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Im Schatten der Dorfkapelle
ОглавлениеAuch ein Dorf kann schlafen. Es liegt da wie mit geschlossenen Augen, etwa am frühen Morgen. Die Geschäfte mit heruntergezogenen Rollläden. Der Dorfbrunnen steht in leisem Dunst. Einige Frauen, auch Klosterfrauen, huschen in die Dorfkapelle, in der Allee des Frauenklosters raschelt es im Laub. Wenn man in der Frühmesse ministrieren muss, begegnet einem vielleicht ein frühes Fuhrwerk oder es fällt ein Lichtschimmer auf die Strasse aus dem Stall der stummen Fangers, die die Kühe melken und das Vieh mit Heu versorgen. Das Dorf erwacht erst gegen acht Uhr.
Der Gottesdienst in der Kapelle ist zu Ende. Nach diesem Gottesdienst öffnen die Geschäfte, rattern die Rollläden hinauf und da erscheint Frau Bartsch mit dem Besen vor dem Laden. Wenn sie herauskommt, schliesst auch der Konditormeister Spichtig gähnend seine Konditorei auf. Zuvor bindet er sich immer eine saubere weisse Schürze um. Ein Zeichen für Vater Hurni, seinen Laden gegenüber der Post wie zur Markierung zu umschreiten und einen Blick in seinen Garten zu werfen. Unversehens springen in diesem Augenblick aus dem Uhrenladen Imfeld zwei Mopse ins Freie, beschnuppern das Trottoir nach Neuigkeiten, keuchend und mit kurzem Atem, und bezeichnen mit hochgestrecktem Bein ihren Besitz an der Hauswand.
Frau Bartsch, die Inhaberin des Merkur-Ladens im Schatten der Dorfkapelle, widmete die erste Verrichtung des Tages der Sauberkeit um ihren Laden. Für sie war ein blitzsauberer Eingang, zusammen mit einem gepflegten Schaufenster, eine Einladung, sie in ihrem Kolonialwarengeschäft zu besuchen. Sie empfing jeden Kunden wie einen Gast. Sie kleidete sich auch immer so, als ob sie ihre Kunden wie Gäste behandeln wollte. Als Bub fiel mir dies auf. Andere Frauen im Dorf trugen schmucklose, graue Berufsschürzen, sie hingegen war stets sehr adrett angezogen.
Frau Bartsch war eine sehr gepflegte Frau. Mich dünkte, sie wirke immer gleich alt. Weil sie die fünfzig schon überschritten hatte, gehörte sie in meinen Augen bereits zur älteren Generation. Zu jener Generation, die gerne erzählte, wie früher alles besser war, gesitteter und vornehmer. Weil Frau Bartsch das Wort «vornehm» recht gerne in den Mund nahm, verglich ich sie heimlich mit einer der adligen Frauen, wie sie mir in den Romanen begegneten, die ich mir heimlich vom kleinen Büchertischchen der Mutter stibitzt hatte. Es ging in diesen Romanen auch gar üppig zu und her mit Liebschaften in Adelskreisen.
Frau Bartsch hatte etwas an sich, das mich an solche Kreise mahnte. Sie trug durch ihre Heirat mit einem Internierten aus sehr gutem Haus in Dresden einen deutschen Namen, hatte kurze Zeit in Deutschland gelebt und war nach dem Tode ihres jungen Mannes in ihre liebe Obwaldner Heimat zurückgekehrt. Als junge Witwe übernahm sie mitten im Dorf einen kleinen Merkur-Laden.
Und dieser Laden hatte es in sich. Das war nun nicht irgendein Kolonialwarenladen, sondern ein Geschäft, in dem man mit ausgesuchter Höflichkeit bedient wurde. Frau Bartsch redete ihre Kunden mit Sie und nicht mit Iär an, verabschiedete ein Ehepaar nicht mit Adie midänand, sondern Adie beidersyyts. Sie behandelte ihre Kunden nicht nur sehr zuvorkommend, sie war auch darauf bedacht, ihnen den feinsten Kaffee, die beste Schweizer Schokolade und die zartesten Biskuits zu verkaufen. Und wie sie verkaufte! Das war alles so liturgisch weihevoll, dass es mir vorkam wie Verrichtungen an einem Altar. Da Frau Bartsch beinahe jeden Tag ein anderes Kleid trug, war ihre Arbeit immer so sonntäglich. Mir schien, sie verstehe ihren Laden wie einen vornehmen Salon und die Kunden würden stets eine andere Redeweise annehmen, wenn sie in ihr Geschäft kamen. Sie war stets angezogen wie an einem Sonntag. Ich war darum erstaunt, wenn sie für ihren Kirchgang noch sonntäglicher aussah. Dann trugen sie und ihre zwei Schwestern, Theres und Hilda, helle, luftige Roben, mit wunderbaren Rüschen, Bändern und Maschen geschmückt. Sie sahen aus wie festlich verpackte Bonbonnieren. Man sah die drei Schwestern immer beieinander, wenn sie zur Kirche gingen.
Mit Vorliebe erfüllten sie ihre Sonntagspflicht in der Klosterkapelle von St. Andreas. Dort fanden sich gerne jene ein, die sich zur gehobenen Gesellschaft der Residenz zählten: die Leute vom Roten Haus, die Stockmanns, Imfelds und Gattinnen von Juristen und höheren Beamten. Sie sassen und knieten in ihrem Chremmli, in reservierten Betstühlen, die ihnen die Klosterfrauen vermietet hatten. Damit bekamen die vornehmen Sarner Damen und Herren das Gefühl, sie unterstützten mit ihrem Kirchgang auch noch das Kloster.
In der Residenz hatte eben jede Schicht ihr Gotteshaus. Die vom Unterdorf und von Bitzighofen, die kleineren Handwerker, besuchten mit wenigen Ausnahmen die Sonntagsmesse um zehn im Kapuzinerkloster. Die grosse und festliche Pfarrkirche auf einer schönen Anhöhe besuchte man nur dann, wenn es galt, gesehen zu werden, etwa an Festtagen, wenn der Gottesdienst mit einem feierlichen Hochamt, mit Chor und Orchester, gefeiert wurde und wo der Landammann mit dem Landweibel in vollem Ornat in den Ratsherrenstühlen anwesend war. Im Ratsherrengestühl versammelten sich alle Honoratioren in festlichem Schwarz, feierlich erhöht.
Da die jüngste Schwester von Frau Bartsch, die zierliche, etwas rundliche Hilda, über einen prächtigen Sopran verfügte und musikalisch geschult worden war, sang sie im Chor die Solopartien. Dies war der Grund, weshalb die Schwestern an solchen Festtagen den Gottesdienst in der Pfarrkirche besuchten. Mit sichtlichem Stolz setzten sich Frau Bartsch und Theres in eine Kirchenbank im vorderen Teil der Kirche, weil die Akustik auf diesem Platz besser sei. So könne die Wirkung des Gesangs besser wahrgenommen werden. Ein solch festlicher Sonntag wirkte im Geschäft der Frau Bartsch nach, waren doch die Darbietungen des Chores, besonders der Hilda, eine Woche lang das Hauptthema. Mit einer unwahrscheinlichen Fantasie verstand es Frau Bartsch, die Ladengespräche auf das sonntägliche Konzert in der Kirche zu lenken. Beim Verkauf einer Frigor-Schokolade verglich sie den Schmelz dieser Schokolade mit dem Schmelz eines fraulichen Soprans in der Kirche. «Ach ja», meinte dann die Kundin, «Ihre Schwester Hilda hat doch wunderbar gesungen.» Geschmeichelt und mit gekünstelter Überraschung erwiderte darauf Frau Bartsch: «Sie meinen das ‹Agnus Dei› vom letzten Sonntag in der Pfarrkirche? Gewiss, sie war bei sehr guter Stimme, und ihr Gesang fand viel Beifall. Ja, ja, unsere Hilda nimmt es sehr ernst mit ihrer Musik.» Die kleine Bemerkung ihrer Kundin gab ihr Gelegenheit, mit überlegener Distanz, aber mit genügend Hochschätzung von der Gesangskunst ihrer Schwester zu berichten.