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2. Lieben nach Augustin

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Hannah Arendt verteidigt ihre Doktorarbeit Der Liebesbegriff bei Augustin am 28. November 1928. Das reservierte Gutachten ihres Doktorvaters Karl Jaspers bestätigt, daß die Studentin fähig ist, das Wesentliche hervorzuheben, aber sie »hat nicht etwa Alles, was Augustin über Liebe sagte, zusammengetragen; […] Beim Zitieren sind hier auch einige Malheurs passiert […] Die Methode ist als sachliches Verstehen zugleich gewaltsam […] gibt letzthin wohl das Nichtgesagte: durch philosophisches Arbeiten an der Sache möchte sich die Verfasserin ihre Freiheit zu christlichen Möglichkeiten rechtfertigen, die sie zugleich anziehen. […] kann die übrigens von positivem Gehalt ausgezeichnete und eindrucksvolle Arbeit leider nicht mit der besten Note zensiert werden. Daher: II – I.«59 In der Tat schätzt Arendt offensichtlich mehr den Philosophen als den Theologen Augustin. Die drei Teile ihrer Arbeit (Amor qua appetitus – die Liebe als Begehren; Creator-creatura – das Verhältnis Schöpfer – Schöpfung; Vita socialis – das Leben in der Gesellschaft) sind entsprechend den Auffassungen von Jaspers angeordnet: Arendt sucht nach einer impliziten Systematik im Werk, selbst wenn diese den religiösen Absichten Augustins fremd ist, jedoch ohne ihn in ein System einspannen zu wollen; auch ist das Vokabular Heideggers hier bereits präsent. Die Theologen sind verwirrt, enttäuscht. Jahre später schreibt Arendt an Jaspers, daß sie überrascht ist, sich in dieser weit zurückliegenden Arbeit wiederzuerkennen.60 In der Tat befragt diese erste abstrakte, rein philosophische Forschung – im Zentrum der transzendentalen Beziehung, der christlichen Liebe – die plurale Bindung, die Menschen in der Welt zueinander in Beziehung setzt. Das Programm eines kommenden Werkes ist bereits vorgezeichnet: Das Thema des Lebens, vermittelt durch jenes der Liebe, strukturiert diese einleitende Arbeit und erlaubt uns, Augustin mit Arendt im Lichte ihres späteren Denkens zu lesen.

Zahlreiche Begriffe deklinieren den Liebesbegriff bei Augustin: Liebe, Begehren (mit seinen beiden Varianten appetitus und libido), Mitgefühl, Begierde, die nach Arendt eine wahrhaftige »Konstellation der Liebe« bilden, wobei sie entwickelt, daß die tragende Welle dieser Vielfalt das Begehren ist: »Der appetitus also ist die Grundstruktur des Seienden, das sich selbst nicht hat, das in der Gefahr steht, sich selbst zu verlieren.«61 Die vielfältigen Formen der Liebe unterscheiden sich allein durch ihren jeweiligen Gegenstand, doch ist diese stets eins mit dem Leben. Aber was ist das Leben? Alle Arendtschen Anstrengungen werden darauf abzielen, den verschiedenen Varianten der Liebe nach Augustin folgend, das zu definieren.

Für Augustin, den Christen, ist das Leben als »höchstes Gut« ein »Leben, das nicht verloren werden kann«: Ohne Tod, ohne Ende ist es ewig. Das beate vivere, absolutes »Gut«, ist also nichts anderes als die »Ewigkeit« außerhalb unserer Existenzen. Nun tendiert die Liebe zu diesem außerhalb Existierenden (als Echo auf die Heideggersche Lehre: zum Sein hin), ewige und glückliche Totalität des höchsten Gutes (summum bene), das ewige Leben in Gott. Obwohl dieses höchste Gut jedoch außerhalb des Menschen liegt, schafft es eine Spannung im Existierenden selbst, da es ihm immer schon durch die retrospektive Wiedererinnerung bekannt ist (die Philosophin betont hier die Uminterpretation Platons innerhalb des Augustinischen Denkens). Die spezifische Spannung im Leben des Seienden spaltet dieses zwischen seiner Endlichkeit und der Ewigkeit, wobei die Liebe das Zeichen seiner Spaltung ebenso wie seiner möglichen Verschmelzung ist. Die Liebe zielt auf ein Gut, das außerhalb dieses Ziels liegt. Da aber alles, was von außen auf das Leben zukommt, nur erstrebt ist um des Lebens willen, so ist eigentlich das Leben zu erstreben.62

So zeichnet sich eine Verdopplung, wenn nicht gar eine Dialektik des Lebens ab: absolute Äußerlichkeit des ewigen Seins und zugleich deren Einführung in die Innerlichkeit des Liebenden; ein Leben der Liebe ist bereits ein LEBEN. Gott, der Liebe ist, erscheint notwendigerweise als das, was Leben mit ewigem Sein identifiziert. Es ergibt sich daraus, daß man zu Gott findet nur … indem man in Liebe lebt. Aber wie?

Im Gegensatz zur Identifizierung von Leben und in Gott sein steht das gegenwärtige Leben, das es zu vernachlässigen gilt: Allein die Begehrlichkeit spricht diesem Leben eine ausschließliche Bedeutung zu. So wie der Liebende sich bei der Geliebten vergißt – Arendt wird später63 sagen, daß die Liebesbeziehung ebenso wie die »christliche Güte« »weltlos« ist – so ist das gegenwärtige Leben angesichts des LEBENS zu vergessen. Dennoch genießt das Subjekt (der Gläubige) das LEBEN (Gottes: des summum esse), indem es es liebt, und dieser Genuß ist möglich in dem Maße, wie das Subjekt seine Glückseligkeit auf ein Draußen richtet, wo Gott ist.

Zeitlich gesprochen ist dieses Außen nichts anderes als die von der Vergangenheit untrennbare Zukunft. Das glückliche Leben ist immer bereits in der Vergangenheit, so daß allein die Erinnerung es in das gegenwärtige Leben holt: Die Rolle der Wiedererinnerung ist also zentral, denn sie verschafft uns den Zugang zur Glückseligkeit. Arendt betont gern, daß Augustin – durch die Erinnerung und im Genuß – das glückliche LEBEN, das gegenwärtige Leben und die Wiedererinnerung miteinander verbindet: Das glückliche Leben ist ein nach außen und auf die Zukunft hin (Ewigkeit) entworfenes Leben, und zwar einzig auf Grund der »Rückverkoppelung des Begehrens«, die es in der Vergangenheit wiederfindet (Wiedererinnerung); zum Ursprung des irdischen Lebens gelangen ist der Grund allen menschlichen Strebens.64 Mit anderen Worten: Das Leben befreit den Seienden aus seiner Endlichkeit eines vom Sein Verworfenen und bindet ihn durch die Erinnerung oder das Bekenntnis (ricordari) an die Ewigkeit: aber dann, und nur dann, wenn das Leben sich mit der Liebe identifiziert.

Ohne die Erinnerung aufzugeben, ist das Leben keine reine Vergegenwärtigung der Vergangenheit, sondern gibt sich zu erkennen als Streben nach dem glücklichen Leben, als Begehren. Obwohl von der Natur abhängig und mehr noch von jenem, »der mich geschaffen hat«, verbirgt das Leben in der Liebe somit eine Art Unabhängigkeit: Es entwirft, überschreitet, erhebt, in einem Wort, es begehrt die Erinnerung. »Ich will also diese meine Naturkraft überschreiten, um mich schrittweise zu jenem zu erheben, der mich geschaffen hat; und ich komme an bei den Feldern und weiten Palästen der Erinnerung«, schreibt Augustin in den Bekenntnissen (X, 12)65, die Arendt kommentiert.

So ist im Rückbezug zum Sein – gleich Leben der Liebe – das Seiende mit ewiger Beständigkeit konfrontiert und erwirbt selbst ewige Beständigkeit sich selbst gegenüber: Das menschliche Leben kann nicht wechselhaft sein, sein Sein ist das völlig Unveränderliche.66 Eben hier wird die Differenz zwischen der christlichen Position des Lebens als Versöhnung mit dem Ewigen und die gegenwärtige Position des Menschen in der Revolte deutlich. Die revoltierende Wende, das Begehren nach Bruch, Erneuerung oder Renaissance, das den modernen Menschen kennzeichnet und von den Revolutionen ausgedrückt wird, über die Arendt später in erhellender Weise nachdenken wird, ist keine Beruhigung in einer stabilisierenden »Gegenüberstellung mit Gott«. An die Stelle des Strebens zum ewigen Sein tritt von nun an das Ideal des Wandels, der ständigen Verschiebung. Allerdings führt das Denken Augustins in Hannah Arendts Lektüre bereits die Prämissen einer Auffassung des Lebens als Beweglichkeit, Andersheit, Anderswerden ein. In der Tat fügt nach Augustin die Kreatur zur Stabilisierung des Unveränderlichen, das vom glücklichen Leben angestrebt wird, ihren spezifischen Anteil hinzu. Dem zeitlosen und ewigen Universum fügt das Subjekt eine »eigentümliche Abbiegung« hinzu, wie Arendt schreibt. Indem er in die unveränderliche Gleichzeitigkeit hineingeboren wird, führt der Mensch die zeitliche Abfolge ein.

Ein anderer Aspekt des Lebens kündigt sich hier an: ein Leben, das nicht das ewige LEBEN ist, sondern das Leben, das hinzukommt in und durch die Geburt. Die »Geburt« (ein häufig wiederkehrendes Arendtsches Thema) ist Trägerin der Zeit und von der Zeit getragen. Das Leben zwischen Geburt und Tod »verbiegt« in der Ewigkeit des Seins eine »Welt« (mundum), in der sich das Leben als Werk unseres Willens entfaltet: »… aus der Vorgegebenheit der Schöpfung macht der Mensch die Welt und macht sich selbst zu einem der Welt Zugehörigen.«67

Halten wir die neue Definition des Lebens fest: Das Leben konstituiert die Welt; zur Tatsache, daß der Mensch im Sein geboren wird, dieses bewohnt und liebt, kommt eine zusätzliche Dimension hinzu: die Dimension des Anfangs und des Tuns. Ausgehend vom göttlichen principium führt das menschliche initium zu Geburten und Taten. So verstanden verwandelt das Leben die »Schöpfung« in »Welt«: Gewiß adoptiert das Geschöpf die Welt, mehr noch aber gründet es sie; es findet sie bereits vor (invenire), aber macht sie auch (facere). Aus dieser fruchtbaren Verdoppelung taucht für das menschlichen Dasein die Möglichkeit auf, sein eigenes Sein zu befragen.

Von Arendt aus Augustin abgeleitet, ergibt sich ein neuer Reichtum des Lebens. Als Anfang ist die Geburt auf das zuvor (ante) bezogen, und über sein Ende im Tod hinaus kündigt der liebende Lebende die künftige Dauer an (im Sein, im Ewigen). Das heißt, die Geburt des Menschen bringt ebenso sehr die Zeit wie die Nichtübereinstimmung mit dem Sein hervor, die Quelle von Fragen sind: »Damit ist aber das menschliche Leben wieder hereingestellt in die Umschlossenheit von der Welt und nicht gesehen in dem Zugleichsein mit der Welt. Denn dem post mundum des Entstehens entspricht das Weiterdauern nach dem Vergehen.«68 Dieser neue Sinn des Lebens sei hier betont: Nicht mehr ewiges Glück noch Wiedererinnerung an das Sein Gottes in der Glückseligkeit des Liebenden, ist das Leben von nun an eine Frage. Begrenzt durch das »noch nicht« und das »bereits nicht mehr«, überschreitet das bei der Geburt gegebene Leben, indem es sich befragt, die Welt. Questio mihi factus sum – »Ich bin mir selbst zur Frage geworden«: Die Augustinische Formulierung, die Arendt bis Vom Leben des Geistes69 erkundet, fällt mit dieser Erfahrung der Liebe zusammen, die gleichzeitig mit dem Willen und der Interiorität des Menschen entsteht. Sie tendiert zum Sein (tendere esse), und aus dieser Spannung konstituiert sich das Geschöpf »noch einmal«, nachdem es vom Schöpfer geschöpft worden ist. Nachdem es so vom Sein zum Sein, von Ewigkeit zu Ewigkeit schreitet, hebt das Leben seinen Grenzcharakter auf.70

Man erkennt hier die Anstrengung Arendts, Augustin lesend den Gegensatz objektiv – subjektiv zu überwinden und die menschliche Freiheit nicht in einer inneren psychischen Disposition festzumachen, sondern im Charakter der menschlichen Existenz in der Welt selbst. Das dem principium folgende initium ist Kennzeichen dieser vorsubjektiven Determination menschlicher Freiheit als »Selbstanfang«, so wie ihn Kant definierte: Weil es einen Anfang gibt, kann der Mensch anfangen; und indem er beginnt, geboren zu werden, bestimmt er sich zu erneuerbaren Geburten, die ebenso viele Akte der Freiheit sind. Die Seiten Heideggers über die »Weltlichkeit« des Daseins sind der Hintergrund für diese Lektüre Augustins71, ebenso wie seine Ausarbeitung über das »Anfängliche«. Arendt läßt sich von ihnen anregen, verleiht jedoch dem Beginn und der Geburt Konnotationen, die dem liebenden Christentum Augustins näherstehen und radikal vom abendländischen Patriotismus der späteren Polemik Heideggers abweichen.72

So neu sie im Verhältnis zum antiken Denken ist, so bleibt die Einführung von Geburt und Tod bei Augustin dennoch einerseits weiterhin im Rahmen einer absoluten Aufwertung des ewigen auf Kosten des gegenwärtigen Lebens. Der Ablauf des Lebens hat keine wirkliche Bedeutung gegenüber der Versöhnung mit der Ewigkeit des Seins in der Glückseligkeit. Die »vorchristliche Sphäre des Denkens Augustins« verlassend, die von Neuplatonismus und hellenistischer Autarkie abhängt, bemüht sich die Philosophin nachzuweisen, daß eine neue Orientierung der Augustinischen Überlegung sich abzeichnet, deren Quelle nicht mehr griechisch, sondern biblisch ist: Es geht um eine andere Logik, die den Schöpfer integriert.

Dieser schöpfende Gott ist nicht mehr kosmisches Wesen, sondern, obwohl sich anthropomorph verhaltend, der andere der Kreatur, der zwar in Liebe wählt, aber auch fordert und verbietet. Von nun an ist das Gesetz im Herzen des Menschen als Autorität eingeprägt, die befragt und somit die vorangegangene Frage, auf die wir stießen, erneut stellt: Das Leben, das sich nicht befragt, das Leben in der Gewohnheit erscheint nunmehr nach biblischem Denken als »wahre Sünde«, mehr als irgendein Begehren. Wenn andererseits das Gesetz die Welt verbietet (»Du sollst nicht begehren«), so stellt sich Gott gegen das Leben in der Welt und die Kreatur in der Welt entsprechend gegen Gott. Die Autorität Gottes ist ständig in diesem Gegensatz gegenwärtig: »Damit aber ist Gott […] verstanden als […] die stets gegenwärtige Autorität, der die creatura im Vollzug ihres Lebens selber ständig gegenübersteht73

Arendt beharrt auf dem Leben als Konflikt, so wie es sich aus der biblischen Stellung eines Schöpfer-Gottes ergibt. Fügen wir hinzu, daß dieser Gedanke des Gegensatzes, der Revolte mehr und mehr den modernen Menschen kennzeichnen wird: Er wird aus ihm nicht nur seinen Anspruch gewinnen, die Güter dieser Welt zu genießen (was in der von Arendt in ihrem späteren Werk oft verurteilten Säkularisierung gipfeln wird), sondern auch die Fähigkeit, seine Anlage zum Fragen zu entwickeln. Dieser psychische Raum des Fragens ist genußbringend, er garantiert das Überleben des Lebenden durch die Fähigkeit, sich etwas vorzustellen, aber nur insofern das Subjekt fähig ist, sich der Autorität oder auch einfach nur der Grenze des Anderen entgegenzustellen. Genuß der Liebe, gewiß, aber der Liebe als Konflikt: in einem Zustimmung und Verweigerung, Freude und Leid.

Freud hat diesen Konflikt in seinen Arbeiten, die das Verhältnis des Menschen zum Sinn grundlegend erneuerten, herausgestellt. Als Kontrapunkt zur Versöhnung des Menschen in seiner Isolierung gegenüber Gott (coram Deo esse), die uns die Augustinische Wiedererinnerung nahelegt, entschleiert die psychoanalytische Anamnese die Permanenz des Konflikts als Bedingung des psychischen Lebens. Augustin hatte diese Perspektive bereits eröffnet, indem er seine Bibellektüre der hellenischen Autarkie aufpfropfte. Freud folgte ihm, ohne es zu wissen, und bezog sich dabei ebenfalls auf die Bibel, stützte sich jedoch ausdrücklich auf die Tragödie des Ödipus, um ein dramatisches, unversöhnbares Wesen zu entdecken. Die christliche Eschatologie hatte diesen Konfliktcharakter nur wiederbelebt, um ihn durch die Liebe zum LEBEN im Leben zu befrieden. Diese Befriedung gelang dank einer subtilen Verschränkung des Leben als mimesis, das heißt der Ähnlichkeit mit dem Sein, und dem Leben als Fragen, ausgehend vom Raum zwischen Geburt und Tod. Indem sie ihrerseits diesen Erfolg befragt, rückt Arendt eine moderne Frage par excellence in den Vordergrund: die Frage des Konflikts und der Revolte, die beide mit der conditio humana als psychisches Leben und als absolutes LEBEN untrennbar verbunden sind – wobei sie die Genealogie bis zum Kern des Augustinischen Denkens zurückführt. Ohne die psychoanalytischen Folgen der Augustinischen Entdeckung festzuhalten, wird Hannah Arendt dennoch gegen Ende ihres Lebens erkunden, was Augustin als die Hauptfähigkeit der so fokalisierten menschlichen Innerlichkeit betrachtete: den Willen74, und sie wird dessen Dekonstruktion ins Auge fassen.

Schließlich ist es nach der Geburt und dem Konflikt der Nächste, der bei Augustin den Begriff des »Lebens« bildet, den Arendt während ihrer gesamten Arbeit ständig »demontieren« wird. Doch wie kann es einen Nächsten, einen »anderen« geben, wenn die Welt verboten ist? Der Nächste ist zuallererst durch die »Eltern« vertreten, mit denen ich von Geburt aus verbunden bin (cognatio), das heißt mit der großen Familie der Nachfahren Adams. Wir treffen hier erneut auf das Thema des konkreten historischen Lebens, das uns durch unsere gemeinsame Abstammung von Adam in den socius taucht. Was jedoch den Augustinischen Menschen in der wesentlichen Verdopplung seines Lebens zwischen ewigem und gegenwärtigem Leben interessiert, ist nicht die Singularität dieses bestimmten Verwandten, sondern einzig das, was allen gemeinsam ist: unsere gemeinsame Sünde und unser gemeinsames Heil im Leben des erlösenden Christus. Ich stehe dem einzelnen Leben des Nächsten gleichgültig gegenüber, denn worauf es mir in diesem Leben ankommt, ist etwas anderes, das Selbst sieht sich selbst nicht mehr und seinen Nächsten »nur noch in der absoluten Distanz«75. »Du liebst in ihm nicht, was er ist, sondern was du möchtest, daß er sei (quod vis ut sit)«76. Und Augustin betont: »volo ut sis«, ich will, daß du seiest – dieser an einen anderen gerichtete Wille impliziert die Sorge nicht um eine individuelle moralische Vervollkommnung, sondern darum, den anderen zu dieser Entzückung, dieser Ausdrücklichkeit seines eigenen Seins zu bringen (rapere ad Deum).77 Man findet in den Schriften Arendts mehrfach die Augustinische Formel volo ut sis, die von Heidegger in einem an Hannah im Mai 1925 gerichteten Brief benutzt wird, aber auch – er schreckte nicht davor zurück, sich bei den geliebten Frauen zu wiederholen – im Briefwechsel mit einer anderen intimen Freundin, Elisabeth Blochmann, 1927.78

Die »Innovationen« Augustins, insbesondere die Möglichkeiten, die er dem Leben bietet, geschichtlich zu werden – immer mit der wesentlichen Glückseligkeit verknüpft –, rufen bei Arendt nacheinander Zustimmung und Verlegenheit hervor. So impliziert der Durchgang des Menschen durch die Geburt (generatione) Gleichheit, Vielfältigkeit, Abstammung, sündige Natur, Tod, kurz ein Aufsichnehmen der »menschlichen Gattung« und zerbricht völlig die Autarkie des Hellenismus. Mehr noch erhält der Begriff des »Nächsten«, der aus dieser menschlichen Gattung hervorgeht, einen neuen Sinn, der vor Augustin nicht explizit gegeben war: Die von Geburt an sündige Gleichheit wird ein frei gewähltes Miteinander, das erneut für jeden zwingend ist. Über den Umweg der Bibel, Adams und des Schöpfers skizziert Augustin nach Arendt eine Möglichkeit des Lebens in der Welt, die nicht nur ein »Geworfensein« in die Fremdheit ist. Hier setzt eine implizite Diskussion mit Heidegger ein, die in den späteren Arbeiten Arendts deutlicher wird: Dabei handelt es sich um ein vertrautes Leben, das durch die Verwandtschaft in der generatione die Frage des Anderen als »neues Leben« stellt und an die extremste Vergangenheit erinnert, den Tod und das Außerweltliche. Die Verbindung der »alten Gemeinschaft« (societas) mit diesem »Anderen«, wird sie möglich sein? Oder unmöglich? Wird sie anders sein als in der Anonymität des »Man«, nämlich in gegenseitiger, die wechselseitige Abhängigkeit auflösender Liebe (diligere invicem)?

Jahrhundertelang ist die katholische Theologie dem von Augustin eröffneten Weg gefolgt, den Arendt in ihrer Weise evoziert und entwickelt. Der Welt fremd, lebt der Mensch weiter in der Welt: Dem anderen vertraut und gleich, kann er sich ihm nur verbinden, indem er das alte Leben zugunsten eines neuen LEBENS in Christus auflöst. Die »neue Gemeinschaft« des Lebens wird möglich, gleichwohl nur im Leiden (durch Übertreibung der Zugehörigkeit zum Körper Christi’) und in der Isolierung (bei der der andere nur die Funktion eines »Übergangs« in der unmittelbaren und einsamen Beziehung zu Gott einnimmt). So gelebt ist das Leben eine ständige Alteration des Menschen, eine Sorge, die sich aus der Tatsache ergibt, daß er selbst und seine Nachkommen in Gefahr sind, aber auch daraus, daß die Personen durch die Gnade gerettet werden können, dank der Vermittlung einer gemeinsamen Sorge um den Nächsten in einem Leben der Liebe: volo ut sis. Dieses Leben als Alteration, dieses Leben als Verdopplung, das von der Lektüre Arendts erneuert wird, erweist sich der historischen Versprechen und Verwirklichungen fähig unter der Bedingung, daß es sich nicht von den wesentlichen Sorgen trennt. Indem sie den »Knoten«, die doppelte Zugehörigkeit des menschlichen Lebens zur »menschlichen Gattung« und zu einem »neuen Miteinandersein« in einem Leben der Liebe betont, bereitet die Studentin ihr kommendes politisches Denken vor. Der christlichen Philosophie entliehene Begriffe, die in der Antike unbekannt waren, wie die des »Versprechens« und des »Verzeihens«, welche sie später entwickeln wird, werden ihr in ihrem ganzen Werk als Bezugspunkt und politische Hypothese dienen.

Man ist also versucht, in diesem Jugendwerk und in der entwickelten Komplexität des Begriffs des Lebens nach Augustin nicht nur die Verarbeitung der »Lieben« zu sehen, die Hannah Arendt in dieser Periode ihres Lebens durchlebt – und in deren »Schatten« (1925) ihre Qual zum Ausdruck kommt –, sondern auch den Keim ihrer späteren Überlegungen. Als die entsetzliche Aktualität des Nazismus und des Stalinismus sie dazu bringt, die sozialhistorischen Ursachen des Totalitarismus zu denken79, wird sie zu den Logiken des Lebens unter den Begriffen der conditio humana zurückkommen, um eine Hierarchie in der Verknüpfung menschlicher Erfahrungen aufzustellen: vita activa einerseits, vita speculativa andererseits, und innerhalb der ersten, drei Typen von Tätigkeit: Arbeit, Werk, Handeln.

Arendt stützt sich auf das Leben des Denkens und kritisiert die metaphysische Tradition, die das kontemplative Leben auf Kosten des aktiven Lebens privilegiert. Sie bemüht sich, letzteres aufzuwerten, wobei sie geltend macht, daß die Tätigkeit das Leben sichert. Dabei ist Vita activa80 auch Anlaß zu einer heftigen Ablehnung des Begriffs des »Lebens« als nihilistischer Wert par excellence. Sie verurteilt heftig den vitalistischen Aktivismus, der den homo faber vergöttlicht, ihn aber letzten Endes in die Robotisierung einer »berechnenden«, jedoch nicht »denkenden« Erkenntnis einschließt. Als Echo auf Augustins Betrachtung über das »vernachlässigbare« Leben, sofern es nicht in der Liebe des beate vivere und des summum esse verstanden ist, kritisiert Arendt die Konsumideologie, in der das menschliche Leben versinkt, wenn es das Bleibende vergißt.81 Sie verurteilt den Kult des »individuellen Lebens« und mehr noch den des »Lebens der Gattung«, das sich als modernes höchstes Gut durchsetzt, jedoch ohne Rückgriff auf irgendein Streben nach Unsterblichkeit. Diese wird durch den Lebens-«Prozeß« ersetzt, der sich als nihilistischer Grundwert aufrichtet. Im Laufe der langwährenden paradigmatischen Veränderung, die von der Technik und der Wissenschaft gestützt wird, richtet sich Arendt ganz besonders gegen Marx, der die Menschen naturalisiert, indem er nahelegt, daß »der Denkprozeß selbst ein Naturprozeß«82 geworden ist. Sie verschont aber auch nicht die Verbissenheit der Wissenschaftler, die den Triumph des animal laborans unter der Maske einer Sakralisierung des Lebens an sich, ohne jeden Bezug zum Anderen, sichern.

Diesen Entgleisungen stellt Arendt ein »spezifisch menschliches« Leben entgegen: Der Ausdruck bezeichnet das »Intervall zwischen Geburt und Tod« unter der Bedingung, daß es durch eine Erzählung dargestellt und mit anderen Menschen geteilt werden kann. Eine großartige Umgestaltung ihrer Jugendlektüre Augustins, gestützt auf ihre spätere politische Erfahrung als Philosophin und Frau kündigt sich wie folgt an: »Das Hauptmerkmal des menschlichen Lebens, dessen Erscheinen und Verschwinden weltliche Ereignisse sind, besteht darin, daß es selbst aus Ereignissen sich gleichsam zusammensetzt, die am Ende als eine Geschichte erzählt werden können, die Lebensgeschichte, die jedem menschlichen Leben zukommt und die, wenn sie aufgezeichnet, also in eine Bio-graphie verdinglicht wird, als ein Weltding weiter bestehen kann. Von diesem Leben, von dem bios zum Unterschied von zoe, hat Aristoteles gemeint, daß es ›eine praxis ist‹«.83 Die Möglichkeit, sich Geburt und Tod vorzustellen, sie in der Zeit zu denken und sie dem Anderen mitzuteilen durch das Teilen mit den anderen – kurz, die Möglichkeit zu erzählen – legt den Grund für das Spezifische, nicht Tierische, nicht Physiologische des menschlichen Leben. Arendt rehabiliert die Praxis des Erzählens, indem sie sich implizit auf Nietzsches Begehren nach Leben im »Willen zur Macht« bezieht, und auf die Interpretation Nietzsches durch Heidegger, der den Biologismus dieses »letzten Metaphysikers« im Sinne der Gelassenheit des poetischen Sagens umdeutet. Die Politologin verwirft den ruhigen Rückzug des poetischen Werks, denn für sie vollenden allein das Handeln als Erzählung und die Erzählung als Handeln das Leben in seinem »spezifisch Menschlichem«. Diese Auffassung, deren aristotelische Herkunft wir weiter unten betrachten werden, verschmilzt das Schicksal des Lebens, des Erzählens und der Politik: Die Erzählung bedingt das dauerhafte Wesen des Kunstwerkes, aber es begleitet auch als historische Erzählung das Leben der polis, um im edlen Sinne des Wortes aus ihm ein (bereits seit den Griechen bedrohtes) politisches Leben zu machen.

Schließlich gelangen die Überlegungen Hannah Arendts zu einer dritten Etappe: Ohne aufgegeben zu werden, zieht sich die Meditation über die vita activa ins Implizite zurück, um sich inmitten der Reflexion über das »Leben des Geistes«84 zu verankern, dessen drei Komponenten sie erhellt und dabei »demontiert«: das Denken, den Willen, das Urteil. Doch der Auftakt dazu ist in Vita activa bereits gegeben: Wenn es zutrifft, daß man nicht ungestraft die Hierarchie der menschlichen Aktivitäten (Arbeit, Werk, Handeln; vita activa – vita contemplativa) umwirft, daß jene Umwälzungen zugleich das Denken und das Leben bedrohen, indem sie sowohl das eine wie das andere zerstören, dann ist es dringend erforderlich, das Leben zu retten, indem man auf die ständige Erkundung seiner Verdopplung, seiner Alteration und der sich daraus ergebenden komplexen Figuren zurückkommt. Als Erbin der Verflechtungen von Leben und Denken, wie sie der christlichen Eschatologie und der Philosophie eigen sind, verknüpft Arendt die Geschichte mit der Dekonstruktion des Geistes, um zu beweisen, daß das Leben kein »Wert« an sich ist, wie es die humanistischen Ideologien suggerieren, sondern sich nur erfüllt, wenn es nicht aufhört, sowohl den Sinn als auch die Handlung zu befragen: »…die Charaktere des Handelns […], die es zu einem so eminent menschlichen Vermögen machen, die Enthüllung der Person auf der einen Seite und das Hervorbringen von Geschichten auf der anderen, die zusammen die Quelle bilden, aus der sich in der Menschenwelt selbst ein Sinn formiert, der dann wiederum als Sinnhaftigkeit das menschliche Treiben zu erhellen und zu erleuchten vermag.«85

Die häufigen Sorgen, die sich Hannah Arendt um das Leben und den Sinn macht, ermächtigen uns zu weiteren Gedanken, deren Aktualität sich von den Fragen unserer Autorin entfernt, deren Einsatz jedoch in ihren Fragen implizit enthalten ist.

Das Handeln, selbst im Arendtschen Sinn verstanden, ist allein nicht fähig, den Menschen ein kreatives und freies Leben zu sichern: Nur das erneute Sichöffnen des »Lebens des Geistes« ist – wie die Theoretikerin im letzten Teil ihres Werkes gezeigt hat – imstande, dies zu leisten. Trotz ihrer ablehnenden Haltung gegenüber der Psychoanalyse (in der sie eine szientistische Reduktion des »Lebens des Geistes« auf Gemeinplätze sah), verbindet das Leben des Geistes im psychischen Raum, der dem der anderen und der Welt gegenüber offen ist, die Forderung der Praxis mit der eines unendlich zu befragenden Sinns – zweifacher Anspruch, der Arendt besonders wichtig war. Heute bestreitet niemand, daß die Arbeit die Angestellten der Showgesellschaft zu Robotern macht. Das Kunstwerk selbst löst sich auf in der Häßlichkeit und im Minimalismus des Nicht-Sinns. Und das politische Handeln, weit davon entfernt, eine »Enthüllung« zu sein (disclosure im englischen Text), ist nichts als Parodie und Leere, erzeugt von mehr oder weniger korrumpierbaren Marketing-Ingenieuren. Abgesehen davon erscheint uns nach wissenschaftlichen, philosophischen ebenso wie psychoanalytischen Forschungen – ein multidisziplinäres Herangehen, das Arendt in ihrer Weise und mit Bescheidenheit praktizierte, ohne die »reine Philosophie« für sich in Anspruch zu nehmen, sondern nur die hybride »politische Theorie«, ja sogar den »politischen Journalismus« – das »Leben des Geistes« durch eine vielfältige Komplexität konstituiert, die aus pluralen Vorstellungslogiken besteht. Diese berühren nicht ausschließlich das Denken, den Willen oder das Urteil, obwohl sie versuchen, auch diese so genau wie möglich zu erfassen. Die Pluralität, um die es hier geht, läßt auch dank dieser logischen Kategorien oder Fähigkeiten die noch wenig beachteten Abgründe des sinnlich Wahrnehmbaren und des Darstellbaren zu Wort kommen.

Die Erzählung, die Fähigkeit, eine Biographie zu formulieren, wird in diesem Kontext ebenso notwendig wie problematisch, ebenso gewagt wie heterogen. Mit Ausnahme ihres Textes über die metaphysischen Konflikte Kafkas und eines Essays über Natalie Sarraute hat sich die Philosophin nicht mit den Stilen der modernen Literatur, ihren Krisen, ihren Dramen, ihren Entdeckungen auseinandergesetzt. Dennoch wird die klassische Erzählung, Arendts implizierter Bezugspunkt, einer strengen Kritik unterworfen. Durch sie hindurch sucht eine Schreibweise den Genuß und die Entmystifizierung, sie versucht, von der conditio der modernen Menschen zu zeugen. Einer Expansion, wenn nicht gar einer Explosion der Arendtschen »Erzählung« gleich, erkundet und erneuert diese Schreibweise den psychischen Raum. Sie befragt mit der Erinnerung die Rückbezogenheit des Menschen auf den Sinn, der Kreatur auf das Ewige, des Subjekts auf das Sein, und offenbart und praktiziert derart eine unaufhörliche Konfliktualität, eine Revolte. Das Leben als Revolte realisiert sich im Ungedachten der Schrift.86 Sie versucht ihr Glück auch in der ständigen Befragung der Erinnerungen, der Freuden, der Gewißheiten und jedweder Identität, die das psychoanalytische Abenteuer trotz seiner mondänen Verstrickungen stützt.

Sind wir fähig, uns andere Varianten des Diskurses und des Handelns vorzustellen – moderne Figuren der Wandelbarkeit, des ständigen Auftauchens von Sinn und Sinnlichem, das Arendt suchte?

Niemand hat in der Moderne so wie Arendt, als sie Augustin las, über die Geburt als ewigen Neuanfang einer singulären Geschichte, einer ungewöhnlichen Erzählung, einer Biographie nachgedacht.87 Wo Nietzsche auf einer »ewigen Wiederkunft« beharrt – keine ermüdende Wiederholung, sondern die »höchste […] Formel der Bejahung, die überhaupt erreicht werden kann«88 –, hebt Arendt in der biblischen evangelischen und augustinischen Tradition hervor: Jede Geburt ist das »Wunder« dieser »ewigen Wiederkehr«, sie erneuert, ist gefährdet, verspricht. Auch auf die zyklische Beschwörung, die das Thema der Geburt in ihren Schriften begleitet, könnten wir ihren eigenen Kommentar des Gedankens der »ewigen Wiederkehr« bei Nietzsche anwenden: »Modern an ihm [dem Gedanken der ›ewigen Wiederkunft‹ bei Nietzsche und – könnte man hinzufügen – dem Gedanken der Geburt bei Arendt] ist das pathetische Gewand, in dem er auftritt; es zeigt, wieviel Anstrengung es den modernen Menschen kostet, wieder zu jenem bewundernden und bejahenden Staunen zurückzufinden, dem thaumazein, das einst für Platon der Anfang der Philosophie gewesen war.«89

Doch wenn es der Menschheit gelingt, Geburten zu programmieren und das genetische Erbe zu modifizieren, und dadurch das Risiko des Neuen in einen Automatismus zu verwandeln, stellt sich die Frage anders: Ist es noch möglich, den Blitz der Überraschung, die Gnade des Beginns offen zu halten? Ist es noch möglich, das »spezifisch menschliche« Leben zu lieben außerhalb des vitalistischen Wettlaufs um Fortschritt und Erfolg? Können wir noch die Flucht nach vorn skandieren durch das Erstaunen und die Sorge, durch das Glück und das Versprechen dieses »Wunders der Geburt«, das mitunter Gefahr läuft, ein mittelmäßiges oder unglückliches Ereignis zu sein (Krankheit, körperliche oder geistige Behinderung), das jedoch als Ereignis die letzte – die einzige? – Wiederbelebung des Fragens nach dem Sinn eines jeden Lebens ist? Oder ist das Leben als Ereignis und als Frage von nun an überholt, da es durch die Technik sichergestellt, uniformiert, banalisiert wurde?

Weil es Geburten gibt – Frucht dieser den Männern und Frauen eigenen Freiheit, sich zu lieben, zu denken und zu urteilen, bevor sie Produkte genetischer Kombinatorik sind –, existiert die Möglichkeit zu wollen und frei zu sein. Unsere Freiheit ist nicht (oder nicht nur) eine psychische Konstruktion; sie ist die Folge dieser Existenz, die unsere ist, nämlich geboren zu sein: initium. »Geworfen« zu sein, sagt Heidegger. Etwas völlig Neues zu beginnen, korrigiert Arendt, und zwar innerhalb der »Zerbrechlichkeit menschlicher Angelegenheiten«: »Die ganze Fähigkeit zum Anfangen wurzelt im Geborensein und gar nicht in der Kreativität, nicht in einer Gabe, sondern in der Tatsache, daß Menschenwesen, neue Menschen, wieder und wieder durch die Geburt in der Welt erscheinen. Ich sehe durchaus, daß das Argument auch in der Augustinischen Fassung etwas dunkel ist, daß es nur dies zu besagen scheint, wir seien zur Freiheit verurteilt, indem wir geboren seien…«90 Doch Arendt begnügt sich nicht damit, den Willen von jeder psychologischen Entscheidung loszulösen, indem sie ihn von der Geburt abhängig macht, die selbst jeder Willensprogrammierung entzogen ist, da sie im Spannungsfeld der Liebe entsteht. Sich an den späten Heidegger anlehnend, schreibt sie auch den Tod hier ein, nicht als Zukunft des Lebens, sondern als interne und intime Dimension seines Sichereignens, als »Heiligenschrein«, der in der bio-graphischen Erfahrung »eingefaßt« ist, verstanden als ein »Intervall«. In diesem Zusammenhang zitiert sie Goethe:

Das Ewige regt sich fort in allen:

Denn alles muß in Nichts zerfallen,

Wenn es im Sein beharren will.91

Am Kreuzweg dieser Anleihen und Umdeutungen entfaltet sich auf diese Weise die Arendtsche Auffassung vom Leben und von der Geburt – nicht als biologisches Experiment, sondern als höchste Erfahrung des erneuerbaren Sinns. Mit ihrem wiederholten Gesang vom »Wunder der Geburt«, bei dem sich der Zufall des Anfangs und die Freiheit der Menschen, sich zu lieben, zu denken und zu urteilen, miteinander verbinden, hinterläßt uns Arendt als kinderlose Frau eine moderne Version der jüdisch-christlichen Liebe zum Leben.

Dieses Denken wird uns angeboten, um geteilt zu werden, und wir können sicher sein, daß es geteilt wird: insbesondere von anderen Frauen, egal, ob »Philosophinnen«, »politische Theoretikerinnen« oder nicht. Tatsächlich bietet die relative Befreiung der Frauen in der Gegenwart diesen die Möglichkeit, ihre Mutterschaft besser zu denken, als sie es seit uralten Zeiten tun konnten. Die Bewährungsprobe der Mutterschaft in der realen Gegenwart des Neugeborenen, dem die Frau ihr Sein überträgt, erfüllt sie keineswegs, sondern macht sie verletzlich, verändert sie. Diese Bewährungsprobe verbindet die Mutter mit ihrem Kind durch eine einzigartige Bindung, die in der menschlichen Existenz nicht ihresgleichen kennt: Denn es handelt sich nicht um das Begehren eines Gegenstandes (oder eines Subjekts), sondern um eine Liebe für den anderen. Die mütterliche Liebe ist vielleicht die Morgenröte der Beziehung zum anderen, die der Liebende und der Mystiker später wiederentdecken. Die Mutter kann deren erste Erkunderin sein, wenn sie nicht den Abrechnungen mit ihrer eigenen Erzeugerin erliegt, vermittelt über ihren Sexualpartner. Außerdem ist dieser andere kein Erwählter, sondern ein »X-beliebiger«92: Keineswegs überlegen, sondern einfach nur neu, setzt sein Leben dramatisch und oft tragisch ein und enthält ein Moment unserer Begegnung mit dem Tod. Ließe sich diese Bewährungsprobe denken – wie Arendt uns auffordert –, könnte sie aus den Frauen der kommenden Jahrhunderte die Wächterinnen der Möglichkeit des Lebens selbst machen.

Versuchen wir also, den Begriff des Lebens im Arendtschen Sinn zu verstehen. Nicht als ein »Überleben der Gattung« (die man uns – mittels der Leistungen der Wissenschaften, die künstliche Mittel und diverse »Klonierungen« erfinden – mit zeugenden Frauen als ebenso möglich ankündigt wie ohne sie); verstehen wir es eher als Liebe für den Beliebigen, den Nächsten, der ebenso zerbrechlich ist wie ich angesichts des Todes und der durch meine Liebe als Frau und Mutter ständig den unerschöpflichen Sinn der vielfältigen Lebensweisen erfindet, die er mir als Gegenleistung zum Geschenk macht.

Dank Empfängnisverhütung, Abtreibung und Techniken künstlicher Zeugung schützen sich die Frauen heute gegen das Schicksalhafte von Fruchtbarkeit oder Sterilität; sie können ihre persönliche Entwicklung verwirklichen und ganz teilhaben an der modernen Zeit, in der die conditio humana von der Wissenschaft beherrscht und den transzendentalen Gesetzen entzogen ist. Dennoch verhindert dieses Eintauchen in das wissenschaftliche Zeitalter nicht – ganz im Gegenteil – das Begehren nach Zeugung und Mutterschaft. Selbst wenn es mitunter den Aspekt eines Willens nach Besitz annimmt, so bleibt dieses übertriebene, ja übersteigerte Begehren nach Mutterschaft analysierbar und in der Lage, in den nunmehr entsakralisierten menschlichen Angelegenheiten die Sorge um den Anderen in der Liebe zum anderen zu verkörpern. Eine Liebe, die mit jeder Geburt neu beginnt und durch den Vater hindurch in der mütterlichen Angst ihren Sinn des ständigen Fragens wiederfindet. Diese zielt nicht auf eine Ewigkeit im Jenseits, auf ein transzendentes summum esse; sondern auf den un-endlichen Sinn des Nächsten hierselbst, mein ganz anderer, mein völlig Gleicher, der Beliebige. In diesen psychischen Winkeln der mütterlichen Liebe glänzen noch die letzten Schimmer des Heiligen, das der homo religiosus dem homo laborans zu übermitteln vermag, der ihn allerdings mehr und mehr verschlingt. Damit das zur Welt kommende Sein ein sprechendes und denkendes Sein werden kann, macht sich die mütterliche Psyche zum Übergangsort von zoe zu bios, von der Physiologie zur Biographie, von der Natur zum Geist. Gelänge es den Frauen, das vom Judeo-Christentum hinterlassene Testament zu leben und zu denken, könnte dieses gerettet, singularisiert und modernisiert werden.

In dem Maße, wie die Psychoanalyse ein heterogenes Subjekt befragt – Trieb und Sinn, Unbewußtes und Bewußtes, Somatisches und Symbolisches –, befindet sie sich an der gleichen Grenze und trägt dazu bei, gemeinsam mit der mütterlichen Begleitung und anders als sie, die Frage des Lebens als Sinn, des Sinns als Leben offen zu halten. Indem sie die psychischen Funktionen eines jeden Individuums angesichts von Geburt und Tod entfalten, indem sie die Strukturen und Dramen des Familiendreiecks analysieren und seine Konsequenzen für die psychische Sexualität und die singulären Denkstrategien eines jeden Subjekts kennen, bewahren die Analytiker in der Fortdauer der menschlichen Gattung die Bestimmung des Individuums, sinnbildend zu sein.

Die mütterliche Liebe für das beliebige Leben – und nicht die Fortschritte der vitalistischen Technik, mit denen diese Liebe sich umgeben kann, noch umgekehrt die vergangenheitszugewandte Ablehnung dieser Fortschritte durch den Konservatismus jener Religionen, die geradezu wild auf Geburtenförderung sind – ist in der Lage, unsere conditio humana als Wesen zu garantieren, die sich Sorgen machen um den Sinn, da zu sein. Unter diesem Blickwinkel und unter Berücksichtigung der Bedrohung, die auf ihm lastet (ein Leben, das manche in »aller Freiheit« technisch reproduzieren möchten, während andere es aus religiösen Gründen ohne jedwede Freiheit aufzwingen wollen), könnte man vorhersagen, daß das Leben im Arendtschen Sinn weiblich oder gar nicht sein wird. Selbstverständlich erlaubt die psychische Bisexualität, wie die Psychoanalyse sie in jeder Person entdeckt, anzunehmen, daß ein Mann diese Weiblichkeit auf sich nehmen, ja sogar die als Spannung der Liebe zwischen zoe und bios definierte Mutterschaft erfahren kann. Und dies wird so lange möglich sein, bis die Technik die Drohung des Todes beseitigt haben wird: Doch wird das je möglich sein?

Es ist bezeichnend, daß eine Frau, eine jüdische Frau, Hannah Arendt, im Schatten der Shoah die Initiative ergriffen hat, die Frage der Geburt neu zu stellen, indem sie der Freiheit zu sein einen neuen Sinn gegeben hat. Dies ist der größte Glanz ihres Genies, das die Krise der modernen Kultur in ihrer Mitte trifft, dort, wo sich ihr Schicksal auf Leben und Tod entscheidet.

59Handschriftl. Gutachten zur Dissertation von Hannah Arendt (1928) aus dem Nachlaß von Karl Jaspers, Deutsches Literaturarchiv Marbach am Neckar, Handschriftenabteilung.

60Brief Nr. 389 vom 16. Januar 1966, in: Hannah Arendt, Karl Jaspers, a. a. O., S. 657-658

61Hannah Arendt, Der Liebesbegriff bei Augustin – Versuch einer philosophischen Interpretation. Philosophische Forschungen, hg. v. Karl Jaspers, 9. Heft, Berlin 1929, S. 20

62Ebd., S. 11-12

63Zum Beispiel in Vita activa, a. a. O., S. 309-310

64Vgl. Hannah Arendt, Der Liebesbegriff bei Augustin, a. a. O., S. 32

65»Transibo ergo et istam vim naturae meae gradibus ascendens ad eum qui fecit me; et venio in campos et lata praetoria memoriae.« Vgl. Hannah Arendt, Der Liebesbegriff bei Augustin, a. a. O., S. 33

66Ebd., S. 35

67Ebd., S. 42

68Ebd., S. 46

69Vgl. Hannah Arendt, Vom Leben des Geistes, a. a. O., S. 290 ff.

70Hannah Arendt, Der Liebesbegriff bei Augustin, a. a. O., S. 52

71Vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 1986, § 43: »Dasein, Weltlichkeit und Realität«.

72So im Text von 1942 über »Hölderlins Hymne ›Der Ister‹«: »Wir wissen heute, daß die angelsächsische Welt des Amerikanismus entschlossen ist, Europa, und d.h. die Heimat, und d.h. den Anfang des Abendländischen, zu vernichten. Anfängliches ist unzerstörbar. […] Der verborgene Geist des Anfänglichen im Abendland wird für diesen Prozeß der Selbstverwüstung des Anfanglosen nicht einmal den Blick der Verachtung übrig haben, sondern aus der Gelassenheit der Ruhe des Anfänglichen auf seine Sternstunde warten.« (Vgl. Martin Heidegger, Gesamtausgabe, Bd. 53, Frankfurt am Main 1984, S. 68)

73Hannah Arendt, Der Liebesbegriff bei Augustin, a. a. O., S. 63 (Hervorheb. v. mir, J. K.)

74Vgl. Hannah Arendt, Vom Leben des Geistes, Zweiter Teil: Das Wollen, a. a. O.

75Hannah Arendt, Der Liebesbegriff bei Augustin, a. a. O., S. 75

76In Ioan. Ep. Tr. VIII, 10: »Non enim amas in illo quod est; sed quod vis ut sit.«

77Vgl. Hannah Arendt, Der Liebesbegriff bei Augustin, a. a. O., S. 86

78Brief von Martin Heidegger an Hannah Arendt vom 13. Mai 1925, in: Hannah Arendt, Martin Heidegger, a. a. O., S. 31; für den Brief an Elisabeth Blochmann vgl. Elzbieta Ettinger, a. a. O., S. 35.

79Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, a. a. O.

80Hannah Arendt, Vita activa, a. a. O., S. 83

81Ebd., S. 147 ff.

82Brief von Marx an Kugelmann vom Juli 1868, zit. nach: ebd., S. 409

83Hannah Arendt, Vita activa, a. a. O., S. 116

84Vgl. Hannah Arendt, Vom Leben des Geistes, a. a. O.

85Hannah Arendt, Vita activa, a. a. O., S. 413-414

86Vgl. Julia Kristeva, Sens et non-sens de la révolte, Bd. 1: Pouvoirs et limites de la psychanalyse, Paris 1966, S. 243-255

87Siehe über Hannah Arendt und die Geburt die Pionierarbeit von Françoise Collin, »Du privé et du public«, in: Les Cahiers du Grif, Nr. 33, 1985, S. 47-67 u. »Agir et dormir«, in: Hannah Arendt et la modernité, Paris 1992, S. 27-46.

88Friedrich Nietzsche, »Also sprach Zarathustra«, in: ders., Ecce homo, Abschnitt 1, 2. Satz, zit. nach: Hannah Arendt, Vom Leben des Geistes, a. a. O., S. 260

89Ebd.

90Ebd., S. 442-443

91Johann Wolfgang von Goethe, »Eins und alles« (1821), zit. nach: ebd., S. 421

92Das kommende Wesen ist das beliebige Wesen. In der scholastischen Aufzählung der Transzendentale (quolibet ens est unum, verum, bonum seu perfectum – der beliebig Seiende ist eins, wahr, gut oder vollkommen) ist der Begriff, der in jedem ungedacht bleibt und die Bedeutung aller anderen bedingt, das Adjektiv quolibet […]; quolibet ens ist nicht »das Wesen, gleich welches«, sondern »das Wesen, wie es in jedem Fall von Bedeutung ist«; es setzt anders gesagt bereits einen Verweis auf den Willen voraus (libet): Das beliebige Wesen unterhält eine ursprüngliche Beziehung zum Begehren« (vgl. Giorgio Agamben, La Communauté qui vient. Théorie de la singularité quelconque, Paris 1990, S. 9).

Das weibliche Genie. Hannah Arendt

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