammenzucken. Jetzt schaltete sich also auch noch ein vertrautes Geräusch hinzu, das gedämpft aus seiner Innentasche kam. Hastig öffnete er die Knöpfe seines Mantels, griff hinein und nahm den eingehenden Anruf entgegen, bevor sich die Melodie von Yellowsubmarine der Beatles vollends entfalten konnte.

Der Grund für seine hektischen Bewegungen war weniger, dass er einen dringenden Anruf erwartete; er konnte dieses Lied schlichtweg nicht mehr hören. Ein rascher Blick auf das Display zeigte ihm die Nummer seines Kollegen Thor Weyn.

Nach Feierabend.

Bei dem Sauwetter.

Wo er doch gerade so schön am Nachdenken war.

Ein Gefühl der Freude wallte in ihm hoch. Perfekt!

„Ja, Thor, was gibt‘s?“, meldete er sich rasch und eine Spur zu fröhlich.

„Hei Jørn“, antwortete der Kollege verhalten. Johnsen konnte sich das Gesicht mit der fragend gerunzelten Stirn seines Kollegen bildhaft vorstellen.

„Einen neuen Fall gibt es.“

Johnsen war ganz Ohr. Ein neuer Fall bedeutete Arbeit, Ablenkung. Sehr gut.

„Na dann schieß mal los!“

Das ließ sich Weyn nicht zweimal sagen. Mit den Ausführungen wurde das Gesicht des Kommissars immer ernster. Seine gute Stimmung hatte gerade einmal zwei Sekunden angehalten und war nun, nach so kurzer Zeit, wieder wie weggeblasen.

Johnsen entging, dass er wegen seines geöffneten Mantels von oben bis unten klatschnass wurde, da der Regen ohne Vorwarnung wieder stärker geworden war. Es schüttete wie aus Kübeln. Von wegen Auflockerung.

Der Kommissar stand erstarrt in einer immer größer werdenden Pfütze und lauschte aufmerksam, während ihm ein Schauder wie ein Wasserfall den Rücken hinunterlief.

Gebrochenes Eis

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