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Vorwort
ОглавлениеWir blicken in die Zeit der 1930er-Jahre, auf eine kleine, in sich ruhende Welt: Sarnen im Kanton Obwalden. Hier steht die Kirche noch mitten im Dorf. So eine Kirche leuchtet fürsorglich übers ganze Dorf, und sie ist in Gestalt des Herrn Pfarrers und im Takt ihrer hohen Feiertage eine heilige Autorität. Mit zwei anderen, schwächeren, bildet sie ein Dreigestirn: Da ist die politische Autorität mit den hohen Herren im Rathaus, und da ist die pädagogische mit dem in Staatskunde beschlagenen Herrn Lehrer der Dorfschule und den Professoren des altsprachlichen Kollegiums.
Im Schatten der Dorfkapelle Maria Lauretana schlummert eine alltägliche, in ihrer Art aber nicht minder anmutige Einrichtung: Es ist der Merkur-Laden einer gewissen Frau Bartsch. Als einstige, nunmehr verwitwete Offiziersgattin bringt sie aus Dresden den Duft der weiten Welt in den ländlichen Flecken Sarnen. Der blitzsaubere Eingang und eine gut assortierte Schaufensterauslage adeln ihr Kolonialwarengeschäft zu einem vornehmen Salon, dem die Gattinnen von Juristen und höheren Beamten ihre Aufwartung machen und den feinsten Kaffee, die beste Schweizer Schokolade und die zartesten Biskuits kaufen. Frau Bartsch ist stets adrett gekleidet, und so wähnen sich ihre Besucher mehr als Gäste denn als Kunden. In ihrer andachtsvollen Geschäftigkeit pflegt die weltläufige Heimkehrerin mit ihren Gästen nämlich einen distinguiert-vertrauensvollen Umgang, der darüber hinaus im Fall der redseligen und scharfzüngigen Rathaus-Kanzlistin Anni Seiler zu einer mitunter geheimnisträchtigen Vertraulichkeit reift. Allein, Frau Bartsch ist stets darauf bedacht, Anstand und Sittlichkeit zu wahren und einfältigem Gerüchtebrauen und unrühmlichem Geheimniskrämern beherzt entgegenzutreten.
Im Merkur-Laden findet das Dorfleben sein Echo. Im Frühling erfüllen Gespräche zur Landsgemeinde den Raum, Ostern erlebt seine Auferstehung auf den Ladengestellen und die köstlichen Weihnachtsgeschenke stehen dem Gabentisch des Schützenfestes in nichts nach. Frau Bartsch, ebenso geschäftstüchtig wie kunstsinnig, bietet alles so weihevoll feil, dass es an die Verrichtungen an einem Altar gemahnt. Wie die Kirche mit ihrer liturgischen Ordnung das Heilige in den Alltag einführt, so besitzt Frau Bartsch die Gabe, dem Alltäglichen die höhere Weihe des Sonntäglichen zu verleihen.
In diese ebenso kleine wie weite Welt tritt eines Tages der zehnjährige Ich-Erzähler, indem er als Ladenhilfe und Botengänger anheuert. Vor seinen Augen entfaltet sich das Wirken und Weben eines vielfältigen Figurenkabinetts, er hört von Angelegenheiten, die Erwachsene als «frivol» und «scandaleux» abkanzeln, von der Kanzlistin, die mit ihren Seidenstrümpfen das ganze Rathaus durcheinanderbringe, dass eine schöne Handschrift der Schlüssel für den Staatsdienst sei und «in der Schule deshalb auswendig gelernt werden» müsse, «weil die Kinder nicht zum Denken erzogen werden dürfen». Wenn das keine Gebrauchsanweisung fürs Erwachsenwerden ist!
Mit dieser autobiographischen Erzählung entführt uns Julian Dillier mit rührender Feinsinnigkeit in seine Kindheit im Hauptort von Obwalden. Es ist ein Erinnerungsstück an die 1930er-Jahre, gezeichnet in einer anekdotenhaften Leichtfüssigkeit, grundiert mit einem liebevollen Heimatsinn und umrahmt von einer altersweisen Genügsamkeit.
Vielleicht ergeht es Ihnen wie mir, und Sie sind versucht, am stillen Dorfplatz im Schatten der Dorfkapelle nach dem kleinen Tempel jener grossen Dame Ausschau zu halten und weiteren Geschichten aus dem Land «ob dem Wald» zu lauschen. Mit etwas Glück entdeckt man vor Ort eine eigene Figur wie Frau Bartsch, eine höchstpersönliche «Lichtgestalt mit zugehöriger Lehranstalt».
Heute, im Februar 2022, wäre der Schweizer Mundartautor Julian Dillier 100 Jahre alt geworden. Frau Bartsch aus dem Jahr 1989 ist sein einziges Prosastück und wird zu seinem Geburtstag neu aufgelegt.
Sachseln, im August 2021
Marc von Moos