Читать книгу Das weibliche Genie. Hannah Arendt - Julia Kristeva, Julia Kristeva - Страница 10
Оглавление»Es scheint, als seien bestimmte Personen in ihrem eigenen Leben (und nur in diesem, nicht etwa als Personen!) derart exponiert, daß sie gleichsam Knotenpunkte und konkrete Objektivationen des Lebens werden.«1 Hannah Arendt (1906–1975) schreibt diese Zeilen, die ihr eigenes Schicksal vorwegnehmen, als sie erst vierundzwanzig Jahre alt ist. Sie hat bereits Heidegger, ihr Leben lang eine faszinierende Präsenz, kennengelernt und geliebt und ihre Doktorarbeit in Heidelberg verteidigt: Der Liebesbegriff bei Augustin2, unter der Leitung eben desselben Karl Jaspers, dem sie sich anvertraut. Von vornherein weiß sie sich »exponiert«, und zwar so sehr, daß sie sich als Knotenpunkt und konkrete Objektivation des Lebens sieht.
Nachdem sie zunächst daran gedacht hatte, sich der Theologie zuzuwenden, und sich dann dem Studium und dem »Demontieren« der Metaphysik gewidmet hatte, besetzt das Leben bald den Hauptteil der Überlegungen der jungen Philosophin. Zunächst das Leben schlechthin: Hannah Arendt muß Deutschland 1933 verlassen, um zu überleben, um der Shoah durch das Exil zu entkommen. Sie hält sich zunächst in Paris auf und kommt schließlich 1941 in New York an, wo sie zehn Jahre später die amerikanische Staatsbürgerschaft erhält. Als Politologin verfaßt sie eine wesentliche Studie über die Geschichte des Antisemitismus und die Ursprünge totaler Herrschaft, um dann schließlich zu ihren grundlegenden Betrachtungen über das Leben des Geistes zurückzukehren.
Früh von der besonderen Leidenschaft ergriffen, für die Leben und Denken eins sind, stellt sie während ihrer wechselvollen, aber zutiefst kohärenten Laufbahn stets das Leben – an sich und als zu erhellenden Begriff – in den Mittelpunkt. Denn weit davon entfernt, ein »professioneller Denker« zu sein, handelt Hannah Arendt ihr Denken im Zentrum ihres Lebens3. Man könnte in diesem spezifisch Arendtschen Zug eine weibliche Besonderheit erkennen: derart, daß die »Verdrängung«, von der man sagt, sie sei bei der Frau »problematisch«, sie daran hindert, sich in die zwanghaften Paläste des reinen Denkens zurückzuziehen, um ihr Denken in der Praxis der Körper und den Bindungen zu den anderen zu verankern.4
Doch mehr noch: In all ihren Schriften leitet das Thema des Lebens ihr Denken und befragt ebenso die politische Geschichte wie die der Metaphysik, so daß es sich im Laufe seiner zahlreichen Erörterungen läutert und ausfeilt. Die mit großem intellektuellen Mut aufgestellte, heftig attackierte These, Nazismus und Stalinismus seien die beiden Gesichter ein- und desselben Grauens des Totalitarismus, insofern sie auf die gleiche Verleugnung des menschlichen Lebens hinauslaufen, bildet eine der Grundlagen der Arendtschen Reflexion. Diese lebenszerstörende Verachtung, die in anderen Kulturen bereits bekannt war, erreicht seit dem Ersten Weltkrieg unter dem Druck des technischen Fortschritts einen bisher unerreichten Höhepunkt: Von der gleichen Verleugnung bewegt, jedoch in verschiedener Weise, treffen sich die beiden Totalitarismen im Phänomen der Konzentrationslager. So schreibt sie, »daß in Asien nicht die abendländisch-christliche Tradition von dem Wert jedes Menschenlebens dem Gefühl der Massen von der Überflüssigkeit der Menschen – ein Gefühl, das in Europa ganz neuen Datums ist und sich erst aus der außerordentlichen Bevölkerungszunahme der letzten 150 Jahre ergeben hat, um dann in den Krisen der Massenarbeitslosigkeit akut zu werden – entgegensteht«5, oder auch: »Diese Menschen konnte man nicht mehr zu politischen oder revolutionären Aktionen bewegen, indem man ihnen sagte, daß sie nichts zu verlieren hätten als ihre Ketten; sie hatten bereits sehr viel mehr verloren als die Kette des Elends und der Ausbeutung, als das Interesse an sich selbst ihnen aus der Hand geschlagen wurde […] Mit dem Verlust der gemeinsamen Welt hatten die vermassten Individuen die Quelle aller Ängste und Sorgen verloren, die das menschliche Leben in der Welt nicht nur bekümmern, sondern es auch leiten und dirigieren. […] Mit ihrer Weltlosigkeit verglichen waren die christlichen Mönche weltverhaftet, voller Interessen für weltliche Angelegenheiten.«6
Dieser ernste Ton, bei dem sich Wut mit Ironie färbt, verrät eine Sorge mit manchmal apokalyptischen Akzenten, wenn Arendt diagnostiziert, das »radikal Böse« liege im »pervertiert-bösen Willen« (im Kantischen Sinne), die Menschen »überflüssig zu machen«: Anders gesagt zerstört der Mensch des vergangenen ebenso wie des latenten Totalitarismus das menschliche Leben, nachdem er den Sinn eines jeden Lebens beseitigt hat, einschließlich seines eigenen. Schlimmer noch, diese »Überflüssigkeit« des menschlichen Lebens, die die Historikerin mit Nachdruck im Aufschwung des Imperialismus festmacht, verschwindet nicht – im Gegenteil – in den modernen Demokratien, die von der Automatisierung überrollt werden: »…wir können immerhin feststellen, daß dieses radikal Böse im Zusammenhang eines Systems aufgetreten ist, in dem alle Menschen gleichermaßen überflüssig werden. Die totalen Machthaber sind von ihrer eigenen Überflüssigkeit genauso überzeugt wie von der aller anderen, und die totalitären Henker sind so gefährlich, weil es ihnen offenbar einerlei ist, nicht nur ob sie leben oder sterben, sondern ob sie je geboren wurden oder niemals das Licht der Welt erblickten. Die ungeheuere Gefahr der totalitären Erfindungen, Menschen überflüssig zu machen, ist, daß in einem Zeitalter rapiden Bevölkerungszuwachses und ständigen Anwachsens der Bodenlosigkeit und Heimatlosigkeit überall dauernd Massen von Menschen im Sinne utilitaristischer Kategorien in der Tat ›überflüssig‹ werden. Es ist, als ob alle entscheidenden politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Tendenzen der Zeit in einer heimlichen Verschwörung mit den Institutionen sind, die dazu dienen könnten, Menschen wirklich als Überflüssige zu behandeln und zu handhaben.«7
Angesichts dieser Drohung erhebt sich eine vehemente Verteidigung des Lebens in der Vita activa8. Als Gegenpol zum – in der vitalistischen Hartnäckigkeit der Konsumideologie und von der in den Dienst des »Lebensprozesses« gestellten modernen Technik – platt reproduzierten Leben stimmt Arendt eine Hymne auf die Singularität einer jeden beliebigen Geburt an, die fähig ist, das zu eröffnen, was sie ohne Zögern das »Wunder des Lebens« nennt: »Das Wunder, das den Lauf der Welt und den Gang menschlicher Dinge immer wieder unterbricht und von dem Verderben rettet, das als Keim in ihm sitzt und als ›Gesetz‹ seine Bewegung bestimmt, ist schließlich die Tatsache der Natalität, das Geborensein, welches die ontologische Voraussetzung dafür ist, daß es so etwas wie Handeln überhaupt geben kann […] Das ›Wunder‹ besteht darin, daß überhaupt Menschen geboren werden, und mit ihnen der Neuanfang, den sie handelnd verwirklichen können kraft ihres Geborenseins. Nur wo diese Seite des Handelns voll erfahren ist, kann es so etwas geben wie ›Glaube und Hoffnung‹, also jene beiden wesentlichen Merkmale menschlicher Existenz, von denen die Griechen kaum etwas wußten […] Daß man in der Welt Vertrauen haben und daß man für die Welt hoffen darf, ist vielleicht nirgends knapper und schöner ausgedrückt als in den Worten, mit denen die Weihnachtsoratorien ›die frohe Botschaft‹ verkünden: ›Uns ist ein Kind geboren.‹«9
Heute fällt es uns schwer zu akzeptieren, daß das Leben, der heilige Wert der christlichen und nachchristlichen Demokratien, die junge Frucht einer historischen Entwicklung sein soll, und zu begreifen, daß es bedroht sein könnte. Doch eben die Frage nach diesem Grundwert, nach seiner Herausbildung in der christlichen Eschatologie und den Gefahren, die er in der modernen Welt läuft, durchzieht das Werk Arendts von einem Ende zum anderen – von ihrer Dissertation über Augustin bis zum unvollendeten Manuskript über die Urteilskraft –, wenn sie dieses Werk nicht sogar heimlich strukturiert.
1Brief von Hannah Arendt an Karl Jaspers vom 24. März 1930, in: Hannah Arendt, Karl Jaspers, Briefwechsel 1926-1969, München, Zürich 1985, S. 48
2Berlin 1929
3Julia Kristeva benutzt hier – im Französischen ebenso wie im Deutschen vom üblichen Sprachgebrauch abweichend – das Verb agir/handeln transitiv. In diesen Kontext gehört eine Bemerkung Hannah Arendts, die möglicherweise einen gewissen Einfluß auf diesen Sprachgebrauch Kristevas gehabt haben mag: »Dies Denken hat eine nur ihm eigene bohrende Qualität, die, wollte man sie sprachlich fassen und nachweisen, in dem transitiven Gebrauch des Verbums ›denken‹ liegt. Heidegger denkt nie ›über‹ etwas; er denkt etwas« (Hannah Arendt, Menschen in finsteren Zeiten, hg. v. Ursula Ludz, München 1989, S. 175). (Anm. d. Übers.)
4Mehrere Veröffentlichungen, Kolloquien und Sondernummern von Zeitschriften sind dem Werk Hannah Arendts gewidmet. Besonders hervorzuheben sind: Social Research, Nr. 44/1977; Esprit, Juni 1980; Les Etudes phénoménologiques Nr. 2/1985; Les Cahiers du Grif, Herbst 1986; Les Cahiers de philosophie Nr. 4/1987; Kolloquium des italienischen Instituts für philosophische Studien in Neapel, 1987; Politique et pensée. actes du colloque international de philosophie 1988, Paris 1989 (Nachdruck bei Payot & Rivages, Paris 1996); Hannah Arendt et la modernité. annales de l’Institut de philosophie de l’Université libre de Bruxelles, Paris 1992; colloque international (Genf 1997), Bd. 1: Les Sans-Etat et le droit d’avoir des droits; Bd. 2: La Banalité du mal comme mal politique, Paris, Montréal 1998.
5Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 1986, 2. Aufl. 1991, S. 502 (Hervorheb. v. mir, J. K.)
6Ebd., S. 511 (Hervorheb. v. mir, J. K.)
7Ebd., S. 702 (Hervorheb. v. mir, J. K.)
8Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München, Zürich 1981, 11. Aufl. 1999
9Ebd., S. 316-317