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Trinklä

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Zum Sankt Nikolaus gab es bei Frau Bartsch einen bestimmten Gabentisch. Die Tage um den sechsten Dezember waren für uns Buben fast so verzaubert wie Weihnachten. Jedenfalls beschäftigte uns das Sankt-Nikolausfest viel intensiver. Das Wichtigste dabei war vielleicht weniger die Geschenktour des heiligen Nikolaus als vielmehr unser Lärmzauber mit den Treicheln. Es war Ehrensache für uns Buben, mitzutrinkeln. So besorgte sich denn ein jeder Bub seine Glocke. Treicheln waren ganz besonders gefragt. Ich hatte eine geheime Quelle für meine Glocken: Ich ging meine Treichel im Ramersberg holen. Beim Onkel vom Kupferschmied-Adolf. Von ihm bekam ich eine Treichel von besonderer Grösse. Ich ahnte nicht, wie sie mich nun zwei Nachmittage plagen würde. Wohl wurde ich mit dieser grossen, dumpf tönenden Treichel in die erste Reihe platziert, aber ihr Gewicht setzte mir mit jeder Stunde mehr zu. Umso berechtigter fand ich dann die Belohnung, denn am Abend gab es in der Milchsuppe Lebkuchen und Nyydlä, so viel man mochte, vom Abwart Heimann zubereitet. Da duftete das ganze Schulhaus danach, und unser lieber Niklaus Heimann geizte nicht damit. Ganz im Gegenteil. Er war alles andere als ein bösartiger Schulhausabwart. Wenn einer im Boolis landete, war es der Schulhausabwart, der den armen Häftling heimlich mit Äpfeln und anderen guten Sachen versorgte. Daran war gewiss auch seine liebe Frau schuld. Er wohnte mit ihr gegenüber der Schwesternwohnung, und auf irgendeine Weise bot sie im Schulhaus mehr mütterlichen Schutz, als dass sie eine gestrenge Abwartsfrau war. Mich dünkte, der Heimann freue sich ganz besonders auf diese Bescherung in der Milchsuppe. Er war immer zu heiteren Spässen aufgelegt. Und was ich ihm ganz hoch anrechnete: Wir Buben lernten bei ihm schwimmen. Denn im Nebenberuf war er Bademeister in der Dorf-Badeanstalt.

Nicht nur das Trinkeln selbst beschäftigte uns in den spätherbstlichen Novembertagen. Bei Lehrer Gisler fanden die Wahlen für das Sankt-Nikolaus-Trinkeln statt. Mit diesen Wahlen des Sankt Nikolaus, der Leviten und der Harliginggen erteilte er uns gleichzeitig staatskundlichen Unterricht. Das Wahlprozedere spielte sich wie an der Landsgemeinde ab. Einige Tage vor den wichtigen Sankt-Nikolaus-Tagen konnte man in der Schule Kandidaten vorschlagen. Als Sankt-Nikolaus kamen nur besonders gute Schüler infrage. Dazu musste der Inhaber dieser Würde gross und stattlich aussehen. Es war also klar, dass dafür nur Jörg Keller oder Walter von Wyl gewählt werden konnten. Sie trugen die schönsten Gewänder in Rot und Weiss und benahmen sich wie der Bischof bei der Firmung.

Mich schlug Lehrer Gisler einmal als Harligingg vor. Das ist ein Zwischenwesen zwischen Wildmann und Narr. Das Kostüm, das wir bekamen, ähnelte mehr einem Bajass als einem Wildmann, obwohl wir mit einem grossen Grotzli für Ordnung zu sorgen hatten. Manchmal waren uns die Ordnung beim Trinkeln, ein regelmässiger Takt und das Einstehen in Reih und Glied, weniger wichtig als die Mädchen, die wir mit unserem Grotzli verfolgten. Jedenfalls gab mir Lehrer Gisler nach dem ersten Tag einen Verweis. Ich sei mehr den Mädchen nachgelaufen und hätte zu wenig für ein geordnetes Trinkeln gesorgt. Ich nahm diesen Verweis zu Herzen und trieb meine Trinklerbuben an wie ein Wachtmeister.

Bei solchen Sankt-Nikolaus-Wahlen ist es vorgekommen, dass richtige Wahlkämpfe stattfanden. Jedenfalls hatte Arnold Durrer, der Sohn von Frau Durrer-Mathis, die sich einen Namen gemacht hatte als grosse Hüterin der Lourdesgrotte, versucht, uns mit Spanischnüssli zu bestechen. Denn er wäre für sein Leben gern einmal ein Harligingg gewesen. Die Sache wurde ruchbar, und er wurde trotz seiner Spanischnüssli nicht gewählt.

Noch ein anderes aussergewöhnliches Erlebnis verdankte ich Lehrer Gisler, und das kurz vor Weihnachten: meine erste Begegnung mit einem grossen Dichter. Wir sahen ihn jedenfalls als grossen Dichter an. Denn wir lasen seine Bücher mit Heisshunger. Er war einfach unser Nonni. Jon Svensson hiess er, und wie uns Lehrer Gisler verriet, war er ein Jesuit. Ich sehe ihn heute noch vor mir. Es war meine erste Begegnung mit einem Jesuiten. Wie er mit einer grossen schwarzen Pelerine in die Schulstube trat. Wie ein Mensch aus einer andern Welt. Das war also unser Nonni, der als kleiner Isländer die grossen Abenteuer mit Eisbären, Eisbergen und den Geysiren seiner Heimat erlebte. Er stand vor uns, mit ergrauten Haaren und einem zierlichen Bärtchen, liess sich vom Lehrer aus seiner Pelerine helfen, setzte sich an das Pult, und es war wunderbar, wie er uns mit seinen Geschichten in Bann schlug. Er erzählte nicht nur von seiner isländischen Heimat – mir schien es, er versetze uns in eine seiner heimatlichen Stuben, wo an den langen Winterabenden Geschichten erzählt wurden. Er berichtete uns so unmittelbar vom Halbdunkel dieser Stuben, wie seine Landsleute auf Stühlen und Bänken und Betten den seltsamen Inselgeschichten, etwa der grossen Heldengeschichte «Edda», zuhörten, wie dabei gesponnen, gestrickt, genäht wurde, wie die Männer schnitzten und andere Handarbeiten verrichteten.

Da war die Rede von Freya, der Göttin der Schönheit, der Liebe und der Fruchtbarkeit. Sie sei so mächtig, dass sie die Macht des Winters brechen könne. Nonni erzählte auch von seinem lieben Dänemark, die Geschichten von Dänenkönigen, so die Geschichte von König Knut und den Bauern. Worte wie «Öresund», «Knýtlinga-Saga», «Knut» blieben mir haften. Wir Buben sassen in den Bänken und hörten dem Dichter atemlos zu, und in Gedanken versetzte ich mich in die Rolle des Nonni. Für mich wurden damals Inseln wie Island, Länder wie Dänemark, Schweden und die norddeutschen Inseln zu Ländern der Sehnsucht. Die Nonni-Bücher wurden zu den beliebtesten Werken in der Schulbibliothek, und nicht Karl-May-Bücher gehörten zum eisernen Bestand meiner Lektüre, sondern die Nonni-Bücher. Svenssons Gestalt kam mir vor wie aus einer andern Welt und blieb mir unvergesslich.

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