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Das weibliche Genie Allgemeine Einführung

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Eine der größten Leidenschaften des Genies ist die Liebe zur Wahrheit.

Laplace

»Was für ein Genie!«: Talent, natürliche Begabung, außergewöhnliche Suche nach Wahrheit – in jüngerer Zeit verdrängt der Ehrgeiz der Menschen, sich »Genie« zuzusprechen, die antike Vergöttlichung der Persönlichkeit. Der göttliche Geist1, von dem angenommen wird, er wache über die Geburt des künftigen Helden, hat sich in eine bemerkenswerte Innovationsfähigkeit verwandelt: »Vor allem diese Erfindung schien eine Gabe der Götter zu sein, dieser ingenium quasi ingenitum, eine Art göttlicher Eingebung.« (Voltaire) Dann kam man durch einfache Metonymie oder Analogie darin überein, »Genie« die Person selbst zu nennen, die »Genie hat« oder ganz einfach Einfluß auf jemanden.2

Hannah Arendt, eine der Protagonistinnen dieses dreiteiligen Buches, setzt sich unbekümmert über das »Genie« hinweg, das ihrer Meinung nach von den Männern der Renaissance erfunden wurde: Unzufrieden darüber, sich mit den Früchten ihrer – wenn auch immer grandioseren – Tätigkeiten gleichgesetzt zu sehen, und Gott immer mehr verlierend, hätten sie dessen Transzendenz auf die Besten unter ihnen verlegt. Als Trost bezeichnet das Göttliche seit dieser Epoche, als »Genie« verkleidet, ein Geheimnis, das den Künstler in jemand Unvergleichlichen verwandelt. Soll man darin den Einbruch des Absoluten in uns, eine Herausforderung der Menschheit, den Ruf nach dem Übermenschen sehen? Oder die Weigerung, sich auf die Ebene von »Produkten« oder des »Scheins« in einer »Konsum«- oder »Show«-Gesellschaft herabziehen zu lassen? Wir sehen vielmehr im »Genie« eine therapeutische Erfindung, die uns davor bewahrt, in einer Welt ohne Jenseits an Gleichheit zu sterben.

Von »Genie« sprechen – ohne den »bösen Geist« zu vergessen, der seine ganze Mühe entfaltete, um selbst Descartes irrezuführen –, ist das noch möglich? Heute scheint mir der Begriff des »Genies« paradoxe Abenteuer, einzelne Erfahrungen und erstaunliche Überschreitungen zu bezeichnen, die trotz allem in unserem zunehmend standardisierten Universum auftauchen. Ihre erschütternde, so schwierige, ja unmögliche Erscheinung eröffnet den Sinn der menschlichen Existenz. Rechtfertigt das Genie den Sinn des Lebens? Nein, antworten die Protagonistinnen dieses Buches, denn das Leben rechtfertigt sich in bescheidenerer Weise, wie wir sehen werden. Das Genie legt dennoch nahe, unsere Existenz sei unendlich durch das Ungewöhnliche erneuerbar: Ich, Sie sind ein Versprechen in actu. Außerdem – und das ist wesentlich – ist das Außergewöhnliche, um das es geht, nicht eine ausgezeichnete Leistung, gewissermaßen das Bestehen der Zulassungsprüfung im harten Wettbewerb jener Elitehochschule der Geschichte. Ebenso wie die griechischen Helden der Antike besitzen meine Genies gewiß außergewöhnliche Fähigkeiten, allerdings haben viele von uns ebenfalls etwas von diesen Begabungen. Außerdem irren sie unaufhörlich und offenbaren ihre Grenzen. Dennoch unterscheidet sie, daß sie der öffentlichen Meinung – also uns – ein Werk hinterlassen haben, das in der Biographie ihrer Erfahrung verwurzelt ist. Das Werk des Genies verwirklicht das Aufblühen eines Subjekts.

Jeder hat ein Leben, und viele unter uns haben mehr oder weniger amüsante Abenteuer, die in die Familienchronik oder manchmal auch in die Lokal- oder gar Fernsehnachrichten eingehen; doch reicht dies nicht für eine denkwürdige Biographie. Nennen wir »Genies« jene, die uns zwingen, ihre Geschichte zu erzählen, weil sie von ihren Erfindungen untrennbar ist, von Neuerungen, die teilhaben an der Entwicklung des Denkens und der Menschen, dem Aufblühen von Fragen, von Entdeckungen und Freuden, die sie geschaffen haben. Ihre Leistung betrifft uns in so intimer Weise, daß wir sie nicht aufnehmen können, ohne sie im Leben ihrer Autoren zu verwurzeln.

Die Wirkung bestimmter Werke reduziert sich nicht auf die Summe ihrer Elemente. Sie hängt vom historischen Einschnitt ab, den sie bewirken, von ihren Auswirkungen und ihren Folgen, kurz, von unserer Aufnahme. Jemand befand sich an einem Schnittpunkt und hat dessen Möglichkeiten herauskristallisiert: Das Genie ist dieses Subjekt. Es ist nicht wichtig, daß es nur geboren wurde, arbeitete und starb. Wir statten es mit einer Biographie aus, um zu ermessen, daß diese den Mehrwert, den Luxus, den Einbruch nicht erklärt. Den Genies und nicht jedwedem räumen wir dies ein, um uns bewußt zu machen: Jenseits der Erfindung des Werks oder der Tat existiert jemand, hat jemand gelebt. Sind wir jemand? Sind Sie jemand? Versuchen Sie, jemand zu sein!

Ein Concerto von Mozart, ein komisches Bild von Chaplin oder die Entdeckung des Radiums durch Marie Curie in ihrem Laboratorium: Das sind ebenso ungewöhnliche wie unvermeidliche, ebenso unvorhergesehene wie unverzichtbare Ereignisse. Seitdem »das« stattfand, kann man sich die Welt nicht mehr ohne »das« vorstellen; es ist, als ob »das« schon immer dagewesen sei. Die Erschütterung, die diese Taten und Werke hervorrufen, ist derart, daß wir versucht sind, sie zu rationalisieren, indem wir das Übermenschliche beschwören, oder sie bändigen wollen, indem wir uns die Geburt dieser Individuen als vom Schicksal oder von der Genetik bestimmt vorstellen. Oder wir banalisieren sie, indem wir mit Buffon erklären, »das Genie bestehe in großer Geduld«, oder romantischer, indem wir mit Valéry ausrufen: »Genie! Oh lange Ungeduld!« Doch während wir uns bemühen, sie mit einem Leben auszustatten, auf das sich ihr »Genie« nicht reduziert, spielen die Genies uns einen zusätzlichen Streich: Sie offenbaren uns nicht weniger genialisch, daß ihr ungewöhnlicher Charakter am Schnittpunkt ihrer Ausnahme und der unvorhersehbaren Meinung der Menschen liegt, die sie aufnimmt und bestätigt. Sie sind hic et nunc Genies für uns; und für die Ewigkeit, sofern auch wir dabei sind, eine Art von Genies, die »unsere« Genies begleitet…

Und die Frauen? Verfügten sie, wie unter anderen La Bruyère schrieb, über »Talent und Genie […] nur für Handarbeiten«? In der Tat behauptete man lange Zeit, ihnen komme allein das Genie der Geduld zu, während der Stil den Männern vorbehalten sei…

Das zwanzigste Jahrhundert hat mit dem Glauben Schluß gemacht, nach dem die Frauen jene Hälfte einer Gattung von Säugetieren sind, die sich den Geburten widmet. Die Entwicklung der Industrie, die auf die weibliche Arbeitskraft angewiesen ist, dann jene der Wissenschaft, die mehr und mehr den Prozeß der Fortpflanzung beherrscht, befreiten schließlich die Frauen aus dem Reproduktionszyklus. Doch obwohl diese Tendenz seit Jahrtausenden zu erkennen ist, sind früher nur soziale Minderheiten oder einige außergewöhnliche Personen in ihren Genuß gekommen. Unser zwanzigstes Jahrhundert hat diese Emanzipation einer Mehrheit zugänglich gemacht, wenigstens in den sogenannten entwickelten Ländern, und alles weist darauf hin, daß sich die Frauen in Asien, Afrika oder Lateinamerika darauf vorbereiten, einen ähnlichen Weg zu gehen. Das nächste Jahrhundert wird weiblich sein, zum Besten oder zum Schlimmsten. Das weibliche Genie, wie es uns hier erscheint, läßt hoffen: Es gibt eine Chance, daß es nicht zum Schlimmsten wird.

Als dritte Etappe im Erwachen der Frauen (nach dem Kampf der Suffragetten Ende des neunzehnten Jahrhunderts, dann dem der Kämpferinnen für Gleichheit mit den Männern auf allen Gebieten – für die Simone de Beauvoirs Das andere Geschlecht zum Manifest wurde) hat die feministische Bewegung seit Mai ’68 mit pathetischer Gewalt diese völlig neue Freiheit und die unvorhersehbaren Differenzen, die sie offenbarte, betont: eine andere Sexualität, eine andere Sprache, eine andere Politik. Doch die Zurückweisung der Tradition ging mit unvermeidlichen Übertreibungen einher, wobei die schlimmste darin bestand, die Mutterschaft als letzten Beweis der Ausbeutung der Frauen durch alle seit Urzeiten möglichen und vorstellbaren Patriarchate zu brandmarken. Die Feministinnen haben die »Gesamtheit der Frauen« – so wie die »libertäre« Bewegung der Proletarier aller Länder oder aller Länder der Dritten Welt – zur emanzipatorischen oder revolutionären Kraft erklärt. Obwohl diese Entgleisungen bei weitem nicht überholt sind, werden sie heute von einem reaktiven Konformismus überlagert, dem es gelingt, den Gedanken einer weiblichen Besonderheit und Freiheit zu diskreditieren – mit Ausnahme der Verführungskraft, die sogleich Bestandteil der Reproduktion und des Konsums wird. Dennoch bestätigen mehrere Ereignisse jenseits der für soziale Tendenzen typischen Pendelbewegung ein Wiederaufleben der weiblichen Emanzipation.

Dazu gehört die herausragende Rolle, die Frauen heute zunehmend im politischen Leben der Demokratien spielen, und man kann wetten – ohne allzu große Gefahr, sich zu irren –, daß sich ihre politische und ökonomische Kompetenz immer mehr entfaltet und zunehmend Anerkennung erfährt, nicht nur bei uns, sondern ebenso in den Entwicklungsländern.

Die von den Fortschritten der Wissenschaft unterstützte und eine Zeitlang von manchen Frauen verunglimpfte Mutterschaft setzt sich erneut als die wesentliche weibliche Berufung durch: erwünscht, angenommen und erfüllt mit den besten Aussichten für Mutter, Vater und Kind. Sind die Mütter von nun an vielleicht der einzige Schutz gegen die Automatisierung der Menschen?

Schließlich wird die besondere Verwirklichung einer jeden Frau, ihre auf den gemeinsamen Nenner einer Gruppe oder sexuellen Ganzheit nicht rückführbare Persönlichkeit, nicht nur möglich, sondern stolz beansprucht. Weil ich Ich bin, ein spezifisches Ich, offenbare ich den Beitrag der Frauen zur Vielfalt der Welt.

Hier erfüllt sich das Aufleuchten des weiblichen Genies. Den wesentlichen Beitrag einiger ungewöhnlicher Frauen anzuerkennen, die durch ihr Leben und ihr Werk die Geschichte dieses Jahrhunderts geprägt haben, ist ein Appell an die Singularität einer jeden. Die Selbstüberschreitung vor dem Horizont von Beispielen, die man sich aneignen kann – ist das nicht das beste Gegengift zu den verschiedenen Arten der Vermassung, seien sie großzügig libertär oder brav konformistisch?

Räumen wir trotz aller Fortschritte der Wissenschaft ein, daß die Frauen weiterhin die Mütter der Menschheit sein werden; daß sie Männer liebend Kinder zur Welt bringen werden. Dieses Schicksal wird, obwohl durch verschiedene Techniken und durch Solidarität erleichtert, eine anspruchsvolle und unersetzliche Berufung bleiben. Niemand ignoriert, daß die Frauen durch ihre Osmose mit der Gattung, die sie radikal von den Männern unterscheidet, bedeutende Schwierigkeiten erben, ihr Genie zum Ausdruck zu bringen: einen anderen spezifischen, eventuell genialen Beitrag zur Kultur dieser Menschheit zu schaffen, die sie in ihren Bäuchen beherbergen. Viele verhöhnten die unüberschreitbare natürliche conditio, die Frauen endgültig vom Genie abzuhalten scheint. Diese Karikaturisten waren nicht immer elende Frauenfeinde. Man erinnert sich an die großartige Madame de Merteuil, für die manche Frauen – so wie die Präsidentin de Tourvel – stets nur »eine Art Gattung« waren. Selbst Joyce, der unüberschreitbare Wortspieler, der seine Molly in- und auswendig kannte, glaubte in der Wahrheit zu sein, als er den Männern die Zeit zuordnete und den Frauen den Gattungsraum vorbehielt: »Father times and mother spacies«, und Baudelaire, der am lautesten Fordernde, spottete über den »kindischen Aspekt der Mutterschaft«. Das ist nicht falsch, aber das ist nicht alles. Mütter können Genies nicht nur der Liebe, des Feingefühls, der Selbstlosigkeit, der Ausdauer oder selbst der Hexerei und des Zaubers sein, sondern auch einer bestimmten Art und Weise, das Leben des Geistes zu leben. Diese Weise, Mutter und Frau zu sein – manchmal wärmstens akzeptiert, mitunter verleugnet oder unter Konflikten zerbrochen –, verleiht ihnen in der Tat ein ganz eigenes Genie. Genau das ist es, was Frauen im zwanzigsten Jahrhundert zahlreicher, sicherer als in vergangenen Zeiten auf machtvolle Weise beweisen: Obwohl kindisch in der Gattung und im Raum eingenistet, können sie auch als erneuernde Singularitäten handeln und die conditio humana zutiefst modifizieren.

Ohne Zweifel prägten nicht nur die drei Frauen, von denen hier die Rede sein wird, die immer vielfältigeren Aktivitäten in unserem Jahrhundert. Aus persönlicher Neigung habe ich Hannah Arendt (1906 – 1975), Melanie Klein (1882 – 1960) und Colette (1873 – 1954) gelesen, geschätzt und ausgewählt. Ich hoffe, am Ende dieses Buches wird der Leser davon überzeugt sein, daß diese persönliche Wahl mit einer objektiven Auszeichnung zusammenfällt.

Im zwanzigsten Jahrhundert haben die beschleunigten Fortschritte der Wissenschaft mehr und besser als zuvor sowohl die Vortrefflichkeit der Menschen als auch die Gefahren der Selbstzerstörung der Menschheit offenbart. Die Shoah ist ein Beleg dafür, und es ist fast überflüssig, die Atombombe oder die Gefahren der Globalisierung hinzuzufügen.

Das Leben erscheint uns nunmehr, nach dem Zusammenbruch der Wertesysteme, als höchstes Gut. Bedrohtes, begehrtes Leben: aber welches Leben? Darüber dachte Hannah Arendt intensiv nach, als sie auf ein politisches Handeln setzte, das angesichts der beiden Totalitarismen das »Wunder der Geburt« achtet und offenbart.

Doch zog sie es vor, die Möglichkeit zu übergehen, daß eine Sprache wahnsinnig werden und sich hinter dem »gesunden Menschenverstand« die Gefahr einer Demenz verbergen kann. Es war Melanie Klein, die diese Abgründe der menschlichen Psyche erkundete und mit kriminalistischem Scharfsinn unaufhörlich dem Todestrieb nachspürte, der das sprechende Wesen vom ersten Tag an beseelt, wobei sich Melancholie und Schizo-Paranoia um den Vorrang streiten.

Die Genießerinnen, die Verführerinnen, die sich am Fleisch einer Aprikose ebenso berauschen wie am Aronstab des Geschlechts ihres Liebhabers oder den fliederduftenden Brüsten der Geliebten, sind dennoch nicht aus dem Atomzeitalter entschwunden. Wenn dieses zwanzigste nicht nur das Jahrhundert der unheilvollen Erinnerung ist, dann ohne Zweifel dank der Lust und Schamlosigkeit freier Frauen wie Colette, die beides mit der unverschämten Anmut der Aufsässigen auszudrücken verstand. Die Würze der Wörter, die uns roboterhaften Individuen zurückgegeben wurde, ist vielleicht das schönste Geschenk, das eine weibliche Schreibweise der Muttersprache bieten kann.

Zwei Jüdinnen deutscher Sprache, die auf Englisch in New York und in London den Ernst der Politik und die Grenzen des Menschlichen erkundeten, und eine französische Bäuerin, die erneut das Feuer der Materialisten und der raffinierten Ausschweifungen anfachte. Durch ihr Genie werden uns die vielfältigen Gesichter der modernen Zeiten in ihrer komplementären Komplexität und Wahrheit wiedergegeben.

Diese drei Frauen haben mit Männern, ihren Männern, gelebt, gedacht, geliebt, gearbeitet: Dabei erlitten sie mitunter die Autorität eines Lehrers oder hingen von seiner Liebe ab; bisweilen nahmen sie das Risiko des Aufruhrs auf sich, durch den die Unschuld unwiderruflich verloren geht; mehr oder weniger respektvoll errangen sie dabei stets ihre Unabhängigkeit.

Man wird sich vielleicht darüber wundern, daß jene politischen Bücher über den Antisemitismus und den Totalitarismus, die Hannah Arendt berühmt machten, hier nur als ein Teil ihrer Schriften behandelt werden. Uns schien wesentlich, die Entstehung ihrer Forschungen nachzuzeichnen, das Porträt der Denkerfrau, deren wichtigste politische Beiträge andere bereits gelobt oder kritisiert haben. Wir werden sehen, wie sie nach Heidegger das Dasein abhorcht, aber auch in den gewagten und dennoch unumgänglichen Bindungen, die mit den anderen immer neu zu beginnen sind, die Virtuosität des »Erscheinens« an die Stelle der Einsamkeit des »Geworfenseins« setzt. Die Heideggersche »Verlassenheit« inmitten des anonymen »Man« wird plötzlich unkenntlich, wenn Hannah Arendt auf das Wunder vertraut – die »Geburt eines jeden« in der »Zerbrechlichkeit der menschlichen Angelegenheiten«, im politischen Raum. Obwohl diese Liebhaberin des Denkens das Werk des großen Philosophen stets aufmerksam verfolgt, gelingt es ihr, sich von ihm zu befreien, um eine herausragende politische Theoretikerin – eine umstrittene, doch nicht zu übergehende – zu werden. Nicht nur brachte sie als erste die beiden totalitären Herrschaftsformen wegen der ihnen gemeinsamen Zerstörung des menschlichen Lebens miteinander in Verbindung, sie brachte auch als erste das »Erscheinen« als echte Bedingung für die Menschheit zur Geltung in dem Maße, wie es jedem seine irreduzible Singularität offenbart – wenn und nur wenn dieser Jeder den Mut findet, den Gemeinsinn der anderen zu teilen. Und vielleicht ist der Medientrubel seit dem Tod Hannah Arendts nicht nur ein Fluch; zumindest wenn man ihn mit dem Genie dieser Frau denkt, die den politischen Sinn als »Geschmack« für das Zeigen, Beobachten, Sich-Erinnern und Erzählen aufwertete.

Freud hatte gerade das Unbewußte und die Abhängigkeit der Geisteskrankheit von der Sexualität entdeckt. Er erforschte die Klippen der Lust und rechnete mit dem gesellschaftlichen Konformismus ab, der nicht wissen wollte – und immer noch nicht wissen will –, daß menschliche Körper Wesen des Begehrens sind. Dieses Hören auf Eros und Thanatos war von heftigeren, mehr oder weniger ödipalen Auseinandersetzungen des Lehrmeisters der Psychoanalyse mit seinen Schülern begleitet. Während dieser Zeit arbeitete Melanie Klein an der Loslösung. Die Pflege der Kinder hatte sie gelehrt, daß die Destruktivität am Anfang steht und im Wahn kulminiert, jedoch stets Trägerin des Begehrens bleibt. Freud hatte darauf hingewiesen, doch Klein ist es, die alle Konsequenzen daraus ziehen wird. Als Wegbereiterin der Kinderpsychoanalyse neben Anna Freud, jedoch radikaler als diese, eröffnete Melanie Klein die Möglichkeit einer echten Psychoanalyse der Psychose, welche in der Lage ist, den Spiritualismus von Jung zu vermeiden, der sich gegen Freud auf eben dieses Gebiet gewagt hatte. Jenseits des Dogmatismus der erbarmungslosen Erkunderin, die zu sein man sie beschuldigt, erwies sich ihr Werk als etwas, woran man weiterarbeiten kann. Es fand eine Fortsetzung in den originellen und fruchtbaren Ausarbeitungen, die, wenn überhaupt nötig, ihre Richtigkeit bestätigen: W. R. Bion und D.W. Winnicott waren nicht ihre Schüler, doch ihre Fortsetzer. Ohne sie und ohne die moderne Psychoanalyse der Psychose und des Autismus, die im Zentrum der Arbeiten von Melanie Klein stehen, würde uns heute diese die moderne Kultur auszeichnende Orientierung auf die Nähe des Wahns und die Vielfalt der Behandlungsmöglichkeiten fehlen, dank derer wir ihn beeinflussen können.

Daß die Lust nicht nur organisch ist, sondern sich auch in den Worten gibt, unter der Bedingung, daß es diesen gelingt, sich für jene empfänglich zu machen – das hat seit Rabelais und den Sensualisten und Libertins des achtzehnten Jahrhunderts niemand besser zum Ausdruck gebracht als der französische Genius. Doch war es Colettes Privileg, die französische Sprache mit jener heidnischen Würze zu sättigen, die den Charme unserer Zivilisation ausmacht, und zu erzählen, wie die Sinnlichkeit sich in der sexuellen Eulenspiegelei der raffinierten oder in den süßen Lüsten der einfachen Leute verwurzelt. Im Gegensatz zu Hannah Arendt und zu Melanie Klein muß sie nicht über einen Lehrmeister hinausgehen, um ihr Genie zu erfüllen – Willy, dann Jouvenel, ihre Ehemänner, stellten vor allem eine Hilfe, einen Schutz und erst zuletzt ein Hindernis dar. Sie mißt ihre Kräfte unmittelbar mit der Autorität der Muttersprache, was sie dazu führt, sich zugleich der Vernunft und der Weiblichkeit zu konfrontieren, die eine wie die andere zu lieben, die eine wie die andere zu verwandeln. Ihr einziger wahrer Rivale wird Proust sein, dessen narrative Suche in ihrer sozialen und metaphysischen Komplexität über die Abenteuer von Claudine und ihrer Komplizinnen hinausgeht; aber Colette läßt ihn weit hinter sich in der Kunst, die keineswegs verlorenen Genüsse einzufangen.

Diese drei Erfahrungen, diese drei Werke einer enthüllenden Wahrheit realisierten sich inmitten des Jahrhunderts und zugleich an seinen Rändern. Nicht wirklich ausgegrenzt, nicht wirklich randständig stehen Arendt, Klein und Colette dennoch »außer der Reihe«. Sie verwirklichen ihre Freiheit als Erkunderinnen abseits der herrschenden Strömungen der Institutionen, Parteien und Schulen. Hannah Arendts Denken steht an der Schnittstelle der Disziplinen (Philosophie? Politologie? Soziologie?), es steht quer zu den Religionen und ethnischen oder politischen Zugehörigkeiten, es erhebt sich gegen das establishment von »rechts« ebenso wie von »links«. Die Forschungen von Klein sind eine Herausforderung für den Konformismus der Freudianer und vollziehen, ohne Angst vor Untreue gegenüber der psychoanalytischen Orthodoxie der Epoche, einen echten Bruch in der Erkundung des Ödipus-Komplexes, des Phantasmas der Sprache und der Vorsprache. Erst provinziell und skandalträchtig, dann mondän, aber immer noch populär, schließt sich Colette dem literarischen Akademismus zuletzt nur an, um in ihrer scharfsinnigen Bloßstellung der sozialen Komödie und ihrem sinnlichen Aufruhr fortzufahren. Erneuernd, weil nicht konform, hat das Genie der drei Frauen auch diesen Preis: Die Aufsässigen schöpfen aus ihm ihre Begeisterung, sie bezahlen aber auch mit Ächtung, Verständnislosigkeit und Verachtung. Gemeinsames Schicksal der Genies … und der Frauen?

Das Leben, der Wahn, die Wörter: Diese Frauen machten sich zu ihren hellsichtigen und leidenschaftlichen Erkunderinnen, indem sie ihre Existenz ebenso wie ihr Denken einbrachten und die Hauptfragen unserer Zeit aufgrund ihres besonderen Blickwinkels für uns erhellten. Wir werden sie zu lesen versuchen, ohne bei den wenigen, inzwischen von der öffentlichen Meinung sofort mit ihren Namen verbundenen, berühmten Themen stehenzubleiben. Hannah Arendt ist nicht zu beschränken auf die »Banalität des Bösen« und den »Eichmann-Prozeß« oder auf die Identifizierung von Nazismus und Stalinismus. Melanie Klein bleibt nicht bei der »frühreifen paranoischen Projektion« und »dem Neid und der Dankbarkeit« stehen, die vom »Teilobjekt« mütterliche Brust bestimmt werden, oder bei der »multiplen Kluft«, die endogene Psychosen hervorbringt. Ebensowenig wie die Provokation der Garçonne, die Skandale veranstaltet, um besser in der Akademie Goncourt zu herrschen, die Magie Colettes erschöpft. Das sind nur einige der Bäume, die oft sehr viel reizvollere, aber auch gefährlich komplexere Wälder unsichtbar machen.

Natürlich sind die Klischees der öffentlichen Meinung bereits durch den Fleiß der Kenner berichtigt, denn unsere drei Protagonistinnen, die zu ihren Lebzeiten so oft verkannt, wenn nicht verfolgt wurden, besitzen inzwischen ihre Exegeten und ihre begeisterten Anhänger. Wir werden nicht die Arbeiten der vielen Spezialisten im Detail verfolgen können, die bereits seit einiger Zeit mit peinlicher Genauigkeit die zahlreichen Kontroversen nachzeichnen und die unvermeidlichen Sinnwidrigkeiten erhellen, die die Wege dieser drei Frauen übersäen.

Wir wollen lediglich versuchen, sie mit Genauigkeit und Treue zu lesen, um die Besonderheit einer jeden wiederherzustellen, wobei wir sie zueinander in Beziehung setzen werden. Nicht um das Unvergleichliche zu vergleichen, sondern um die Resonanzen zwischen diesen drei Musiken, die Komplexität der Kultur des zwanzigsten Jahrhunderts und den wesentlichen Anteil der Frauen an diesen sensiblen Orten – das Leben, der Wahn, die Wörter – nachzuzeichnen.

Diese atypischen Genies, diese unvergeßlichen Erneuerungen, sind sie der im übrigen so verschiedenen Weiblichkeit dieser drei Personen geschuldet? Die Frage ist legitim, und der Titel dieses Werkes legt es nahe. Ich möchte zu Beginn nicht darauf antworten. Ich habe diese Untersuchung mit der Hypothese eröffnet, daß ich es nicht weiß, daß »die Frau« eine Unbekannte ist, oder besser, daß ich es vorziehe, nicht zu »definieren«, was eine Frau ist, damit sich die Antwort am Ende einer geduldigen Betrachtung von Beispielen herauskristallisieren kann. Dann vielleicht, nachdem wir jeder gemäß ihrem eigenen Genie gefolgt sind, werden wir eine Tonart hören, die sie einander annähert. Eine Musik, gemacht aus Singularitäten, Dissonanzen, Kontrapunkten jenseits der grundlegenden Akkorde. Vielleicht wird es das sein, das weibliche Genie. Wenn es das gibt. Behalten wir uns die Schlußfolgerung für das Ende der Reise vor.

1Erst wachte der griechische daimon, dann der lateinische genius über die Geburt der Menschen und ihrer Werke; die Frauen hatten für sich eine junon, eine Art tiefen doppelten Ichs, das sie schützte.

2Vgl. Le Robert. Dictionnaire historique de la langue française, S. 880, der diese letzte Entwicklung auf das Jahr 1689 zurückführt.

Das weibliche Genie. Hannah Arendt

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