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Spurensuche

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Björn, der Abteilungsleiter der Spurensicherung, war voll und ganz in seinem Element. Ohne sich von der klirrenden Kälte des Wassers aufhalten zu lassen, schob er sich zielstrebig wie ein Roboter durch den Fluss. Keuchend und mit erhobenen Armen schaufelte er sich auf das Baumskelett zu. Johnsen empfand tiefen Respekt vor dieser Leistung. Er wusste aus eigener blaugefrorener Erfahrung, dass der Schutzanzug, den der Spurensicherer trug, nicht viel mehr brachte, als seinen Träger gerade so vor dem Erfrierungstod zu bewahren.

Die Strömung zog mit aller Kraft erbarmungslos und ohne Unterlass an Björns Beinen. Ein Seil war an seinem Anzug befestigt, das ihn davor bewahrte, abgetrieben zu werden, sollte ihm die Kraft schwinden. Sich von der Brücke aus mit der Strömung treiben zu lassen, war ein Leichtes gewesen, doch da der Bewuchs an den Uferseiten und das Geäst des toten Baumes hinderlich waren, musste er sich nun quer durch den Fluss einige Meter zu der Stelle vorkämpfen, an der sich etwas beziehungsweise jemand verfangen hatte.

Die Sicherung erfolgte von der Brücke aus, unter deren Rändern eine Reihe Eiszapfen hing.

Johnsens Blick schweifte über die anwesenden Leute, die auf der Brücke zugange waren. Er sah gerade in dem Moment zurück zu Björn, als dieser auf einem glitschigen Untergrund ausrutschte. Ihm wurde durch den Sog des Wassers buchstäblich der Boden unter den Füßen weggezogen. Erschrockene Rufe hallten über den Fluss.

Johnsen unterdrückte den Schrei, der auch seiner Kehle entfliehen wollte und lief zum Geländer. Seine Finger umfassten das feuchte Holz so fest, dass das Weiße seiner Fingerknöchel zu sehen war. Unfähig zu helfen, war er gezwungen, zuzusehen, wie sich die Kollegen beratschlagten und hastig an der Sicherung hantierten. Gebannt beobachtete er das Geschehen. Er hatte großen Respekt vor den Fähigkeiten der Bergrettung, doch warum hatten sie zugelassen, dass dieser kleine Trottel allein in dem Fluss herumschwamm? Er wandte sich an den Leiter und wollte ihm gerade diese Frage in einer nicht viel freundlicheren Version an den Kopf klatschen, als ein zorniger Aufschrei alle Gespräche verstummen ließ. Der hochrote Kopf des Spurensicherers war wieder aus den Fluten aufgetaucht und in demselben Augenblick, in dem er wieder genügend Sauerstoff bekam, erscholl eine Schimpftirade, wie sie der Wald noch nie gehört hatte.

Johnsen seufzte erleichtert. Björn ging es also gut.

Erst jetzt bemerkte er Weyn, der auf einmal ein paar Schritte von ihm entfernt stand. Der war ein wenig blass um die gerötete Nase, was dem Gesicht einen lustigen Kontrast verlieh. Einen großen Regenschirm in der einen und ein Taschentuch in der anderen Hand, trat er auf Johnsen zu.

„Hei Jørn, du warst aber schnell.“ Er zog eine Augenbraue hoch und machte mit der betaschentuchten Hand eine Bewegung, als gebe er das Startsignal für ein Grand Prix Rennen.

Johnsen zuckte mit den Schultern und sparte sich jegliche Erwiderung. Der Schwall an ausnahmslos nicht jugendfreien Flüchen hatte nachgelassen. Johnsen wandte sich neugierig wieder dem feuchten Treiben zu, in das sich der Kollege – warum war ihm noch immer ein Rätsel – gestürzt hatte.

„Björn hat darauf bestanden, sich die Leiche zunächst an Ort und Stelle anzusehen“, beantwortete Weyn die unausgesprochene Frage.

„Du weißt ja, wie er ist. Wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hat, gibt er keine Ruhe.“ Er zuckte mit den Achseln. „Meiner Meinung nach ist dieses Unterfangen völlig sinnlos, weil der oder die Tote wahrscheinlich hier von der Brücke gefallen ist und sich dort hinten im Geäst verfangen hat. Es würde völlig reichen, sie einfach herauszuziehen und an Land anzugucken. Aber nein, er muss die Sache natürlich wieder einmal hypergründlich begutachten.“

„Wenn er auf ein kaltes Bad besteht, dann soll er es eben haben“, entgegnete Johnsen kalt. „Wisst ihr sonst schon irgendetwas über die Person?“

Weyn schniefte. „Eine Frau oder ein zierlicher Junge, dem ersten Eindruck nach zu urteilen. Blond.“

„Sonst nichts?“

Weyn schüttete den Kopf.

Missmutig blickte Johnsen nach oben, was er sofort bereute, als ein großer Tropfen direkt auf seine Pupille traf. Er rieb sich das Auge und tauschte einen Blick mit Weyn. Warten zählte bei beiden nicht gerade zu den großen Stärken.

Synchron verschränkten sie die Hände vor der Brust und betrachteten schweigend den großen, schwarzen Frosch im Wasser. Es goss auf die beiden unbeweglichen Gestalten herab und außer dem Prasseln der Tropfen und dem Rauschen der Drevja war nichts zu hören. So standen sie nebeneinander auf der Brücke, der Mittvierziger mit den dunkelblauen, tiefgründigen Augen und dem dichten, blonden Haar und der kleinere und mindestens einen Zentner schwerere Weyn mit dem runden Gesicht und der schwarz umrandeten Brille.

Björn stülpte gerade eine Weste über den leblosen Körper, an der ein weiteres Seil befestigt war. In einer Akribie, die unter diesen Umständen wahrlich bewundernswert war, tauchte Björn dann nach weiteren Fundstücken. Alles, was er finden konnte, steckte er in einen leuchtend roten Sack. Allem Anschein nach war es nicht viel. Der Körper war über und über mit kleinem Geäst und allerhand pflanzlichem Treibgut bedeckt. Johnsen und Weyn beobachteten Björn, wie er an der Leiche herumfingerte und, begleitet von Kommentaren wie „noch so ein Dreck …“, eine Handvoll angeschwemmter Zweige achtlos fortwarf.

Sie verloren das Interesse. Bis die Leiche endlich an Land sein würde, konnte es noch dauern. Johnsen sah den Gerichtsmediziner auf sie zukommen.

„Sauwetter“, brummte Tarek, nachdem er Weyn und Johnsen die nassen Hände geschüttelt hatte. Missmutig zog er seinen Kragen enger um den Hals und deutete mit der Nase auf die dicken Wolken über ihnen, die es munter auf sie herabregnen ließen.

„Ach was, es gibt kein schlechtes Wetter, nur schlechte Ausrüstung. Hier, komm her!“ Johnsen griff in seine Manteltasche und zauberte einen gefalteten Regenschirm hervor, den er aufklappte und dem Gerichtsmediziner über den Kopf hielt.

„Perfekt ausgerüstet, der Kollege!“, lobte der Gerichtsmediziner, während Thor sich ebenfalls unter den Schirm quetschte, seine Brille abnahm und sie mit dem Zipfel seines Pullovers zu putzen begann. Nachdem er seine Brillengläser von den Wassertropfen befreit hatte, blickte er missmutig auf seine schlammverschmierten Schuhe.

„Bist doch sonst nicht so eine Memme“, feixte Johnsen. Dann wandte er sich dem Gerichtsmediziner zu. „Den hab ich immer im Auto. Genau wie Wechselklamotten, einen Ersatzkanister Benzin, was zum Trinken, eine Isomatte …“, begann Johnsen aufzuzählen, unterbrach sich dann und deutete auf den im Wasser stehenden Björn.

„Seht mal, er winkt! Schaut so aus, als ob er endlich fertig ist. Jetzt bin ich aber mal neugierig.“

Björn hängte sich an das Paket und brüllte der Bergrettung den Befehl zu, ihn und den Leichnam zu bergen. Das Herausziehen der Toten stellte sich als schwieriger heraus als gedacht, denn die Zweige der abgestorbenen alten Kiefer haschten immer wieder nach dem leblosen Körper und hielten ihren Fang beharrlich fest. Björn musste wiederholt eingreifen und als er einmal beinahe seinen Sack dem Fluss übergeben hätte, fluchte er so laut, dass Weyn und Johnsen sich betroffen anblickten.

Zur Untätigkeit gezwungen, beobachteten die beiden Kriminalbeamten und Tarek das Geschehen.

Schließlich war es so weit. Johnsen und Weyn liefen eilig hinüber, gefolgt von dem kleinen Männchen, das seine Glatze mit einer grauen Mütze unter der Kapuze vor der Kälte geschützt hatte. Sie wurden jedoch rabiat vom pitschnassen Björn zurückgehalten.

„Einen Moment bitte, die Herren!“

Unwillig standen sie daneben, während Björn sich voll und ganz seiner Arbeit widmete. Jørn und Thor wussten aus Erfahrung, dass es am Klügsten war, ihn erst einmal seine Untersuchungen machen zu lassen. Tarek hatte ohnehin das Selbstbewusstsein eines Eichhörnchens. Also warteten die drei unter dem Regenschirm zusammengedrängt, von dem Thor weit mehr als ein Drittel beanspruchte. Endlich war die triefende Gestalt mit dem schütteren Haar fertig und richtete das Wort an sie. Björn konnte – mitunter auch zu Recht – ziemlich biestig werden, wenn man ihm dazwischenfunkte. Doch eines musste man ihm lassen: Er verstand etwas von seiner Arbeit.

Mit einem verkniffenen Gesichtsausdruck schälte sich der Chef der Spurensicherung aus seinem Neoprenanzug, während er mit Tarek sprach.

Weyn, der diesen Teil seines Jobs am meisten hasste, hielt sich dezent im Hintergrund, während Tarek und Johnsen neugierig die Nasen vorstreckten. Blitzlichter flammten auf, als die Leiche von verschiedenen Seiten fotografiert wurde. Björn zog vorsichtig hier und da an den Kleiderresten, während Tarek mit monotoner Stimme den Fund dokumentierte. Die blonden, langen Haare waren wild zerzaust und voller Blattwerk, kleiner Äste, Dreck und Köcherlarven. Sie trieb wohl erst seit kurzem im Wasser, denn sie war nur minimal aufgequollen, was Johnsen dankbar zur Kenntnis nahm. Er beobachtete verwundert, wie der sonst so emotionslose Björn eine ungewöhnlich zärtliches Verhalten an den Tag legte. Der Spurensicherer beugte sich noch einmal über die Trage. Sah er da eine Träne in Björns Augenwinkel schimmern?

Für Johnsen stand fest: Junges Mädchen, ihm unbekannt, altersmäßig irgendwo zwischen fünfzehn und achtzehn anzusiedeln. Schlanke, einst sicherlich sehr hübsche Gestalt, die von unzähligen Hämatomen und Wunden verunstaltet war. Den Blick in ihre Augen konnte er nicht vermeiden, hielt ihn jedoch so kurz wie möglich. Wie so oft, standen auch ihre Augen weit offen.

Der Spurensicherer stapfte zu einem Kollegen und sprach leise mit ihm. Johnsen runzelte die Stirn. Er kannte Björn bereits seit vielen Jahren, doch selten hatte er ihn so seltsam erlebt. Irgendetwas musste ihn verstört haben. War es die Kälte, das ekelhafte Wetter, die Erkenntnis, wie jung das Opfer noch war? Vermutlich die Kombination all dessen. Doch was auch immer dem Zwerg mit dem spärlich behaarten Schopf aufs Gemüt schlug, Johnsen würde es noch früh genug erfahren.

Weyn warf lange Blicke auf den Körper, bis Tarek Johnsen zunickte.

Trotz aller Berufserfahrung spürte Johnsen einen Stich des Bedauerns beim Anblick dieser blutjungen Frau. Und er war sich sicher, dass es Weyn, Vater zweier Kinder, nicht besser erging.

Auf Johnsens Wink hin packten zwei Helfer der Spurensicherung den Körper in silberne Rettungsdecken ein, sodass er auf der Bahre fixiert und über den steinigen Pfad hinunter zur Straße gebracht werden konnte. Als zwei Männer gerade das Gesicht der Toten mit der Plane bedecken wollten, hob Björn die Hand.

Seine wie in Stein gemeißelte Miene wurde weich, als er sich mit zitternden Händen im Schlamm niederkniete und mit der behandschuhten Hand ein paar der verirrten weizenblonden Strähnen hinter das wächserne Ohr klemmte. Beim Zurückziehen der Hand strich er wie zufällig über die elfenbeinfarbene Wange und drückte vorsichtig die Lider der blicklosen Augen nach unten.

Dann zog er ihr selbst die Plane über das Gesicht. Immer noch im feuchten Dreck kniend, den Parka um den bibbernden Leib geschlungen, verharrte Björn in seiner Position. Niemand wagte es, sich zu rühren. Seine beiden Teammitglieder, die drei Mitglieder der Bergrettungsmannschaft und auch Weyn wurden unruhig und warfen fragende Blicke zu Johnsen herüber, der sich das Verhalten des Spurensicherers selbst nicht erklären konnte.

Johnsen wartete noch einen Moment, in dem nichts geschah, außer dass der Regen auch das letzte Stückchen trockener Haut erreichte. Dann gab er zwei Männern einen Wink, die sich daraufhin erleichtert nach der Bahre bückten und die silberfarbene Rolle auf die Schulter nahmen.

Unwillkürlich fühlte sich Johnsen bei diesem Anblick an einen überdimensionalen Dürüm erinnert. Erschreckend, welche anstandslosen Verknüpfungen das menschliche Gehirn manchmal herstellte, dachte er kopfschüttelnd.

Er legte tröstend eine Hand auf Björns Schulter und zog sie verwundert wieder zurück, als diese zu beben begann. Der kleine Mann stand rasch auf und übernahm, ohne auch nur ein weiteres Wort mit irgendjemandem zu wechseln, die Spitze des traurigen Zuges. Die Bergrettung und die Spurensicherung fungierten als eingespieltes Team. Effektiv und routiniert machten sie sich daran, ihre Fracht den nicht ganz leichten Weg hinunter zur Straße zu befördern. Und obwohl es niemand aussprach, war die Dankbarkeit aller nahezu spürbar, sich nun endlich auf schnellstem Weg zurück ins Trockene machen zu können.

Es lag noch ein halber Kilometer Fußmarsch nach Holandsvika vor ihnen, bevor sie sich in den Sprinter setzen, die Heizung aufdrehen und wieder Gefühl in den eisigen Gliedern bekommen würden. So hart die Norweger auch im Nehmen waren, irgendwann dachten auch sie an nichts anderes mehr als an warmen Tee, heiße Schokolade und allem voran trockene Socken.

Eine knappe halbe Stunde später waren alle in den Wägen untergebracht und nach einer weiteren lag die Leiche auch schon in Mosjøens Kühlkammer.

Als Johnsen zur Tür hereinkam und in das Gesicht des Spurensicherers blickte, erschrak er. Obwohl Björns Lippen die bläuliche Farbe verloren hatten und er seine Kleidung gewechselt und die Glatze trockengerubbelt hatte, sah er um zehn Jahre gealtert aus. Johnsen begann sich ernsthafte Sorgen zu machen. War die Zeit im kalten Wasser zu lang gewesen? Hatte er sich ernsthaft unterkühlt?

Björn hatte sich mit einer dampfenden Tasse, die einen verführerischen Kaffeeduft verströmte, an seinen Schreibtisch gesetzt. Trotz der unangenehmen Situation ließ der Duft Johnsen das Wasser im Mund zusammenlaufen. Er versuchte, sich daran zu erinnern, wie lange es her war, dass er seine letzte Tasse Kaffee oder irgendetwas anderes getrunken hatte. Wann hatte er überdies zuletzt etwas gegessen? Wie auf Kommando knurrte sein Magen vernehmlich. Außer der einen Flasche Bier, die er abends vor dem Fernseher geleert hatte, hatte er seit dem Mittagessen weder etwas Festes noch etwas Flüssiges zwischen die Kiemen bekommen. Die Müdigkeit, die er verspürte, trug auch ihren Teil dazu bei, dass er den Feierabend herbeisehnte. Mitternacht war überschritten und ein Polizist, der müde war, war nicht voll einsatzfähig.

Er schob seine eigenen Bedürfnisse beiseite. Zuerst galt es, sich um seinen alten Kumpel Björn zu kümmern. Wenn das erledigt war … zu Hause hatte er noch eine feine Pfanne Fischkuchen mit Gemüse …

Johnsen schluckte seinen Speichel hinunter.

„Hat sich dein Bad rentiert?“, versuchte er dem jämmerlich in seine Kaffeetasse blickenden Häufchen Elend ein wenig Stimmung einzuhämmern.

Der schaute träge auf und wies wortlos auf einen freien Stuhl.

Johnsen setzte sich.

„Ja, ich bin sauber geworden“, meinte er säuerlich, um dann hinzuzufügen: „Mein Kram ist im Labor und für die Details über die Todesursache musst du bitte das Ergebnis der rechtsmedizinischen Untersuchung abwarten.“

Björn ließ einen Moment verstreichen, dann seufzte er und hob erneut zu sprechen an.

„Ich kann im Endeffekt nur das sagen, was du wahrscheinlich bereits mit eigenen Augen gesehen hast: Junges Mädchen, achtzehn Jahre alt. Der Körper ist ziemlich zugerichtet, wobei ich nicht sagen kann, ob und wie viele der Verletzungen von dem … quasi dem Fundort … stammen, du weißt, was ich meine.“

Johnsen nickte. Der Baum, die Strömung, die Steine, gegen die der Körper wieder und wieder gestoßen war, als das hatte ihn schlimm zugerichtet.

„Das Genick ist jedenfalls gebrochen, aber ob das die Todesursache ist oder eine der vielen anderen Verletzungen und ob und welche davon ihr eventuell vorher zugefügt worden sind, lässt sich auf die Schnelle nicht feststellen. Insgesamt gibt es mehrere tödliche Verletzungen … du kriegst morgen dann den Bericht.“

„Ich weiß, ich habe bereits mit Tarek gesprochen“, entgegnete Johnsen, der sich über dieses für Björn untypische Gestammel wunderte.

Björn verstummte wieder und sank noch ein Stück weiter in sich zusammen. Johnsen runzelte die Stirn, doch noch bevor er den Mund öffnen konnte, regte Björn sich wieder.

„Wir fanden außer ein paar Kleinigkeiten in den Hosentaschen keinerlei Gegenstände bei ihr, wobei durch die Strömung natürlich auch etwas weggespült worden sein könnte.“ Er zuckte die Achseln. „Nichts Besonderes, nur ein Labello, ein nahezu völlig aufgelöstes Taschentuch und irgendein ausgewaschener Zettel, der wohl mal mit Kugelschreiber beschrieben worden war, jetzt jedoch absolut unbrauchbar ist.“

„Und das Zeug, das du in den Sack gesteckt hast?“

Björn hob die Schultern, ließ sie wieder fallen und schaute frustriert in seine Kaffeetasse, die er nach wie vor mit beiden Händen umklammert hielt.

„Fehlanzeige.“

Johnsen legte die Hände auf den Tisch und stemmte sich hoch.

„Gute Arbeit, Björn. Du solltest besser für heute Feierabend machen. Wärm dich anständig auf, damit du dir keine Erkältung holst.“ Er lächelte ihm aufmunternd zu. „Wir können es uns nicht leisten, auf unsere Nase und unsere scharfen Augen zu verzichten.“

Björn schnaubte.

Himmel, was war denn mit dem los? Johnsen hatte jetzt langsam wirklich die Nase voll, er wollte endlich etwas in den Magen kriegen, ein Bier und dann in die Falle! Er bemühte sich noch ein letztes Mal.

„Weyn ist bereits heimgefahren und für dich wird es auch Zeit. Es war für uns alle ein anstrengender Tag.“ Er schob den Stuhl zurück und wandte sich zum Gehen. Doch die Stille im Raum hinderte ihn daran, die Tür zu öffnen. Er drehte sich wieder um.

Björn hatte sich keinen Millimeter gerührt. Er saß da wie eine kalte Marmorstatue.

Johnsen seufzte innerlich, ging zurück, stützte sich auf die Stuhllehne und beugte sich vor.

„Die Ermittlungen bezüglich der Identität und alles Weitere kann bis morgen warten. Heute können wir nicht mehr tun.“ Er merkte, dass seine Worte an Björn abprallten. Allmählich war er mit seinem Latein am Ende.

„Björn, was …?“

„… so jung …“, unterbrach er ihn leise. Es klang beinahe wie ein Wimmern.

Jørn stutzte und sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an.

„Ist alles in Ordnung mit dir?“, fragte er vorsichtig.

Björn wird alt, dachte er. Vielleicht ist er auch nicht mehr so robust wie früher und so ein Eisbad ist nichts mehr für müde Knochen.

Johnsen zermarterte sich sein Hirn, ob Björn sich vielleicht einfach nur an seine Tochter erinnert fühlte. Hatte er nicht sogar zwei? Aber die waren doch schon älter, gewiss selbst bald Mütter …

„Meine Nichte“, unterbrach Björn die Gedanken des Kommissars, der verdutzt die Luft einsog. Verwirrt starrte er ihn über den Tisch hinweg an.

Fragend suchte er Björns Blick. Die Antwort, die er dort las, erschreckte ihn.

„Du meinst, dass das …?“

Ein leises Schluchzen war die Reaktion.

Johnsen wagte wider besseres Wissen einen kläglichen Versuch, das Unfassbare abzuwehren.

„Björn, ist deine Nichte wirklich in dem Alter der jungen Frau aus der Drevja? Oder hat sie vielleicht eine gewisse Ähnlichkeit? Die blonden, langen Haare …“

Die Schultern des zusammengesunkenen Mannes bebten. Ein Tropfen fiel in die Kaffeetasse. Nicht von den Haaren, denn die wenigen, die er noch besaß, waren inzwischen getrocknet.

„Sie war der fröhlichste Mensch, den ich kannte.“ Björns Stimme versagte.

Johnsen kam sich wie ein Vollidiot vor. Er war mit dieser Situation total überfordert, also tat er das Einzige, das ihm jetzt noch einfiel. Er ging um den Schreibtisch herum, beugte sich hinunter und nahm den völlig am Boden zerstörten Mann fest in den Arm.

Der ließ es geschehen. Schließlich erwiderte er die Umarmung und schluchzte haltlos in Johnsens Jackett.

Geraume Zeit war vergangen, als der Kommissar den Raum endgültig verließ. Nicht ein weiteres Wort war mehr gesprochen worden. Dennoch stand unverrückbar fest, dass Johnsen ein Versprechen gegeben hatte.

Er würde herausfinden, was mit dem Mädchen geschehen war.

Natürlich war das ohnehin sein Job, doch Björn zuliebe würde er alles dafür geben, den Fall lückenlos aufzuklären, und den Täter, falls es einen gab, seiner gerechten Strafe zuzuführen. So schnell es möglich war, auch wenn gerecht ein Wort war, an das niemand in ihrem Kollegenkreis noch wirklich glaubte. Das, was die Gerichte über Mörder und schlimmere Verbrecher verhängten, brachte den Angehörigen nur selten Genugtuung. Und den Menschen zurück brachte es ohnehin nicht.

Gebrochenes Eis

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